Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1877

      

7. Vortrag: Besondere Verpflichtungen für die Oblatinnen, die Nächstenliebe zu üben: Über die zu verwendenden Mittel, um den Kindern eine wahrhaft christliche Erziehung zu geben

Freitag Vormittag, 14. September 1877

Meine Kinder, ihr konntet schon über eure Verpflichtungen gegenüber dem Nächsten nachdenken. Ich wünsche, dass das, was wir darüber gesagt haben, die Grundlage eures Lebens, eures Verhaltens ist. Ihr hättet nicht den Charakter der Kinder des heiligen Franz von Sales, wenn ihr einem anderen Weg folgen würdet, als dem, den ich euch vorgezeichnet habe. Es ist unbedingt notwendig, dass eure Nächstenliebe, eure Achtung vollkommen sind. Ich wiederhole es: das zerstreut nicht die Charakterschwierigkeiten, den Widerwillen, den man haben kann. Das ist etwas Instinktives, das man weder ablegen kann, noch das sich geben kann. Wenn sie nicht gewollt sind, sind sie eine Gelegenheit für Verdienste. Ihr müsst mit dieser Schwester leben, deren Charakter immer traurig ist, und eurer ist immer fröhlich. Eine andere wird meinen, dass euer Charakter traurig ist, ihr werdet sagen, dass er ernst ist. Der Charakter einer anderen Schwester scheint euch zur Leichtsinnigkeit zu neigen, sie wird hingegen sagen, dass es bei ihr Fröhlichkeit sei und daher ein guter Charakter ist. Wir neigen dazu, uns selbst zu gut zu beurteilen, wir sehen immer Gutes auf unserer Seite, und wir sehen nicht das Gute, das in den anderen ist. Wir glauben, dass wir alles gerecht, ausgeglichen, vernünftig machen, und die anderen scheinen uns nicht dahin zu gelangen.
Also, meine Kinder, die Nächstenliebe! Liebt einander, und man wird euch als die Kinder des heiligen Franz von Sales erkennen, und man wird von euch sagen, was die Heiden über die ersten Christen sagten: „Sehr, wie sie einander lieben.“ Vor Gott versprecht ihr es, ihr werdet getreu machen, was ich euch sage. Das ist ein äußerst wichtiger Punkt. Ich kann euch bestätigen, dass ihr, wenn ihr die Nächstenliebe gut übt, ihr euch um das Übrige nicht zu kümmern braucht. Befleißigt euch darin, und ihr werdet nicht mehr zu tun haben. Lasst die Nächstenliebe siegen, und ihr werdet alles übrige machen, ohne es zu bemerken, ihr werdet eure Gelübde leicht erfüllen.
Der heilige Franz von Sales wünschte so sehr, dass man die Nächstenliebe bewahrt, dass er seinen Nonnen nur diese einfache Sache zu machen hätte geben wollen, und sagte, dass ihnen das genügen würde, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Er ist geschickt, unser seliger Vater [Franz von Sales]! Diese kleine Sache, die den Faden unseres persönlichen Lebens durchzieht, ist keine kleine Sache! … Der heilige Franz von Sales wollte diese Tugend vollkommen üben. Er machte so große, so unerhörte Anstrengungen, dass man sagte, das sei der Mann, der auf sich am meisten verzichtete. Man fand seine Galle verhärtet infolge der ständigen Anstrengungen, die er machen musste, um die Nächstenliebe zu wahren. Als man ihm eines Tages vorwarf, eine Person nicht streng genug getadelt zu haben, antwortete er: „Was wollen Sie? Ich fürchtete in einer Viertelstunde die wenige Milde zu verlieren, die in meinem Herzen anzusammeln ich mich seit 22 Jahren bemühe.“ Ich komme oft darauf zurück, meine Kinder, weil es die große Angelegenheit ist: Wenn wir die Nächstenliebe haben, haben wir alles Übrige, und wir haben es sehr groß und sehr schön.
Wir müssen jetzt von einer anderen Liebe sprechen, der Liebe zu den kleinen Nächsten, wie der heilige Franz von Sales sagte. Die ersten Mütter der Heimsuchung hatten auch Mädchen, mit denen sie sich beschäftigten, die sie erzogen, um sie darauf vorzubereiten, Nonnen zu sein oder in der Welt zu bleiben, um dort als gute Christen zu leben. Diese Mädchen mussten sich einige Zeit im Kloster aufhalten. Es war damals das Internat auf eine kleine Zahl beschränkt. Man brachte diese Mädchen zur christlichen Vollkommenheit durch die salesianische Erziehung, das heißt durch die Erziehung des heiligen Franz von Sales. Man gab ihnen ein kleines Gewand, das die Schülerinnen noch heute in einigen Klöstern der Heimsuchung tragen. Unser seliger Vater [Franz von Sales] wollte also, dass sich die ersten Mütter der Heimsuchung um die Erziehung der kleinen Schwestern kümmerten. Er gab ihnen eine ganz sanfte Regel. Man sieht, dass es sein Gedanke war, sie zu einem ganz einfachen, ganz liebevollen, verzichtvollen Leben auszubilden. Er wollte sie zu starken, großmütigen, fähigen Seelen machen, stark gegen alle Albernheiten und das Elend, das an unsere menschliche Gebrechlichkeit gebunden ist, stark gegen alle Gefahren, die auf uns zukommen können. O, dieses Leben, meiner Kinder, ist ein so wunderbares Leben vom Standpunkt des Verstandes und der Frömmigkeit aus!
Wessen bedarf es bezüglich der Mädchen, die uns anvertraut sind? Das Erste ist, ihnen einen tiefen Glauben zu geben. Und wie werdet ihr ihnen diesen tiefen Glauben geben, wenn ihr selbst ihn nicht habt? Ihr müsst ihnen einen aktiven, starken, großmütigen Glauben geben, einen Glauben, der Berge versetzen kann, das heißt die Schwierigkeiten, die auftauchen. Es sind die Berge, von denen unser Herr sprechen will, wenn er sagt: „Wenn euer Glaube auch nur so groß ist wie ein Senfkorn, dann werdet ihr zu diesem Berg sagen: Rück von hier nach dort!, und er wird wegrücken“ (Mt 17,20). Wenn ihr diesen Glauben habt, werdet ihr ihn vermitteln.
Diesen Glauben, meine Kinder, habt ihr dank dem lieben Gott. Es ist eine sehr süße Bemerkung, die ich gemacht habe, dass die Kinder, mit denen ihr euch bis jetzt beschäftigt habt, einen lebendigen Glauben haben, sie haben dieses Siegel. Ihr werdet ihnen also weiterhin einen tiefen Glauben geben, ihr werdet ihnen diesen lebendigen Glauben vermitteln, der über jede menschliche Achtung geht, der sich nicht mit dem Geist der Welt beschäftigt; diesen Glauben, der alle Gefahren, alle Verwirrungen der Welt übersteigt, dieser so unfrommen Welt, deren Strömung wie ein Fluss fließt und alles, vor allem in unserer Zeit, zu verschlingen droht.
Wie werdet ihr das machen? Wie werdet ihr euch dazu stellen? Nicht, indem ihr den Kindern Predigten haltet, indem ihr ihnen Vieles sagt, sondern indem ihr ihnen Passendes sagt. Handelt es sich dabei darum, oft dasselbe zu sagen? Nein, das Kind, das zu oft dasselbe wiederholt hört, schenkt ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Wenn eine Schwester einem Mädchen viel sagt, ist weniger Grund in dem, was sie sagt. Das Mädchen betrachtet es wie etwas, das man sagen muss, es gewöhnt sich daran, und es beeindruckt sie nicht mehr.
In allen Umständen, wo sich die Mädchen fügen müssen, sagt ihnen ein kleines Wort des Glaubens, zeigt ihnen, dass nichts ohne die Erlaubnis des lieben Gottes geschieht. Versäumt es nicht. Wenn sie für einen Augenblick entmutigt sind, sagt man ihnen also ein kleines Wort des Glaubens, ein kleines Wort des lieben Gottes. Wenn sie Schwierigkeiten beim Lernen haben, sagt ihnen nicht viele Worte, denn sie hören das, wie man Glockengeläute hört. Sagt ihnen ein kleines Wort, das sie beeindruckt, das ihnen bleibt. Man muss ihnen den Glauben diskret vermitteln. Ein Feld, auf das man jeden Morgen Samen streuen würde, würde nichts hervorbringen, weil die Samenkörner aufeinander gehäuft wären. Wenn man hingegen Korn für Korn sät, so dass jedes Platz für seine Wurzeln haben kann, damit jedes keimen und sein Leben und seine Vegetation finden kann, werden alle Körner wachsen und viel hervorbringen.
Meine Kinder, versteht also eines gut: Ihr müsst zu den Mädchen mit Eifer und Zurückhaltung sprechen. Ein mit Zurückhaltung gesagtes Wort ist so gut! Ihr wisst es, in den Seelen, die noch die Unschuld ihrer Taufe haben, hat die Gnade ihr ganze Kraft, sie bleibt dort und ein gutes Wort zur rechten Zeit wird diese Grundlage festigen. Obgleich sie nicht sehr aufmerksam sind, sie erinnern sich daran, das bleibt ihnen.
Vermittelt den Glauben mit allen seinen guten und heiligen Eindrücken. Dafür müsst ihr belehrt sein, damit ihr nicht selbst an den Glaubenswahrheiten zweifelt. Wir müssen die Gründe unseres Glaubens kennen und die Quellen, die er hat. Man muss die Gesamtheit der Wahrheiten der Religion kennen, und man darf nicht unwissend sein. Deshalb müsst ihr studieren, was ihr im Noviziat gelernt habt. Es ist notwendig, die biblische Geschichte, die Kirchengeschichte zu kennen, wo man alles findet, was die Religion betrifft. Ihr müsst diese Kenntnisse gegenwärtig in eurer Seele, in eurem Gedächtnis haben, um die Mädchen unterweisen zu können. Nehmt das Evangelium, die biblische Geschichte, die Kirchengeschichte, lasst sie die Mädchen lernen, wenn sie es können, lasst sie diese im Unterricht lernen. Wenn ihr die Kinder in diesen Dingen unterrichtet, gebt ihnen den Eindruck des Glaubens, der Frömmigkeit. Wie viele Verpflichtungen sind das, über die wir nicht nachdenken!
Die Frömmigkeit, sagt der heilige Paulus, ist zu allem nützlich (vgl. Tit 3,8). Das fromme Mädchen ist glücklich. Die Frömmigkeit ist eine Nahrung für seine Seele, sie ist ein Bestandteil seines Glücks. Heißt das, dass ein Mädchen, das fromm ist, Nonne sein wird? Nein, aber es müssen alle Mädchen fromm sein, Gott und die heilige Jungfrau lieben, gerne ihre kleinen Frömmigkeitsübungen machen und sich daran halten. Wisst ihr, dass einem Mädchen, das nicht fromm ist, Vieles fehlen wird? Es wird weichlich, derb, launenhaft sein, es wird nichts in ihm sein. Das ist der Tod! Aber wenn ihr in diese Seele einen Strahl der Gottesliebe, der Andacht zur heiligen Jungfrau fallen lässt, erstrahlt ihr Leben, ihre Liebe zu Gott entwickelt sich. Und wenn sie klug ist, entfaltet sich ihre Klugheit.
Nichts schränkt die Klugheit so sehr ein, wie das Fehlen von Frömmigkeit und Andacht. Wodurch ist die Erziehung, die man jetzt in der Welt vermittelt, so unfruchtbar? Man muss es dem Fehlen an Frömmigkeit zuschreiben. Man rühmt sich derzeit eines Fortschritts angesichts der Wissenschaften. Wohlan! Ich sage euch, dass das Niveau des menschlichen Verstandes nie so niedrig war wie jetzt. Er ist seit 1793 [seit der französischen Revolution] beträchtlich gesunken. Die Welt war nie so unwissend wie heute. Nehmt das erste Mädchen, das gekommen ist. Es wird keinen einzigen Fehler im Französischen machen, jeder kennt die Rechtschreibung und kann seine Stilaufgaben lösen. Ohne Zweifel muss man das können, wenn ihr aber alle diese Personen um ein Wort vom lieben Gott fragt, werden sie ausrufen: „Gott ist gut!“ Und das ist alles! Aber um euch zu sagen, was Gott ist, werden sie euch kein Wort sagen können. Das sind Anschläge, die keinen Ton geben, das sind Vögel im Käfig, das sind Amseln, die pfeifen. Sie haben Luft geschnappt, das ist alles! Für die meisten Mädchen ist es dasselbe und das ist klar.
Meine Kinder, es ist unsere Seele, die sieht, Gott liebt, den sie in sich hat, und von dem sie geliebt wird, den sie besitzt wie einen Strahl der Gottheit. Wenn ihr ein Mädchen habt, das keine mittel hat, um zu lernen und ihr unmerklich die Glaubensdinge in seine Seele einfließen lässt, wird sich sein Verstand entwickeln. Ich mache diese Erfahrung in Saint-Bernard [der Schule der Oblaten des heiligen Franz von Sales]. Wenn man mir Schüler vorstellt, die keinen Verstand haben, sage ich: „Lasst sie das Evangelium, die biblische Geschichte lernen, lasst dies in ihr Herz eindringen, und ihr Verstand wird sich entwickeln.“ Man hat dieses Mittel bei allen angewandt, die man nichts lernen lassen konnte, und es hatte immer guten Erfolg, sie lernten die Rechtschreibung mit solcher Leichtigkeit, dass es wunderbar war.
Meine Kinder, man muss die Mädchen fromm, ernsthaft fromm machen, sie veranlassen, dass sie unseren Herrn und die heilige Jungfrau sehr lieben, sie das Gebet lieben lassen. Man soll sie nicht lange Gebete sprechen lassen, sie würden sie nicht verstehen, und das würde sie ermüden. Es ist notwendig, dass das Gebet kurz ist. Es muss ihr Herz zu Gott gehen, und das Gebet soll sie nicht zu sehr belasten, aber es soll sie berühren, beleben. Welch große Aufgabe, sie fromm zu machen! Man muss ihnen große Achtung für die Gegenwart Gottes vermitteln, damit sie aufmerksam beten. Sagt ihnen, dass sie der liebe Gott sieht, sie anschaut. Sagt das den Kleinen, sagt es auch den Großen. Sagt ihnen, dass der liebe Gott da ist, dass er ihnen zuhört. Vermittelt ihnen eine große Achtung für die Sakramente, indem ihr sie gut vorbereitet, sie zu empfangen, indem ihr ihnen zeigt, welch unauslöschliches Glück es ist, unseren Herrn zu empfangen, da Gott selbst kommt, um in uns zu wohnen, während die Engel des Himmels ihn nicht empfangen können. Berührt ihren Verstand, in dem ihr ihnen all das sagt, und so helft ihr dem lieben Gott, ihr bereitet ihm den Platz. Durch dieses kleine Wort, das ihr ihnen gesagt habt, wirkt der liebe Gott in ihnen, er steigert das Licht, das ihr in ihren Seelen verbreitet habt. Teilt ihnen also den Glauben und die Frömmigkeit mit.
Ich ende, meine Kinder, mit den Worten, die der heilige Johannes Chrysostomus den Großen des Reiches sagte: „Es gibt keine größere und keine schwierigere Beschäftigung als die, Kinder auszubilden oder zu lenken. Denn was ist wichtiger als den Geist und das Herz auszubilden und das Benehmen eines jungen Menschen zu ordnen? Man schätzt einen großen Maler und einen großen Bildhauer. Aber was ist ihre Kunst zum hervorragenden Preis dessen, der nicht auf der Leinwand oder am Marmor arbeitet, sondern am Verstand und am Herzen.“
O, bemüht euch in diesen Dingen, meine Kinder, bemüht euch, das Werk Gottes in den Seelen gut zu machen! Ihr werdet dies verstehen, wenn ihr euch mit ganzem Herzen an dieses Werk macht. Ich werde unseren Herrn bitten, dass ihr eure Aufgabe gut verstehen möget, dass er euch den Verstand dazu gebe und dass er euch die Grundsätze anwenden lässt, die ich euch gab. Amen.