1. Vortrag: Über die Exerzitien
Montag Vormittag, 29. August 1881
Meine Kinder, als ich vorhin den Leib und das Blut unseres Herrn auf dem Altar weihte, bat ich ihn mit der ganzen Glut meines Gebetes, er möge eure Seelen, eure Herzen, eure Willen, eure Körper, eure Sinne seiner Liebe weihen, damit ihr euch ihm ganz opfern könnt, das heißt, euch Gott opfern, wie unser Herr es machte, grenzenlos und rückhaltlos. Ich bat ihn also, so euer ganzes Sein seiner heiligen Liebe zu opfern, damit ihr sein Werk ausführen und in den Seelen inmitten der Welt fortführen könnt. Denn wir können nichts, wir sind nur durch ihn etwas wert. „Getrennt von mir“, hat unser Herr gesagt, „könnt ihr nichts vollbringen. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt.“ (Joh 15,4-5). Es muss der Rebzweig mit dem Weinstock verbunden sein, um Blüten und Früchte hervorzubringen.
Vergesst also nicht, meine Kinder, die große Aufgabe einer Oblatin, sich unserem Herrn anzugleichen, sich mit ihm zu vereinen, nicht mehr zwei zu sein, sondern eine einzige Person und ein einziges Leben mit ihm. Ihr versteht, dass es dazu einer großen Demut, einer sehr großen Loslösung von sich selbst bedarf. Man muss sehr getreu darauf achten, sich nicht zu schätzen, so wenig es auch sein mag, nichts zu sein, absolut nichts. Man muss es so machen, damit der Heiland alles ist. Und um dahin zu gelangen, nichts zu wollen und machen, als eins mit ihm zu sein, werden wir diese Exerzitien halten.
Meine Kinder, der Heiland sagt zu euch wie zu seinen Aposteln: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus.“ (Mt 6,31). Kommt mit, um das, was in der Vergangenheit schlecht war, gut zu machen, und das folgende Jahr vorzubereiten. Hört gut auf die innere Stimme, die während dieser Exerzitien am Grund eures Herzens zu euch sprechen wird. Es ist die Stimme unseres Herrn. Ihr besitzt den Heiland durch die Heilige Kommunion. Er ist nicht mehr im Himmel inmitten der Serafinen gegenwärtig, er ist nicht mehr im Tabernakel gegenwärtig, er ist es tatsächlich in der armen Bleibe eurer Seele. Betet ihn also so gegenwärtig in eurem Herzen an. Glücklicher als der heilige Johannes der Täufer, dessen Martyrium wir heute feiern, glücklicher als die Jünger besitzen wir ihn ständig. Die Jünger lebten mit ihm nur drei Jahre, und da lebte er nicht immer bei ihnen. Oft zog er sich ganz allein auf einen Berg zurück um zu beten. Er war nicht einmal ständig bei seinen zwölf Aposteln, da er sich aussandte, um zu predigen, während er immer bei uns bleibt. Wir sehen ihn nicht mit unseren körperlichen Augen, aber mit der Kraft unserer Seele. Wir fühlen ihn in unserem Herzen. Sagt ihm also: „O Herr, da sind wir! Wir kommen, weil du uns gerufen hast, wie du deine Jünger riefst, als du sie an einen verlassenen Ort führtest, um auszuruhen, weit ab vom Lärm der Welt, um mit dir allein zu sein, um dich zu betrachten, dir zuzuhören. Ach, wir sind müde! Wir fühlen Widerwillen, Dürre in unserer Seele und wir kommen, um sie bei die ausruhen zu lassen. O unser guter Meister! Antworte uns wie ehedem den beiden Jüngern, die dich fragten, wo du wohnst, und die einen ganzen Tag lang allein bei dir blieben: Venite et videte … kommt und seht! Kommt und seht, was ich in eurer Seele machen müsst, um sich nicht mehr von mit zu trennen und um meine Werke zu vollenden. Das werden wir machen, Herr, während dieser acht Tage der Exerzitien. Wir werden sehr darauf achten, um deine Gegenwart nicht zu verlieren. Wenn wir dann bei dir sind, werden wir auf dich hören. Unsere Betrachtung wird gesammelter sein, wir hören dich am Grund unserer Seele zu uns sprechen, wir werden Wort für Wort annehmen, was du uns sagen wirst. Wir werden auf die Worte hören, die an uns gerichtet sind, weil es deine Worte sein werden. Wir werden aufmerksam auf sie lauschen und du, Herr, wirst uns den Verstand schenken, um sie zu verstehen und deinen heiligen Willen zu erfüllen.“
Meine Kinder, ich möchte nicht, dass ihr die Gegenwart des lieben Gottes einen einzigen Augenblick lang verliert. Ja, ich würde es als ein Unglück betrachten, wenn ihr nur eine Viertelstunde von ihm getrennt wäret. Sprecht noch mit unserem Herrn während eures Schlummers, in dem ihr mit ihm übereinkommt, dass alle eure Atemzüge, alles Klopfen eures Herzens ebenso viele Akte der Liebe sein werden, damit ihr mit der Braut des Hoheliedes sagen könnt: Ich schlafe, aber mein Herz wacht.
Das ist die Grundlage unserer Exerzitien, der Stoff, auf dem wir arbeiten werden, auf dem wir von einem Augenblick zum anderen festhalten werden, was uns der liebe Gott zeigen wird. Wenn unser Geist abweicht, wenn unsere Gedanken nach rechts und links davonfliegen, führen wir ihn wieder dahin zurück. Die Exerzitien sind eine so kostbare Zeit! In diesen Tagen der Sammlung spricht der liebe Gott zu uns und die Exerzitien schenken uns nicht nur die Gnade für jetzt, sie schenken uns auch die Gnade für das ganze Jahr. So ist da ein Tag der Exerzitien, an dem wir trotz all unserem guten Willen für die Dinge des lieben Gottes nur Widerwillen empfinden und nicht beten können. Wohlan! An diesem Tag der Trockenheit bereitet der liebe Gott für uns Gnaden für das ganze Jahr vor. Da ist ein anderer Tag, an dem wir uns getröstet fühlen. Das ist gut, aber diese Gnade wird wahrscheinlich nicht von langer Dauer sein. Während der Tag der Trockenheit uns Gnaden vermitteln wird und reiche Früchte während des ganzen Jahresablaufes tragen wird. Wie unser seliger Vater [Franz von Sales] sagt, wird es ein Tag des lang anhaltenden Segens sein. Versteht so eure Exerzitien gut, meine Kinder.
Heute Vormittag gehe ich nicht auf andere Überlegungen ein. Ich habe genug gesagt, um euch die Wichtigkeit der Exerzitien verständlich zu machen. Das ist die Grundlage: die Gegenwart Gottes. Stellt euch vor, dass das Handwerk da ist, der Stoff ist gespannt und darauf werdet ihr arbeiten. Wenn ihr keinen Stoff hättet, um ein Bild zu gebrauchen, könntet ihr nichts machen. Ich gebe euch den Stoff, die Gegenwart Gottes, die Einheit mit ihm, das heißt, die Treue, ihn bei Tag und Nacht nicht zu verlassen, während der Arbeit, dem Gebet und der Erholung bei ihm zu bleiben.
Wird es ermüdend sein, so unter den Augen des lieben Gottes zu sein? O, nein! Man ruht sich bei ihm aus, wenn man ihn lieben will, wenn man ihm von seinem Elend erzählt, wenn man es ihm bringt. Schließlich, wenn man sagt: „Herr, ich komme zu dir, um mich nie mehr von dir zu trennen.“ Man ruht bei ihm aus, wenn man versteht, dass in ihm alles Gute, alles Glück ist. Die Beziehungen, die man mit Jesus hat, ermüden nie.
Wir werden also gut auf alles hören, was Gott uns am Herzensgrund sagen wird. Wir werden auch auf das hören, was uns in den Vorträgen gesagt werden wird. Wir werden es auf den Stoff übertragen. Es wird eine Arbeit mit Seiden von schönen Farben sein. Und es wird dauerhaft sein. Amen.