3. Vortrag: Über die Betrachtung (Fortsetzung)
Dienstag Vormittag, 3. September 1878
Meine Kinder, ich habe schon gestern zu euch über die Betrachtung gesprochen, über die Art, wie sie zu machen ist. Ich setzte heute Vormittag fort.
Nach der heiligen Johanna Franziska von Chantal soll unsere Betrachtung ein vertrauliches Gespräch mit unserem Herrn sein. Zuerst müssen wir den lieben Gott zu uns rufen und ihn um seinen göttlichen Geist, seine Salbung, sein inneres Licht bitten, um diese halbe Stunde gut zu verbringen, während der wir mit ihm sprechen sollen. Dann müssen wir unseren Tag überblicken, ihn vor unsere Augen stellen, sehen, was wir zu machen haben werden, was zu leiden, zu bekämpfen. Wir haben zu beten, das Direktorium auszuführen. Zu leiden haben wir, was von unserem Elend kommt, von unseren Charakterschwierigkeiten, von unseren Versuchungen, unseren persönlichen Abneigungen, unseren Sichtweisen. Es lässt uns auch unsere schlechte Gesundheit leiden, denn wenn es einem nicht gut geht, leidet nicht nur der Körper, sondern auch die Seele. In der Betrachtung muss man auch auf die verschiedenen Verhältnisse des Tages, wo wir es mit dem Nächsten zu tun haben, einen Blick werfen und sagen: „Da fehle ich, ich beleidige den lieben Gott, ich vergesse meine Versprechen. Nun gut, Herr, ich fasse den großen, den festen Vorsatz, dir treu zu sein. Ich werde mir nicht mehr folgen, ich werde großmütig diesen Fehler, diese Neigung bekämpfen, ich werde jene Sünde vermeiden. Mein Gott, erleuchte mich, hilf mir, stärke mich.“
Wenn wir alle verschiedenen Punkte des Tages vorgesehen haben, müssen wir uns wie Maria zu Füßen unseres Herrn aufhalten. Man unterhält sich sanft, liebevoll mit ihm, man sagt ihm: „Schau, wie wenig ich für deine Liebe mache! Ich bin blind, arm, schwach. Erleuchte mich, stärke mich!“ Und da fühlen wir, dass der liebe Gott zu uns spricht. Diese Augenblicke sind köstlich, sie schenken uns Frieden und Ruhe. Wir fühlen uns voll Freude und Mut, um den Schwierigkeiten entgegenzugehen. Man fasst einen großmütigen Vorsatz, und man verbringt gut seinen Tag.
Aber wenn man zur Betrachtung mit Widerwillen kommt, wenn man nur Abscheu für das, was gut ist, fühlt. O! Das ist noch besser, wir halten uns auf Distanz, wir sagen ihm wie die Kanaaniterin (vgl. Mt 15,21-28): „Hab Erbarmen mit mir, weil ich nichts wert bin. Es scheint mir, dass meine Seele vom Dämon der Entmutigung, des Stolzes, der Sinnlichkeit und der Abscheu gequält wird. Ja, meine Seele, die dein Kind ist, wird sehr gequält und fühlt sich sehr unwohl!“ Die Betrachtung so zu machen, ist die Betrachtung nach der Kanaaniterin machen. Und seht, wie gut der Heiland ist. Er scheint sie zunächst zurückzustoßen, um ihren Glauben zu prüfen. Sie sagt zu ihm: „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen.“ Er scheint sie nicht zu hören. Seine Jünger sagen ihm: Meister, hörst du nicht diese Frau, die uns mit ihrem Schreien verfolgt? Schicke sie weg! Unser Herr wendet sich ihr zu und sagt zu ihr: Ist es gerecht und angebracht, den Kindern das Brot zu nehmen, um es den Hunden zu geben? Die Kanaaniterin antwortet: O, das ist wohl wahr, Herr, aber die kleinen Hunde fressen die Brösel, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Nun sagt ihr unser Herr: O Frau, wie groß ist dein Glaube! Geh, es geschehe, wie du wolltest. Das ist, meine Kinder, die Betrachtung in der Trockenheit. Man will beten, man wendet sich an unseren Herrn, man kann es nicht. Er stößt uns zurück, er behandelt uns wie die Kanaaniterin, wir verdienen nicht einmal einen Blick von ihm. Er sagt, dass wir Elende sind. Und das ist wohl wahr, wir sind nur das vor ihm! Er scheint uns zurückzustoßen. Wir fühlen uns ohne guten Willen und empfinden fast den Wunsch, weit weg von ihm zu gehen. Machen wir es also wie die Kanaaniterin. Wisst ihr, dass die Art, wie unser Herr sie behandelte, sehr hart, sehr demütigend war? „Ist es richtig“, scheint er zu sagen, „dass ich für eine Kanaaniterin ein Wunder wirke, dass ich meine Macht für eine Heidin, für eine Fremde verwende?“ Nun, sehr wie gut er ist in ähnlichen Umständen, unseren Glauben, unserer Hoffnung, unsere Liebe zu stützen, zu ermutigen wie die Kanaaniterin. Wenn wir uns in jenen Augenblicken befinden, lasst es uns wie sie machen, rufen wir unseren Herrn. Schreien wir lauter und sagen wir ihm: „Herr, hab Erbarmen mit mir, denn ich bin gequält! Ich bin nichts und vermag nichts, ich bin nichts wert und es ist mir unmöglich, etwas zu machen.“
Der heilige Franz von Sales sagt uns in seiner Ordensregel, was uns am meisten gegen unsere Natur, gegen die Bedürfnisse unseres Herzens scheint, bringt uns vielmehr den größten Nutzen. Wenn ihr also eure Betrachtung nicht machen könnt, an den Tagen, an denen ihr in der Trockenheit seid, stellt euch auf den Platz der Kanaaniterin, macht es wie sie. Wenn ihr zu nichts mehr Geschmack habt oder euch durch nichts angezogen fühlt, betet wie sie. Wenn ihr nichts mehr habt, nichts mehr fühlt, betet mit demselben Glauben, derselben Liebe, demselben Vertrauen. Wenn ihr diese Liebe nicht fühlt, wenn sie nicht in eurem Herzen ist, wird sie in eurem Willen sein. Sagen wir also unserem Herrn alles, was wir in der Seele haben. Wenn wir nicht mit ihm sprechen können, machen wir es wie diese Frau im Bericht des Evangeliums, rufen wir ihn, sagen wir ihm, dass unsere Seele, dass sein Kind in einem sehr schlechten Zustand ist, bitten wir ihn, er möge Erbarmen haben: Herr, hilf mir, kommt mir zu Hilfe. Hilf mir! Wenn wir von der Versuchung gequält werden, wenn wir geplagt werden, machen wir unsere Betrachtung so.
Aber wenn an einem Feiertag oder wo wir die Kommunion empfangen der liebe Gott zu uns am Grund des Herzens spricht mir seiner sanften so gewinnenden Stimme, wenn er uns sagt, was er von uns will, o, wechseln wir dann nicht das Gespräch. Wenn er über unsere Sünden mit uns spricht, machen wir es wie Magdalena, bleiben wir zu seinen Füßen. Wenn er mit uns über die Kommunion spricht, die wir soeben empfangen haben, über seinen Besuch in unserem Herzen, bleiben wir bei ihm. Diese Augenblicke sind so gut, so süß! Wenn er zu uns über sein Leiden, seinen Tod, seine Liebe zu uns, sein Sakrament der Liebe spricht, wenn er uns sagt, dass er uns liebt, dass er uns ewig lieben wird, dass er im Himmel einen Platz für uns vorbereiten wird, bleiben wir bei ihm, sprechen wir zu ihm, oder eher schweigen wir, hören wir auf ihn. Seine Stimme ist uns sehr sanft. Das ist der Tag des Herrn, das ist seine Stunde des Trostes! Es ist gut, es ist sehr gut, den Heiland zu sehen und zu hören, sich mit ihm zu unterhalten, bei ihm zu leben, zu ihm zu sprechen. Diese Augenblicke sind zwar manchmal sehr kurz, aber was macht das? Den Herrn gesehen haben, ist das nicht alles?
Als sich eines Tages der Herr dem Propheten Simeon (Lk 2,21-34) zeigte, rief dieser aus: „Herr, es ist genug. Da ich dich jetzt gesehen habe, wünsche ich mit nichts mehr auf dieser Erde, ich verlange nichts mehr, als dich im Aufenthalt deines Ruhmes wiederzusehen, wo ich dich nicht mehr verlassen werde!“ Wenn sich unser Herr eines Tages in eurer Betrachtung euch so zeigte, wäre diese Betrachtung sehr gut. Können wir es uns wünschen? Ja. Aber können wir es uns wünschen wegen der vertrauten Freude, die wir dabei empfinden würden? Nein, denn wir sollen nicht uns, sondern den Heiland in der Betrachtung suchen. Besser ist es zu sagen: „Es wird sein, wie der Herr will.“ Hier auf Erden ist es der Übergang, die Heimsuchung, das Kreuz, die Dornenkrone, der Ölberg, die Agonie. Wenn uns unser Herr von Zeit zu Zeit etwas Sanftes vom Tabor fühlen lässt, ah!, lieben wir es. Wie der heilige Petrus können wir rufen: „Herr, hier ist es gut sein! Bleiben wir immer dort!“ Und eine Stimme wird uns antworten: „Ihr wisst nicht, was ihr sagt. Diese Augenblicke können nicht lange dauern, das sind Augenblicke des Himmels!“ Vom Tabor muss man nach Kalvaria durch Heimsuchungen gehen. Wir müssen leiden wie unser Herr, ehe wir zum Berg der Himmelfahrt, zum Aufenthalt im Himmel gelangen. Das ist die Betrachtung vom Tabor. Sie ist gut und unseren Seelen angenehm. Wenn der liebe Gott euch gewährt, sie zu machen, dankt ihm für diese Gnade. Sie wird euch helfen und für euch Kraft, Licht und Leben sein. Aber noch einmal, erinnert euch daran, dass hier herunten diese Augenblicke des vertraulichen Glücks immer von kurzer Dauer sind.
Möge Jesus, der in seinem Sakrament der Liebe die Nahrung eurer Seele ist, euch jeden Morgen dieses köstliche Manna der Betrachtung gewähren. „Ob sie nun süß oder bitter und trocken ist, da du sie uns schickst, o mein Gott, werden wir genährt und gestärkt sein. Wir wollen diesen kostbaren Augenblick nicht verlieren. Nachdem wir gelernt haben, uns mit dir auf Erden zu unterhalten, werden wir uns mit dir in alle Ewigkeit unterhalten.“ Amen.