Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1879

      

2. Vortrag: Die Gewissenserforschung über die Gelübde

Montag Abend, 25. August 1879

Meine Kinder, für die Exerzitien, für die Zeiten der Einsamkeiten rät die heilige Johanna Franziska von Chantal den ersten Tag mit Ausruhen zu verbringen, ohne Gewissenserforschung, ohne die Vergangenheit zu erforschen, um seine Seele zu befrieden, sie zu beruhigen, sie ganz nahe zu unserem Herrn zurückzuführen. Die heilige Johanna Franziska von Chantal will also, dass wir damit beginnen, uns dem Heiland zu nähern, dass wir die Entfernung überbrücken, die uns von ihm trennt, um unser Elend, unsere Schwächen, unsere dunklen Stunden zu ihm zu tragen, um unsere so sehnsüchtige, so laue Seele zu erwärmen. Sie rät uns, uns sanft, einfach und fromm zu sammeln, damit wir unsere Exerzitien in tiefem Frieden verbringen und nicht in der Hektik und der Wirrnis. Das müsst ihr schon gemacht haben, meine Kinder.
Nachdem ihr eure Seele so bei unserem Herrn beruhigt habt, werdet ihr daran denken müssen, eure Beichte durch eine gute und ernsthafte Gewissenserforschung vorzubereiten. Wie sollt ihr daran gehen, um sie gut zu machen? Ich werde euch ein gutes Mittel angeben.
Stellt euch vor – und das ist wohl im Geist der Ordensregel und ihrer Beobachtung – dass ihr auf eurem Totenbett liegt. Dorthin muss man sich begeben, um sich besser zu beurteilen. Und dass ihr eure Gewissenserforschung zu machen habt, um vor Gott zu erscheinen. Der Tod ist kein Schmeichler, er sagt nicht, dass wir es gut gemacht haben, wenn wir es schlecht gemacht haben. Sein Urteil ist immer streng, gut und heilsam.
Meine Kinder, wenn jede von euch in den letzten Zügen wäre und wüsste, dass sie in einer Viertelstunde dem lieben Gott Rechenschaft geben müsste über die Fehler, die sie von ihrer Erstkommunion bis zu ihrer Einkleidung, von ihrer Einkleidung bis zu ihrer Profess und von ihrer Profess bis zu diesem Tag gemacht hat, welche Gefühle, welche Ängste hätte sie dann? Wie beträchtlich schienen ihr ihr Schulden bei der göttlichen Gerechtigkeit! Wenn es sich nur um die ersten Jahre eures Lebens bis zu eurer Einkleidung handelte, würde ich sagen, dass es nicht sehr groß ist. Und dennoch kann es vorkommen, dass eure Seele sehr schuldig ist, dass sie viel zu beweinen, zu bedauern, sich zu demütigen hat! Doch wir können mit dem Erbarmen Gottes rechen, das sich auf alle Sünder erstreckt. Schon in dem Augenblick, wenn wir unser laues Leben in Ordnung bringen wollen, wenn wir es bedauern, ist es sicher, dass wir mit diesem göttlichen Erbarmen rechnen können. Es ist nur eine Sünder unverzeihlich, das ist die Sünde gegen den Heiligen Geist, das ist die Verzweiflung. Nicht, weil Judas unseren Herrn verraten hat, weil er ihn verkauft und seinen Feinden ausgeliefert hat, hat ihm der liebe Gott nicht verziehen. Aber er hat an seinem Meister gezweifelt, er hat an seiner übergroßen Liebe gezweifelt, er hat seinem Herzen eine Wunde zugefügt, die nie heilen wird; also hat ihn Gott verlassen und verurteilt.
Das Erbarmen des lieben Gottes ist unendlich! Es dürfen euch also die Fehler eures vergangenen Lebens nicht ängstigen. Sondern die, die ihr seid eurer Profess gemacht habt. Das ist ängstigend für den Rechenschaftsbericht, den ihr dem lieben Gott werdet geben müssen. Wollt ihr den Beweis dafür haben? Lest die Biografie der heiligen Ordensleute und seht, ob es unter ihnen einen einzigen gibt, der im Augenblick des Todes wegen seiner in der Welt begangenen Sünden beunruhigt war. Ihr findet keinen. Das ist verständlich, da die gut gemachte Ordensprofess nach den heiligen Kirchenlehrern die Vergebung der zeitlichen durch die Sünde verdienten Strafen erhält. Es ist also damals eine völlige Erneuerung geschehen. Die Fehler, die man dann begehen kann, verzeiht unser Herr, wenn man sie bekennt und bedauert, wenn man Bitternis empfindet, sie begangen zu haben. Aber man kann sie noch abbüßen müssen. Man kann dem lieben Gott dafür anbieten, was man zu leiden hat. Aber wenn seine Gerechtigkeit nichts mehr verlangte, verlangt das Herz des lieben Gottes noch, und durch die Fehler unseres Ordenslebens haben wir sein Herz verletzt, seine Liebe verkannt! … Deshalb müssen sie uns so viel Angst einflößen.
Seht die alten Einsiedler der Makariosklöster in der sketischen Wüste (Ägypten), die Wüstenväter in der Thebäis. Seht sie auf ihrem Totenbett: sie haben Angst vor dem Richterspruch Gottes, wenn sie über die Pflichten des Ordenslebens, über die Verpflichtungen nachforschen, denen sie glauben, nicht ganz nachgekommen zu sein. Sie haben Angst wegen ihres Ungehorsams, ihrer Lauheit. Sie haben Angst wegen ihrer Verfehlungen gegen die Nächstenliebe, wegen ihrer Eigenliebe. Sie haben Angst wegen ihrer zu gefühlvollen Anhänglichkeit an diese oder jene Person, diese oder jene Sache. Das verursacht ihre Angst in ihren letzten Augenblicken.
Was ich euch da sage, meine Kinder, ist sehr wahr. Es ist die Geschichte von vielen Wüstenvätern. Wenn der liebe Gott bei eurer Profess alles vergessen, alles vergeben hat, ist es sehr gerecht, dass ihr ihm nichts mehr verweigert, dass ihr ihm alles gebt. Und jedes Mal, wenn ihr gegen eure Gelübde der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams gefehlt habt, jedes Mal, wenn es euch an der Liebe fehlte, ist es sicher, dass ihr euch sehr schuldig gemacht habt. Versteht das, meine Kinder. Wir haben nicht immer sehr richtige Gedanken, und wir geben uns nicht genügend Rechenschaft, dass wir, wenn wir den lieben Gott nicht genug lieben, um ihm täglich Opfer zu bringen, haben wir Grund zur Angst, weil wir seiner Liebe nicht entsprechen.
Wir müssen in einem Zustand der Liebe leben, das ist das Gesetz der Liebe, das uns führen soll. Und wenn wir gegen dieses Gesetz verstoßen, sind wir sehr schuldig. Versteht also die Schwere der Fehler gegen das Ordensleben, gegen die Gelübde, gegen den Geist der Ordensregel, gegen die Verpflichtungen, die die Grundlage des Ordenslebens sind. Wie sehr hat jede von euch nicht zu fürchten, dass sie sich nicht von ihrer Eigenliebe, ihren Anhänglichkeiten an sich selbst befreite! Wie viele Nonnen müssen sich fürchten wegen des wenigen Zwanges, den sie sich auferlegten, um den Gehorsam zu üben, und auf ihrer Handlungs- und Sichtweise verharrten! Man versteht, dass sie, wie sie ihren Geist und ihren Willen nähren, ihr Herz und ihr ganzes Sein nicht in der Ordensregel begründen, wir gesagt wird.
O, sie sind schwer, meine Kinder, die Verpflichtungen des Ordenslebens! Es gibt auf dieser Seite unendlich viel zu tun. Ihr habt Gelübde abgelegt, das ist etwas sehr Ernstes. Diese Gelübde sind für euch Verpflichtungen wie die Gebote Gottes, sie verpflichten euch sogar irgendwie noch strenger und intensiver. Die Ehre hat ihre Grade, auch die Sünde hat ihre. Merkt es wohl. Wenn ihr Gott die Vollkommenheit der Liebe gelobt habt, wenn ihr gesagt habt: „Ich werde über meinen Nächsten nichts Schlechtes mehr sagen“, und wenn ihr trotzdem nicht die Liebe habt, die ihr gelobtet; wenn ihr euch gehen ließet, von euren Schwestern ungünstig zu sprechen, ihre Sicht- und Handlungsweise negativ auszulegen, sündigt ihr gegen euer Versprechen.
Wenn ihr jetzt trotz des Willens alles gut zu machen, euch immer recht gebt, wenn was man euch sagt zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgeht, wenn ihr eure Urteilskraft nicht unterwerft, seid ihr dann gehorsam? Sicher nicht. Wenn ihr euren ganzen Fleiß dafür verwendet, euch dem zu entziehen, das euch befohlen wird, wenn ihr es auf eure Art regelt, wenn ihr es auslegt, wie ihr wollt, erfüllt ihr dann eure Gelübde? Nein, ihr erfüllt sie nicht. Und dennoch habt ihr euren Willen dem lieben Gott geschenkt, ihr habt ihn ihm gelobt, als ihr frei ward, es nicht zu tun.
Sprechen wir jetzt über das Gelübde der Armut. Ihr habt Gott die Armut gelobt, ihr seid verpflichtet, sie zu halten, wie ihr verpflichtet seid, den lieben Gott nicht zu beleidigen, in dem ihr gegen sein Gesetz handelt. Ihr seid auch verpflichtet, die Armut zu üben, wie ihr es seid, nicht zu fluchen und den heiligen Sonntag zu halten. Und man soll die Armut nicht nur üben, man muss sie lieben, man muss in der Art sie zu beachten zart Acht haben. Wie oft habt ihr daran gedacht? Wenn ihr einen Wechsel zu bezahlen habt, würde man bei Gericht zulassen, dass ihr sagt: „Mein Geld ist nicht bereit, ich habe nicht daran gedacht?“ Das wäre eine Beleidigung für eure Gläubiger. Meine Worte übertreiben nichts.
Meine Kinder, liebe ihr sie, die Armut? Sucht ihr nicht das Mittel euch ihr zu entziehen? Ist das, was in euren Gewändern, in der Nahrung, in der Entbehrung der Dinge fehlt, eure Wonne? Findet ihr darin einen ganz besonderen Reiz? Sucht ihr die Armut? Schließlich liebt ihr sie. Ihr werdet mir sagen: „Aber, mein Vater, wir haben nichts, wir besitzen nichts.“ Das ist wahr, aber habt ihr die Armut des Geistes, die Armut des Herzens, die Armut des Willens, besitzt ihr diese? Es gibt einiges zu überlegen. Diese Armut ist wie die Rinde des Baumes. Sie beschützt das Ordensleben. Sie ist seine Verteidigung. Sehr, meine Kinder, wie unser seliger Vater [Franz von Sales] die Armut übte, wie er sie liebte! Er achtetet immer darauf, etwas zu entbehren. Und die heilige Johanna Franziska von Chantal! Die glücklichsten Monate ihres Lebens waren die, welche sie in Paris in höchster Not verbrachte. Das ist für den Gehorsam und die Armut.
Prüfen wir uns jetzt über die Keuschheit, die nicht nur darin besteht, die körperliche Reinheit zu wahren, sondern auch darin, nicht uns selbst zu lieben, nicht unser Wohlgefallen in unserem Geist, in unserem Verhalten, in unserer Person, in der Befriedigung unserer Abneigungen zu suchen. Die Keuschheit ist die Harmonie der Zuneigungen unseres Herzens. Die keusche Seele ist die, welche sich nicht  an die Geschöpfe hängt, weil sie Gott grenzenlos liebt.
Wahren wir gut die Keuschheit in unserem ganzen Sein? Gibt es in unserer Handlungsweise nicht etwas zu verbessern? Wenn man seine Augen schweifen und seine Zunge gehen lässt, setzt man sich da nicht der Gefahr aus gegen die Keuschheit zu fehlen? Die Verpflichtungen, die ihr übernommen habt, sind nicht nur Versprechungen, das sind Gelübde. Man muss sie erfüllen. Seht Jiftach (Ri 11,29-40). Er machte ohne Zweifel ein kühnes Gelübde. Er hatte dem Herrn versprochen, ihm die erste Person zu opfern, die aus seiner Wohnung kommen würde, wenn er siegreich wäre. Und da kommt ihm seine eigene Tochter entgegen! Er glaubt, er wäre verpflichtet, sein Versprechen einzulösen. Das war ein unvorsichtiges Gelübde. Er hatte Unrecht, es zu machen, und vor allem es zu erfüllen. Aber er fühlte sich dazu verpflichtet. Das beweist, wie hoch er die Verpflichtung des Gelübdes einschätzte.
Ich bin nicht erstaunt, dass sich ein heiliger Ordensmann auf seinem Totenbett ängstigt und Gott um Frieden und Erbarmen bittet in Folge der Verpflichtungen, die er nicht verstanden und vernachlässigt hat.
Meine Kinder, macht darüber eure Gewissenserforschung. Ich geben euch nur vier Punkte zu erforschen: der Gehorsam, die Armut, die Keuschheit und die Nächstenliebe. Denn die Nächstenliebe ist auch ein wesentlicher Punkt. Ich werde euch nicht mehr darüber sagen. Im vergangenen Jahr behandelten alle meine Vorträge die Nächstenliebe. Ich habe kaum andere gehalten. Das sind eure vier großen Verpflichtungen als Nonnen. Bittet unseren Herrn, er möge euch erleuchten und sie euch verstehen lassen. Ich will eure Aufmerksamkeit nicht ermüden. Ich hätte wohl noch eine andere Erforschung für euch zu einem Thema, das euch weniger verpflichtet als die Gelübde, das euch aber als Gott geschenkte Oblatinnen verpflichtet, ich will über das Direktorium sprechen. Das wird das Thema von morgen Vormittag sein.
Begebt euch also, meine Kinder, heute Abend vor das Angesicht des Todes und des Einzelgerichtes. Welche von euch könnte, wenn sie vor dem Richter erscheint, ihm mit vollem Bewusstsein sagen: „Herr, geh nichts ins Gericht mit deiner Dienerin, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen. Meine Gelübde habe ich gut erfüllt, ich fühle mich makellos, ich habe ein Recht auf dein Erbarmen.“? Ist da eine einzige, die wagen würde, so zu sprechen? Ich wiederhole es. Unter 100 Nonnen gibt es vielleicht keine einzige, die sagen kann: „Ich habe mir diesbezüglich nichts vorzuwerfen.“
Ein Mönch von Clairvaux hatte sich gewünscht, dass ihm der heilige Bernhard in seiner Todesstunde beisteht. Und er hatte ihm gesagt: „Guter Vater, wenn ich sterben werde, macht, dass ich das Glück habe, Sie bei mir zu haben, um mich zu beruhigen und mir den barmherzigen Jesus zu zeigen.“ Dieser Mönch wurde nach dem Tod des heiligen Bernhard sehr krank. Sein Oberer von damals hörte ihn mehrmals „Bernhard, Bernhard!“ rufen und fragte ihn, wer dieser Bernhard sei, den er so oft rief. „Das ist unser seliger Vater“, antwortete er, „ich bitte ihn, mich in diesen letzten Augenblicken meines Lebens zu beruhigen, und ich flehe Sie an, mein Vater, mir zu helfen, in dem Sie mir den Gehorsam geben ihm zu sagen, er möge kommen und mir beistehen.“ Also gab ihm der Obere den Gehorsam, den heiligen Bernhard zu bitten, ihm zu Hilfe zu kommen. Sogleich erschien der Selige dem Sterbenden und sagte zu ihm: „Mein Bruder, was hast du zu fürchten? Erschrecken dich deine Sündern der Welt?“ „Nein, ich stürze mich deswegen in das sanfte Erbarmen des lieben Gottes.“ „Du warst sehr ordenstreu, warum fürchtest du dich so sehr?“ „Es erschrecken mich die Fehler gegen die Gelübde, denn ich habe sie nicht gut erfüllt!“ „Du hast Recht, mein Sohn, diesbezüglich zu zittern“, antwortete ihm der heilige Bernhard, denn diese Fehler wiegt der liebe Gott nicht mit dem Gewicht der Gerechtigkeit, sondern mit dem Gewicht seines Herzens. Mache einen Akt der Liebe nach der Größe deiner Verfehlungen.“ „Aber, mein Vater, ich habe nicht genug Liebe. O, ich bitte dich, gib mir deine!“
Seht, meine Kinder, der gute und getreue Ordensmann hat Angst. Er fürchtet, er braucht eine größere Liebe als seine, er braucht eine reinere Seele als seine, um das Erbarmen zu erflehen, weil er findet, dass er seine Ordensgelübde nicht vollkommen genug ausführte.
Unser Herr wird kommen, um euch zu segnen. Sagt ihm: „Herr, mach, dass ich sehe. Und wenn ich werde gesehen haben, wirst du mir den festen Willen geben wollen, du wirst mir geben, dass ich dir besser diene, dich besser liebe!“ Amen.