6. Vortrag: Über die Achtung, die die Oblatinnen für den Nächsten und besonders untereinander haben sollen
Donnerstag Abend, 13. September 1877
Das Thema der Nächstenliebe, von dem wir heute Vormittag gesprochen haben, meine Kinder, ist noch nicht erschöpft. Die Nächstenliebe ist ein so große Verpflichtung, eine so gewichtige Aufgabe für uns, dass sie Teil unserer Ordensregel ist. Der heilige Franz von Sales wird Apostel, Lehrer der Liebe und Güte genannt. Seine Biografen nennen ihn so mit Recht, denn er trug in sich Milde und Sanftmut, und diese Milde, diese Sanftmut hatte er dem Vorbild der Vorbilder, unserem Herrn, nachgeahmt.
Sehen wir heute Abend, was wir in Bezug auf unseren Nächsten zu tun haben. Meine Kinder, ihr müsst für jede eurer Schwestern große Achtung haben, eine solche Achtung, dass ihr jedes Mal, wenn ihr dagegen fehlt, wie es in der Ordensregel steht, auf Knien um Verzeihung bitten müsst. Versteht mich gut. Worauf gründet sich diese Achtung? Nicht auf das Verdienst der Person, sondern sie gründet sich auf den Befehl, den uns die Ordensregel diesbezüglich gibt. Der heilige Franz von Sales schreibt uns die Verpflichtung zur Achtung jedes Mal vor, wenn wir mit einer Schwester in Beziehung treten. Wenn wir ihr begegnen, müssen wir sie grüßen. Ihr dürft nicht – weder im Hof noch im Gang - aneinander vorbeigehen, ohne euch zu verneigen, ohne einander dieses Zeichen der Achtung zu geben. Es ist nicht nötig, dass es zwischen den Schwestern im Amt und ihren Gehilfinnen zwanglose Beziehungen gibt. Wenn man etwas, das die Arbeit betrifft, einer Schwester zukommen lassen muss, soll man es ihr achtungsvoll und sanft durch eine andere zukommen lassen. Man sollte es ihr nicht mit dieser Vertrautheit zuwenden, die eine zu große Freiheit oder eine wenig vollständige Erziehung fühlen ließe. Man muss ihr dieses Werk mit Achtung und Schicklichkeit geben, denn man muss nicht nur ihre Person, sondern auch ihren religiösen Charakter als Gemahlin Jesu Christi achten. In ihr wohnt das Bild unseres Herrn.
Ebenso soll man, wenn man zu einer Schwester spricht, es nicht burschikos tun, als ob sie unsere Untergebene, unser Zimmermädchen wäre. Ihr müsst die Schwester, mit der ihr sprecht, wie eine Person behandeln, die über euch steht. Ihr müsst sie achten wie eine Verwandte, für die ihr Aufmerksamkeit und Beachtung habt. Das ist die zu befolgende Ordensregel. Macht das wohl, meine Kinder. Ihr kennt euch nicht selbst. Die Schwester, die ihr nicht genug schätzt, für die ihr nicht genug Achtung habt, ist vielleicht in den Augen des lieben Gottes viel größer als ihr. Ich würde auch dazu viele Beispiele anführen können.
In der Heimsuchung war eine Nonne, die eine große Heilige war. Ich werde euch nicht sagen, woher sie war, aber sie war eine große Heilige. Nun beurteilten sie viele ihrer Gefährtinnen als eine dürftige Nonne. Dennoch fehlte sie nicht äußerlich an der Ordensregel, aber es gab nichts Außergewöhnliches in ihrem Leben. Sie war vielleicht weniger fähig als andere, ihre schlechte Gesundheit – denn sie war immer krank – machte sie für vieles unfähig. Man beachtete sie nicht mehr als die anderen, vielleicht sogar weniger als die anderen. Dennoch waren die Personen, die sie so beurteilten, gut, aber sie irrten sich, da diese Schwester – ich wiederhole es – eine große Heilige war.
Passt also gut auf, meine Kinder. Ihr solltet nicht denken, dass der liebe Gott euch ganz allein liebt. Ihr solltet nicht denken, dass er der Vater, der Freund nur eurer Seele ist. Dieser Gedanke wäre absurd, er wäre ungerecht. Wer sagt euch, dass Gott diese Schwester nicht mehr liebt als euch? … Ich habe in meinem Leben von vielen die Beichte gehört, nun, ich sah in allen Seelen, wie immer sie auch waren, viel bessere Gründe, von Gott geliebt zu werden als ich in meiner Seele habe. Deshalb habe ich mir angewöhnt, die Seelen sehr zu achten, denn sonst setzt man sich dem Irrtum aus.
Achtet gut darauf, und wenn wir auf uns selbst blicken, dann seien wir uns bewusst, dass es aus großer Selbstgefälligkeit geschieht, aus einem verborgenen Stolz heraus, dass wir uns selbst mehr lieben als die anderen, und dass wir mehr schätzen, was wir machen, als was die anderen machen.
Vor wenigen Tagen war ich im Kloster der Karmelitinnen von Compiègne. Sie folgten auf Nonnen, die 1793 [während der französischen Revolution] ihr Leben dem lieben Gott opferten, denn sie starben alle auf dem Schafott außer einer einzigen, die wegen einer notwendigen Angelegenheit gerade abwesend war und sich für einige Tage vom Kloster ferngehalten hatte. Die Oberin hatte die Erlaubnis erhalten, als Letzte zu sterben, um allen ihren Töchtern Mut zuzusprechen. Nun gut, in dieser Gemeinschaft, in der viele Heilige sind, starb eine gute, sehr einfache, dienende Schwester, die nicht viel wusste, aber sie verstand es völlig, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, und während meines Besuches las man mir einen Brief vor, den ein Mädchen an die Oberin der Karmelitinnen geschrieben hatte: „Meine ehrwürdige Mutter,“ hieß es da, „Mama war sehr krank, sie würde sicherlich sterben. Papa hat für sie gebetet, ich auch. Gemeinsam beteten wir zur guten und heiligen Schwester, die so eben bei Ihnen gestorben war. Und sogleich war Mama geheilt.“ Am nächsten Tag ging es dieser Frau sehr gut und sie kam ins Kloster, um die Oberin zu besuchen.
Diese Nonne kannte draußen niemand. Und als man von ihrem Tod erfuhr, waren alle gerührt und sagten, dass soeben eine Heilige gestorben war. Nun, diese Nonne hatte nichts Außergewöhnliches in ihrem Äußeren. Man unterschied sie nicht von den anderen Nonnen. Sie sprach wenig, sie war da, mitten unter den Schwestern, wie eine sehr demütige Person, man war ihr gegenüber nicht sehr aufmerksam, aber der liebe Gott achtete sehr auf sie. Die Nonnen dieses Klosters sind im Allgemeinen adeliger Abstammung, sie gehören zu großen Familien. Wenn sie für diese Schwester eine gewisse Verachtung gehabt hätten, wie hätten sie sich geirrt, wie unrecht hätten sie gehabt! Das ist nicht das einzige Wunder, das dieser Nonne zugeschrieben wird. Man versichert auch, dass ein Priester auf ihre Fürbitte hin geheilt wurde.
Meine Kinder, selbst wenn eure Mitschwestern Charakterverschrobenheiten hätten, habt immer große Achtung vor ihnen, ertragt sie. Das machte der heilige Franz von Sales: Jedes Mal, wenn er an jemandem vorbeiging, am Letzten wie am Ersten von Annecy, am Diener wie am großen Herrn, zog er den Hut. Eines Tages sagte sein Diener François zu ihm: „Monseigneur, aber ihr Hut muss sehr müde sein vom derartigen Grüßen?“ „Nein“, sagte er, „das erquickt mein Herz und schenkt eine Fülle an Gnaden.“
Forscht in eurem Geist, worin ihr gegen die Nächstenliebe fehlen könntet. Macht zu diesem Punkt eine gute Gewissenserforschung. Ich würde euch alle tadeln, wenn ihr diese Wesensart nicht annehmen würdet, wenn ihr nicht diese Achtung voreinander hättet. Macht es euch zur Gewohnheit, es besser zu machen, als ihr es bis jetzt gemacht habt. Macht es euch zur Gewohnheit, jeder Achtung entgegenzubringen, sie mit Ehrerbietung zu behandeln, achtungsvoll mit ihr zu sprechen, sie zu grüßen. Man braucht nicht endlose Zeremonien zu machen, die Zeit verschwenden, das wäre außerhalb der Ordensregel. Aber ich wiederhole es: ehrfurchtsvoll die Dinge übergeben, beachtet den Brauch, euch zu grüßen, wenn ihr einander begegnet. Wenn ihr einander zu sprechen habt, macht es so, dass euer Gesicht milde, euer Blick gut und achtungsvoll ist. Wenn ihr zu euren Schwestern geht, macht es mit Güte. Da ist eine Schwester, die ihre Gefühle zum Ausdruck bringt, sie täte besser daran, es anders zu machen, weil es euch verletzt. Neigt euch, ertragt sie, sie wird bemerken, dass sie es in Zukunft nicht mehr so machen darf. Das sind Kleinigkeiten, werdet ihr mir sagen. In einem Haus machen nicht die großen Dinge die Ereignisse des Lebens aus, sondern die kleinen Einzelheiten, die Nichtigkeiten. Für uns haben die kleinen Einzelheiten große Folgen, vor allem wegen unserer Berufung zur Oblatin. Zu diesem Thema müssen wir auch eine ernsthafte Gewissenserforschung machen. Wir müssen auch eine machen über unsere Beziehungen der Nächstenliebe mit den Personen von draußen und über unsere Beziehungen mit den Mädchen.
Für die Personen der Welt muss man die Ordensregeln beachten, die in unserem Direktorium über die Bescheidenheit, die Angemessenheit angeführt sind. Wir dürfen uns nie harte und hochmütig Ausdrücke erlauben, zu wem auch immer. In den Beziehungen zu ihnen soll es keine Vertraulichkeit geben, man soll nichts haben, das Vertrautheit fühlen ließe, vor allem mit Personen, die man nicht kennt. Die Höflichkeit verbietet es und besonders der Ordensgeist. Aber es soll auf eurem Gesicht immer diese sanfte Einfachheit, diese Fröhlichkeit, diese süße Milde sein, die überall gefällt. Ihr müsst alle, meine Kinder, diese Wesensart haben, damit ihr euch alle ähnlich seid. Was bewirkt, dass sich alle Heimsuchungsschwestern ähneln, dass sie dieselben Familienzüge, die selbe Art sich zu unterhalten haben? Weil sie das Direktorium umsetzen und dies sehr gut machen. Das gibt ihnen allen dieselbe Miene, denselben Gesichtsausdruck. Wenn es Kinder derselben Familie sind, so erkennt man das. Man muss euch erkennen, man muss sehen, dass ihr aus derselben Familie seid. O, habt wohl diese Wesensart, durch die man sich sehr klein, sehr demütig macht, durch die man sich sehr klein, sehr demütig in sich selbst hält.
Ich hätte noch von den Beziehungen sprechen wollen, die ihr zu den Mädchen haben sollt, mit denen ihr betraut seid, aber das wird Stoff eines anderen Vortrages sein, denn ich will euch heute Abend nicht weiter ermüden.
Meine Kinder, versteht gut die Achtung für den Nächsten, das sei unser Kennzeichen, unser Unterscheidungsmerkmal. Erinnert euch an eine Person, die ihr wegen ihrer Würde und Liebe geliebt habt, was fällt euch an ihr auf? War es nicht die Achtung, die sie für alle hatte? Diese Achtung, die bewirkte, dass alles würdig, angemessen in ihr war? Der heilige Franz von Sales sagte der heiligen Johanna Franziska von Chantal, als er von seinen Nonnen sprach: „Ich wünsche sie mir demütig wie die letzte Dienerinnen, und mit großen Seelen, wie sie die größten Prinzessinnen haben.“ Seid also sehr würdig, sehr großmütig. Wenn eine Prinzessin beleidigt wird, erträgt sie die Beleidigung und antwortet nicht. Seht Marie-Antoinette, die Königin von Frankreich, vor ihren Richtern. Seht die heilige Elisabeth vor dem grausamen Gericht ihrer Familie. Man beleidigt sie, sie antworten nichts, sie behalten ihre ganze Seelengröße. Man erweist ihnen einen kleinen Dienst, sie bedanken sich. Das will unser seliger Vater [Franz von Sales]. Seid groß, hochherzig. Es ist etwas sehr Großes, Erhabenes in dieser Handlungsweise. Wir müssen so groß, hochherzig sein und gleichzeitig demütig und klein in uns selbst.
Man wird sich das gut merken, um nichts zu machen, das die Nächstenliebe nur geringfügig verletzten könnte. Man muss vermeiden, eine Herrschermiene aufzusetzen, etwas, das nach Verachtung riecht. Man muss vermeiden, was zeigt, dass man diese oder jene Person nach ihrem persönlichen Wert beurteilt. Der heilige Franz von Sales wollte nicht, dass man irgendjemanden ungünstig beurteilt, weil er in jeder Seele etwas vom lieben Gott erkannte, weil er sah, dass der liebe Gott in ihr war. Wenn er jemandem begegnete, sagte er sich: „Gott wohnt in diesem Herzen, in dieser Seele, wie würde ich das Heiligtum des lieben Gottes behandeln? Ich würde es nicht nicht beachten.“
Meine Kinder, ich wünsche mir, dass ihr das gut versteht, dass ihr einander sehr würdevoll behandelt, dass man euch, wo immer ihr auch seid, als die Kinder unseres seligen Vaters [Franz von Sales] erkennt. Also werdet ihr ihm gefallen und das Siegel der Oblatinnen des heiligen Franz von Sales tragen. Man sieht nicht eure Seele, was aber sieht man? Die äußerlichen Beziehungen. Nichts gibt einen verächtlicheren Eindruck vom Ordensleben, nichts ist skandalöser als Nonnen zu sehen, die einander wenig angemessen und mit wenig Achtung behandeln.
Unser Herr im Altarssakrament möge euch diese Achtung verstehen lassen, die ihr für jede haben sollt. Amen.