Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1879

      

6. Vortrag: Über die Frömmigkeit

Mittwoch Abend, 27. August 1879

Meine Kinder, ich habe über die Gelübde und das Direktorium gesprochen. Wir hatten ein Gespräch über das große Hindernis der Erfüllung der Gelübde, den Zustand der Lauheit, der Gleichgültigkeit. Heute Vormittag sagte ich euch einige Worte über die Aufgabe, die euch bezüglich der Kinder anvertraut ist. Heute Abend nun will ich über ein sehr wirksames Mittel sprechen, um die Gelübde vollkommen zu erfüllen, um das Direktorium vollkommen zu üben. Es ist ein Mittel oder ehe eine Hilfe, die wir brauchen und ohne die es uns schwer fällt, Gutes zu tun, eine gute Nonne zu sein. Dieses Mittel ist die Frömmigkeit.
Im Allgemeinen ist sie nicht so sehr eure Stärke. Wir sind nicht zu fromm. Früher verwendete man das Wort fromm ja eher abwertend, man nannte viele fromm, die es aber wegen ihrer vielen Fehler gar nicht waren. Mittlerweile ist die Frömmigkeit kaum mehr an der Tagesordnung. Ich verwende dieses Wort Frömmigkeit jedoch nicht im schlechten Sinn, sondern im guten, im wahren. Erforscht euch alle gut. Woran hängt euer Herz am häufigsten in der Erledigung eurer Aufgaben? Hängt es an den Dingen des lieben Gottes? Was liebt ihr? Was zieht euer Herz an? Lassen euch die Dinge der Frömmigkeit nicht oft sehr gleichgültig? Seid ihr fromm genug? Habt ihr innerlich eine Neigung zu dieser oder jener Frömmigkeit? Habt ihr eine Anziehung, ein Gefühl, das euch zum lieben Gott trägt? Prüft das gut. Seht, ob ihr die ganze Frömmigkeit habt, die Glut, die eine Nonne haben muss.
Meine Kinder, ich werde euch sagen, was ich denke. Ich finde, dass eine Nonne, die keine Frömmigkeit hat, keine gute Nonne ist. Ich habe vielleicht keine sehr richtigen Gedanken, aber ich bin so erzogen worden. Schwester Marie-Joseph (Gérard, Laienschwester im Heimsuchungskloster von Troyes) von der Heimsuchung sagte manchmal zu den Schwestern: „Seht, unsere Mütter haben dem Herrn Pfarrer gelehrt, die Messen so schnell zu lesen. Wenn er ein wenig langsamer wäre, wäre es gut. Aber was wollt ihr, unsere Mütter haben es gelehrt!“ Ich wurde von Sr. Marie-Joseph belehrt und ich wurde gut belehrt, denn es war die frömmste Schwester. Sie hatte eine entzückende Frömmigkeit. Würde man alles einsammeln, was sie an Ave Marias in der rue du Temple gesät hat, würde man wohl drei Rosenkränze auf jedem Pflasterstein finden. Zu dieser Zeit sah ich die Mutter Paul-Séraphine, die ihre Frömmigkeitsübungen mit Brachialgewalt ausübte. Sie wollte den lieben Gott so sehr lieben, sie wollte so viel Anziehung für den lieben Gott haben, dass sie unvergleichliche Anstrengungen machte, um dorthin zu gelangen. Sr. Marie-Joseph hatte wohl ein paar philosophische Gedanken. Sie wäre mehr philosophisch als fromm gewesen, meinte man, aber sie wusste, dass sie Nonne war, sie wollte fromm sein. Sie zehrte sich ab, als sie sah, dass sie nicht so fromm war, wie sie gewollt hätte. Sie sagte oft: „Welches Hindernis, welche Ohnmacht findet man in sich selbst, wenn man Gott lieben will und nicht kann.“
Das habe ich am Anfang meines Priestertums gesehen. Von den Nonnen verstehe ich nur die, die fromm sind. Unsere Mutter Paul-Séraphine macht unglaubliche Anstrengungen, äußerste Anstrengungen, um fromm zu werden. Am Osterfest trug sie ihre ganze Seele zu Füßen des Herrn. Sie betete ihn mit aller Liebe an, zu der sie fähig war. Es war eine Tätigkeit des Willens, die nicht ihresgleichen hatte. Die Gute Mutter Marie de Sales Chappuis war anders. Sie empfing vom lieben Gott den Frieden ihres Herzens, sie empfing die Fülle, das Licht.
Meine Kinder, welche unter euch ist so? Legen wir Hand an unser Gewissen. Versuchen wir, den Dingen des lieben Gottes zugetan zu sein? Welche Neigung haben wir? Welche Frömmigkeitsübung bevorzugen wird, um fromm zu werden? Es ist schwer, Nonne zu sein, ohne eine besondere Art der Frömmigkeit zu haben. Ihr wisst, dass es Statue und Statue, Puppe und Puppe gibt. Man macht Puppen, die schön sind, die gehen, die sprechen. Und andererseits arme kleine Mädchen, die eine Puppe aus Fetzen machen. Wohlan! Es gibt Nonnen und Nonnen. Es gibt Nonnen, die auf der Höhe ihrer Aufgaben sind, die ein Herz haben, um Gott zu lieben, um seinen heiligen Willen zu erfüllen. Und es gibt auch Nonnen aus Stroh. Man nahm ein Büschel Stroh und steckte es in ein Kleid. Von Weitem könnte man glauben, dass es ein Nonne ist. Aber wenn man genau schaut, sieht man, dass es ein Büschel Stroh ist. Was ich euch da sage, ist sehr konkret, es ist die Wahrheit.
Jetzt fragt ihr mich, was ich unter Frömmigkeit verstehe? Ich verstehe darunter jede geistliche Übung für unseren Herrn, der heiligen Jungfrau, den Engeln, den Heiligen. Man liebt dieses Gebet, dieses Stoßgebet, diesen Gedanken, man fühlt sich zur Liebe getragen, zur Anrufung unseres Herrn, der heiligen Jungfrau, seines Schutzengels. Man bleibt gerne in einem Gefühl des Wirkens der Gnaden. Man bleibt gerne beim Heiland. Man wird angezogen, dies oder jenes für den lieben Gott zu machen. Das ist die Frömmigkeit. Es gibt welche, die fühlen sich von der Abtötung angezogen, die gerne auf etwas verzichten, die lieben, was nach Armut riecht. O, welch schöne Frömmigkeit ist das. Es ist die Frömmigkeit großer Heiliger.
Schauen wir, meine Kinder, von welcher Art Frömmigkeit unser Herz angezogen wird. Jede natürlich nach ihrem Geschmack. Die einen lieben eine Blume, die anderen ziehen eine andere vor. Diesen gefällt diese Farbe mehr, jene eine andere. Das sind verschiedene Gefühle. Ebenso ist es mit unserer Seele. Wir haben unsere geistlichen Vorlieben. Unser Herz hat seine Neigungen, seine Geschmäcker sind verschieden. Auch wenn man ganz dem lieben Gott gehört, gibt es diese Unterschiede. Aber wir müssen alle einen Hang haben, der uns zu Gott hinlenkt, der uns zu ihm führt, der uns ihn lieben lässt.
Heute Abend spreche ich ein wenig durcheinander. Ich schaffe keine Ordnung, ich lege keine logische Folge in das, was ich euch sage. Ich mache lieber euren Seelen verständlich, was Frömmigkeit ist. Welche Frömmigkeitsübung werde ich euch empfehlen? Keine. Ich empfehle euch keine und ich empfehle sie euch alle. Ich empfehle euch, welche der liebe Gott euch am meisten lieben lässt. Ist es die Frömmigkeit der Herz-Jesu-Verehrung? Sie ist erlesen. Es tut gut, beim Herzen unseres göttlichen Heilands zu sein, es tut gut, sich ihm anzuvertrauen, nur in ihm zu leben, nur für ihn zu atmen. Das ist eine unendlich kostbare, unendlich nützliche Frömmigkeitsübung. Fühlt ihr euch zur Frömmigkeit der Verehrung des Allerheiligsten Altarssakramentes hingezogen? Unser Herr ist da ebenso anwesend wie in Nazaret. Er ist da mit uns, er ist unser Gott, unser Immanuel. Er ist da, er versteht uns, er hört uns zu, er nimmt unsere Huldigungen entgegen. O, wenn wir gut verstehen würden, dass er im Tabernakel wirklich da ist, wenn wir gut fromm wären, wie müssten wir uns mit ihm vereinen, wie würden wir ihm unser Herz, unsere Seele schenken, wie würden wir ihn lieben, wie würden wir ihm sagen: „O Herr Jesus, ich will, dass nichts in mir ist, außer was dir gefällt!“ Wie glücklich, meine Kinder, ist die Seele, die das versteht.
Als ich bei den Kartäusern war, sagte mir der hochwürdige Pater Retournat: „Die, welche eine besondere Liebe zum Allerheiligsten Altarssakrament haben, sind auf ganz besondere Weise mit dem Siegel der Gottesliebe gekennzeichnet. Ich kannte,“ sagte er immer wieder, „einen junger Priester aus Nancy. Er liebte unseren Herrn im Allerheiligsten Sakrament so sehr, dass er jedes Mal, wenn er an einer Kirche vorbeikam, ein außergewöhnliches Gefühl der Gegenwart unseres Herrn in der Heiligen Eucharistie hatte. Und wenn er die Kirche nicht sah, erriet er, dass sie da war. Er fühlte die göttliche Gegenwart ohne jeden Zweifel. Was der liebe Gott ihm schenkte, ließ ihn verstehen, was Himmel bedeutet. Fünf Minuten vor dem Allerheiligsten brachte ihm mehr Glück, als man sich vorstellen kann. Es war für ihn etwas Himmlisches. Das ist nur mit dem vergleichbar, was Gott den Heiligen im Himmel gibt.“
Bittet den Heiland, meine Kinder, er möge euch etwas von dem fühlen lassen, was dieser junge Priester empfand. Es ist so gut, unseren Herrn zu lieben. Gehen wir also zu ihm mit aller Glut unserer Seele. Gehen wir auch gerne zur heiligsten Jungfrau. Haben wir Ehrfurcht vor ihr? Spricht sie zu unserem Herzen, sind wir glücklich, wenn wir uns bei ihr aufhalten, fühlen wir sie als unsere Mutter? O, gießen wir gerne in ihre Seele, in ihr Herz unsere Gedanken, unsere Zuneigungen, nichts ohne sie machen zu können, zum Geruch ihrer Düfte zu eilen, sagen wir ihr oft: „O, meine Mutter, wie viel Liebreiz hast du! Lass mich zu dir kommen, lass mich dir alles sagen, was ich empfinde. Du bist ganz schön, o meine Mutter! Gestatte mir, dich zu betrachten, dich zu lieben, und mache, dass ich mich weder von dir noch von deinem göttlichen Sohn trenne!“ Dann hilft uns die heilige Jungfrau, und diese so süße Frömmigkeit tut uns sehr gut. Man betet gerne den Rosenkranz, ein Ave Maria sagt uns etwas. Man denkt gerne an die heilige Jungfrau, man macht gerne eine kleine Übung zu ihren Ehren. Man bezeugt ihr gerne seine Zuneigung durch Worte der Liebe und der Verehrung.
Das, meine Kinder, ist die Frömmigkeit. Seien wir frömmer als wir es sind. Doch ich sage euch nicht, ihr sollt eine übertriebene Frömmigkeit haben. Bitten wir unseren Herrn um die wahre Frömmigkeit. Bitten wir besonders den heiligen Franz von Sales um diese Frömmigkeit, die er sich um den Preis seines ganzen Willens, seiner ganzen Energie erworben hat. Bitten wir ihn, den Anteil gut zu finden, den der liebe Gott uns zuteilte.
Seht, wie fromm der heilige Franz von Sales war, wie er die Düfte, die Süßigkeiten, die Wonnen der himmlischen Dinge auskostete. „Was machen wir auf der Erde?“, rief er vor seinem Tod. „Ich rieche die Düfte des Himmels, ich rieche die göttlichen Gerüche!“ Was waren das für göttlichen Gerüche, wenn nicht der Duft der Frömmigkeit, die ihm Gott so sehr lieben und das Glück, ihm zu gehören, so sehr schätzen ließ! Amen.