2. Vortrag: Über die Betrachtung (Fortsetzung)
Montag Abend, 2. September 1878
Meine Kinder, ich will heute Abend über die Betrachtung zu euch sprechen, die, wie der heilige Franz von Sales bekräftigt, die Hauptübung des Ordenslebens ist. Die Seele einer Nonne muss in ständiger Verbindung mit Gott leben. Sie sorgt sich nicht um die Dinge der Erde, sie hat nicht die Zuneigungen zur Welt, es muss also ihre Beschäftigung, ihr ganzes Leben in einer anderen Gegend sein, und es gibt keine andere für sie als die ganz himmlische, wo sie in inniger Verbindung mit Gott sein wird. Es muss unsere Seele gewohnheitsmäßig, sogar ständig in der Gegenwart des Heilands, in Einheit mit ihm sein. Und sie kann sich nur in der Betrachtung über die Dinge Gottes unterhalten, sich ausschließlich damit beschäftigen, sich davon durchdringen lassen, sich daran erbauen. Deshalb wird diese Übung so sehr empfohlen.
In anderen Kongregationen hat man am Morgen eine Stunde Betrachtung. Wir mussten diese Stunde in zwei halbe Stunden teilen, denn hätten wir in der Früh eine Stunde Betrachtung in der Kapelle, dazu die Heilige Messe und die anderen Übungen, dann hätten wir das Aufstehen um eine Stunde vorverlegen müssen. Daraus wäre gefolgt, dass die Zeit des Schlafens zu kurz gewesen wäre. Das war kaum möglich, wegen eurer vielfältigen Beschäftigungen, eurer übermäßigen Mühen und eurer Gesundheit, die nicht immer sehr stark ist.
Meine Kinder, es gibt mehrere Arten, die Betrachtung zu machen. Wenn man sich mit Gott unterhält, spricht man zu ihm entweder von den Dingen, die uns betreffen, oder von den Dingen, die sich auf ihn beziehen. Die erste Art, in der wir zu Gott von dem sprechen, was uns betrifft, ist die eigentliche Betrachtung. Die zweite, die daraus besteht, zu Gott von ihm selbst zu sprechen, oder ihm zuhören, nennt sich Beschauung. Heute Abend werde ich euch zwei Worte über die Betrachtung sagen, zwei praktische Worte, deren Sinn ihr euch sorgfältig merken werdet, damit es einen Grund für euer ganzes Leben bildet.
Wie sollt ihr eure Betrachtung am Morgen machen? Ihr müsst euch in die Gegenwart Gottes versetzen, seinen Heiligen Geist anrufen, ihn bitten, dass ein Strahl seiner Gnade, seines Lichtes, seiner heiligen Liebe in eure Seele kommt, sie erhellt, in sie eindringt und sie mit dem Wunsch erfüllt, ihm treu zu sein. Dann könnt ihr mit dem lieben Gott euren Tag vorbereiten und euch sagen: „Was werde ich heute zu tun haben, wird es etwas Besonderes in meiner Beschäftigung geben?“ Wenn man etwas Ärgerliches, etwas Widerwärtiges vorhersieht, sollte man sich nicht lange dabei aufhalten zu prüfen, wir man es vermeiden könnte. Das wäre eine Unterhaltung mit sich selbst, man würde keine Betrachtung machen. Man muss schauen, welche Gelegenheiten wir haben zu sündigen, ungeduldig zu werden, gegen die Liebe zu fehlen, und den lieben Gott um Gnade bitten, uns beherrschen zu können. Man kann also so seinen Tag vorhersehen, und das ist eine gute Art, die Betrachtung zu machen.
Meine Kinder, ihr könnt sie auch nach dem Direktorium machen, in dem ihr euch sagt: „In der Übung beim Aufstehen soll ich die Gedanken fassen, die angegeben sind. Fasse ich sie? Und mache ich die Morgenbetrachtung getreu und mutig trotz dem Widerwärtigkeiten, der Schwierigkeiten, der Ängste, die ich empfinden kann? Mein Gott, ich erkenne, dass ich oft feige bin, dass ich Mühe habe, deinen heiligen Willen für mich anzunehmen … Dann die Messe, wie höre ich sie? Achte ich sehr darauf, die Gedanken des Direktoriums aufzunehmen? Beschäftige ich mich mit dem lieben Gott? Ist meine Seele mit ihm vereint? Mein Gott, wenn ich es bis jetzt nicht mehr gemacht habe, so verspreche ich dir, es in Zukunft zu machen.“
Ich beharre darauf, meine Kinder, weil alle unsere Tage unser Leben bilden. Wenn auf einen gut verbrachten Tag ein ähnlicher folgt und dann noch ein anderer, wird unser Leben gut erfüllt sein. Das Leben setzt sich aus einer Folge sehr begrenzter Tage zusammen. Wenn ich also diese wenigen Tage, die ich zu leben habe, nicht für den lieben Gott verbringe, womit werde ich den Himmel erkaufen? Wir wird mein Anspruch auf den Rum, auf das Glück der Ewigkeit sein?
Während der Betrachtung geht ihr also so Stunde für Stunde die Beschäftigung eurer Tage durch. Wenn das zu lang ist, nehmt nur eine oder zwei Übungen, einen oder zwei Punkte des Direktoriums. Seht, was ihr zu machen habt und fasst einen guten Vorsatz, in dem ihr sagt: „Heute muss ich mich mit dieser Sache beschäftigen. Ich muss mit dieser Schwester in Verbindung treten. In diesem Haus ist es rutschig und ich falle leichter. Lass nicht zu, dass ich Falle, o mein Gott! Lass mich die Absichten unseres seligen Vaters [Franz von Sales] erfüllen. Unter diesem Umstand empfinde ich Schmerz, Schwierigkeiten, das ich in Gefahr sein könnte, meine Berufung, vielleicht sogar meine Seele zu verlieren … O, komm mir zu Hilfe!“ Man betet so aus ganzem Herzen, und man bittet den lieben Gott, treu zu sein. Nachdem wir so gebetet haben, fassen wir einen Entschluss. Wir halten uns dabei auf, dann gehen wir zu einem anderen Gedanken, einem anderen Artikel unseres Direktoriums über.
So ist im Allgemeinen die Betrachtung einer Oblatin. Sie ist sehr leicht zu machen, so erklärt, so verstanden. Ich glaube, dass es uns an Mut fehlt, unsere Betrachtung gut zu machen, wenn wir oft in der Tugend schwach sind, wenn wir die Hilfe Gottes nicht mehr fühlen, wenn wir auf dem Weg seiner Gebote trödeln, wenn wir ohne Energie sind, ihm zu dienen. Wenn ein schmerzlicher Umstand, eine Versuchung auftritt, unterliegen wir, weil wir diese Schwierigkeit mit unserem Herrn nicht vorhergesehen haben. Und diese bedauernswerte Sache zieht manchmal andere nach sich, die vielleicht – ich wiederhole es – der Grund für den Verlust unserer Berufung, unserer Seele sein werden! …
Meine Kinder, heute Abend dachte ich, ausführlicher über die Betrachtung zu euch zu sprechen. Aber ich werde darauf zurückkommen. Dennoch beharre ich auf dem, was ich euch soeben sagte. Überdenkt gut am Morgen euren Tag, seht, worin ihr den lieben Gott beleidigt, worin ihr schwach seid oder fehlt. Fasst dann einen guten Vorsatz und legt ihn in das Herz unseres Herrn, in das Herz der heiligen Jungfrau, damit euch der liebe Gott gegenwärtig ist, wann die Schwierigkeiten auftauchen werden. Wenn ihr eure Betrachtung so macht, werdet ihr stark und großmütig sein, ihr werdet gegen die Versuchungen gewappnet sein, und ihr werdet sie bewältigen. Ihr werdet wahre Töchter des heiligen Franz von Sales sein, wahre Töchter der Betrachtung, und so wird euer inneres Leben wahrhaftig und ernst sein, und ihr werdet im Stande sein, den Zweck eurer Berufung zu erfüllen. Möge unser Herr in seinem unendlichen Erbarmen es euch durch seine Gnade gewähren. Amen.