3. Vortrag: Die Gewissenserforschung über die Gabe der Berufung und über das Direktorium
Dienstag Vormittag, 26. August 1879
Meine Kinder, es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass wir den lieben Gott nur durch schwere Fehler beleidigen, denen wir zugestimmt haben, durch einen schweren Verstoß gegen die Nächstenliebe, durch einen schweren Ungehorsam, eine große Lüge, durch einen Fehler, der durch die Gebote Gottes vorhergesehen und verboten ist. Das ist ein Irrtum, ich wiederhole es. Das Ordensleben ist kein Leben wie alle anderen. Es hat viel weiter greifende Verpflichtungen. Ich sprach gestern über die Fehler gegen die Gelübde. Ihr habt mich vielleicht ein wenig streng empfunden. Nein, das bin ich nicht. Ich spreche nur das nach, was unser Herr mir im Grunde des Herzens sagt. Meine Lehre ist nicht meine Lehre, sondern die Lehre dessen, der mich zu euch schickt. Wenn wir gegen die Gelübde sündigen, die wir abgelegt haben, beleidigen wir den lieben Gott. Wir beleidigen ihn auch, wenn wir die Gnaden nicht nützen, die uns geschenkt werden, wenn wir die Talente nicht verwenden, die in unsere Hände gelegt wurden.
Erinnert euch an das Gleichnis des untreuen Dieners, dem sein Herr ein Talent anvertraut hatte mit den Worten: „Lass es arbeiten, bis ich zurückkomme.“ (vgl. Mt 25,14-30). Bei seiner Rückkehr ruft er ihn und sagt: „Ich habe deinem Gefährten zehn Talente gegeben. Er ließ sie arbeiten und er hat zehn weitere gebracht. Derjenige, dem ich fünf gab, hat mir fünf weitere zurückgegeben. Und was hast du mit dem Talent gemacht, das ich dir gegeben hatte?“ Der untreue Diener antwortete: „Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder.“ Hört das Wort des Herrn: „Du bist ein schlechter und fauler Diener!“ Er war dennoch kein böser Mensch, er war auch kein Dieb. Er gab zurück, was ihm gegeben worden war. Aber der Herr sagte ihm: „Du hast doch gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe. Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten.“
Seht meine Kinder, wie streng unser Herr ist! Das ist die Geschichte des Ordensmannes, der Nonne, die das anvertraute Talent nicht Frucht tragen lässt. Die zehn Talente sind die Gebote Gottes. Die fünf Talente sind die Gebote der Kirche. Und das einzelne ist das des Ordenslebens.
Wie viele gleichgültige und faule Seelen sagen: „Ich habe Angst vor dem Ordensleben. In der Welt würde ich vielleicht mein Heil machen, ich würde wenigstens etwas machen können, aber das Talent des Ordenslebens würde ich nicht Gewinn bringen lassen können. Ich vergrabe es in der Erde, und wenn ich dem Herrn werde Rechenschaft geben müssen, werde ich sagen: Herr, ich hatte Angst, das Talent zu verwenden, das du mir anvertraut hast, ich habe es liebe beiseite gelassen.“
Meine Kinder, ihr seid Nonnen nicht nur, um nicht zu sündigen, sondern auch um zu verwenden, was euch der liebe Gott gibt. Sehr, unser Herr nennt diesen Mann einen schlechten und faulen Diener. Er tadelt ihn sehr. Und bemerkt, was folgt. Der Herr ruft die Anwesenden und sagt zu ihnen: „Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat!“ Also wird dem, der Frucht bringen ließ, was er erhalten hat, noch gegeben werden. Und dem, der sein Talent nicht Nutzen bringen ließ, wird genommen werden, was er hat, so dass ihm überhaupt nichts mehr bliebe. Meine Kinder, ebenso wird der liebe Gott zu seinen Engeln sagen: „Nehmt dieses Talent des Ordenslebens dieser Seele, die sich nicht die Mühe machte, es Frucht tragen zu lassen, und gebt es einer anderen.“ Was ich euch da sage, suche ich nicht irgendwo, ich entnehme es aus dem heiligen Evangelium. Es ist das Wort unseres guten Herrn, er sagt und diese Dinge. Er ist sehr ernst, denn schließlich können wir diesen strengen Wahrheiten nicht entkommen.
Im Augenblick des Todes wird sich unser Urteil nicht nur auf die Fehler beziehen, die wir gemacht haben werden, sondern auch auf das Gute, das wir nicht Gemacht haben werde, auf das Talent, das uns unser Herr anvertraute, und das wir nicht verwendet haben. Dieses Talent, das er euch gegeben hat, ist die Gabe seines Herzens, er hat es euch gegeben als eine Gabe der Gnade, als eine Gabe der Liebe. Er hat es euch gegeben, weil er euch vielen anderen vorzieht.
Die heilige Angela von Foligno (1248-1309) fragte eines Tages unseres Herrn, wie er sie liebe. Unser Herr antwortete ihr: „Ich liebe dich mehr als alle Mädchen des Tales von Spoleto.“ Der liebe Gott hat euch sicher mehr geliebt als unendlich viele andere. Dieses Talent, das er euch gab, ist – ich wiederhole es - eine Gabe seines Herzens, eine Gabe seiner bevorzugten Liebe, eine Gabe, die er nur wenigen Bevorzugten gewährt. Und ihr lasst ihn beiseite, ihr fehlt gegen Gott! Ihr beleidigt so seine Liebe.
Meine Kinder, was ist das für ein Talent für euch Oblatinnen? Was ist das für eine besondere Gabe, die aus eurem Ordensleben ein heiliges und Gott angenehmes Leben mache wird? Wo ist sie? Ist sie aus Gold? Ist sie aus Silber? Wohlan! Ja, sie ist aus Gold und dieses Gold ist euer Direktorium. Es ist eine gnadenhafte Gabe, sie ist das, was euch unser Herr in euren Hochzeitskorb legte. Und er schenkt sie nur euch! Aber wenn ihr sie ganz unten in eurer Tasche lasst, was werdet ihr dem Herrn antworten können, wenn er kommen und euch fragen wird, was ihr daraus gemacht habt? Ihr werdet ihm sagen: „Ich hatte Angst. Ich ließ diese Gabe liebe am Grund meiner Tasche. Ich weiß, dass du zu ernten verlangst, was du nicht sätest. Ich habe es versucht, ich kam damit nicht zurecht, ich fürchtete, keinen Erfolg zu haben, ich habe mich nicht damit beschäftigt.“ Dann wird der Herr euch sagen: „Schlechte Dienerin! Warum ließest du dein Talent ungenützt? Warum hast du es nicht in die Bank gelegt?“ Da ihr nicht den Mut hattet, es Früchte tragen zu lassen, müsstet ihr sagen: „Wenn ich es nicht selbst kann, kann ich es mit anderen. Ich habe Katechismusunterricht zu halten, ich habe Kinder zu unterrichten, ich habe eine Arbeit zu machen, ich muss eine Aufsicht halten. Das ist die Bank, in die ich das Talent geben werde, das mir Gott anvertraut hat.“ „Warum hast du dieses Talent mit allem die möglichen guten Willen nicht Früchte tragen lassen? Du hast es vernachlässigt und beiseite gelegt, du verdienst, verdammt zu werden!“
Meine Kinder, ihr fühlt, dass ihr nicht den Verstand eures Direktoriums habt, dass ich ungeschickt seid, euer Talent der Gottesliebe Früchte tragen zu lassen. Nun, legt es in die Bank. Lasst es andere verwerten, wenn ihr es nicht selbst könnt. Und wenn dann der Herr kommen wird, wird er sagen: „Es ist eine gute und treue Dienerin. Ich finde in ihren Händen das Talent, das ich ihr anvertraut habe, vermehrt durch seine Zinsen.“
Das ist die Lehre unseres Herrn. Er selbst erklärt sie euch. Ich bin nur da, um seine Gedanken, seinen Willen für euch zu dolmetschen. Daher kommt die große Verpflichtung für euch, eurem Direktorium treu zu sein. Ihr könnt es nicht aus euch selbst heraus machen? Also sagt unserem Herrn: „Ich will meinen ganzen guten Willen einsetze, das Direktorium zu erfüllen, aber ich fürchte sehr, dass es mit nicht ganz gelingt. Um also dafür aufzukommen, verspreche ich dir, meine Arbeit mit noch mehr Herz zu machen. Und wenn ich dir, o mein Gott, die Groschen meiner inneren Arbeit nicht bringen kann, werde ich dir zeigen, dass ich deine Gabe in meiner Beschäftigung verwendet habe. Und an dem Tag, an dem du mich rufen wirst, werde ich dir die Zinsen des Talentes, das du mit anvertraut hast, das ich durch die anderen Früchte tragen ließ, bringen können.“
Wir müssen uns also, meine Kinder, unser Direktorium, unsere äußerlichen Werke, unsere Beschäftigungen, das vom Gehorsam uns Anvertraute erforschen. Wir werden uns zur Reue gut anregen, um die Kraft, es besser zu machen, aus dem Erbarmen des lieben Gottes und aus der Gnade der Erleuchtung, die er uns gewähren wird, zu schöpfen. Wir sehen in der Biografie der heiligen Ordensleute, dass ihre Heiligkeit, ihre Vollkommenheit ebenso sehr in dem erschien, das ich das Nichts ihrer Verpflichtungen nennen würde, wie in der Übung der größten Tugenden. Die heilige Teresa von Ávila sagte, dass ihr der liebe Gott manchmal, wenn sie ein wenig Staub im Kreuzgang entfernte, dafür mehr gab, als er ihr für eine lange Betrachtung gab. Wenn sie die Mäntel der Schwestern zusammenlegte oder einen Dienst der Nächstenliebe leistete, wurde sie dafür durch eine große Gabe der Einheit mit Gott belohnt. Sie sagte, dass sie vor allem in diesen kleinen Dingen den lieben Gott in unvergleichlicher Weise fand. Machen wir es so mit den geringsten Dingen unserer Beschäftigung, üben wir unser Direktorium mit großer Treue. Und wie die heilige Teresa werden wir viel erhalten.
Meine Kinder, das ist das Thema unserer Gewissenserforschung. Vergegenwärtigen wir uns unsere Gelübde, unser Direktorium, unsere Beschäftigungen. Führen wir uns unserer Verpflichtungen für die Verwaltung, die Küche, die Schulklasse, die Kleidung vor Augen und sagen wir uns, dass wir da ein sehr wertvolles Talent zu verwerten haben. Seien wir entschlossen dazu. Sagen wir dem lieben Gott: „Ich kann nichts, aber mit deiner Gnade, Herr, werde ich von nun an machen, wie du willst. O, wie ist es gut, sich nicht von dir zu trennen! Herr, bleibe bei mir, denn ohne dich würde ich nicht sehen, hätte ich nicht das Licht, würde ich an die Schwierigkeiten des Weges stoßen! O, bleibe bei mir, Herr Jesus! Bleibe bei mir während meiner Gewissenserforschung, während meiner Beichte, während dieses Exerzitien, dann werde ich sie gut machen und ich werde darin die Gnade und den Mut finden, dir das ganze Jahr treu zu dienen!“
Als Johannes und Andreas dem Heiland zum ersten Mal begegneten, sagten sie zu ihm: „Herr, wo wohnst du?“ Unser Herr antwortete ihnen: „Kommt und seht!“ Und er zeigte ihnen, wo er wohnte, und sie blieben den ganzen Tag bei ihm. (Vgl. Joh 1,35-39). Welch himmlischer Tag für die beiden Apostel! Macht es wie sie, meine Kinder: „Herr, sag uns, wo du bist, damit wir die Tage dieser Exerzitien mit dir verbringen! Zeig uns deine Bleibe! Wir werden dich besuchen, weil wir die folgen, dich lieben wollen!“ Amen.