2. Vortrag: Über die Aufgabe der Oblatinnen
Dienstag Abend, 11. September 1877
Meine Kinder, wenn wir Exerzitien abhalten, so um gute und heilige Nonnen zu werden. Es ist unmöglich immer zu gehen, ohne dass sich der Staub des Weges an unserer Kleidung heftet. Es ist unmöglich, lange inmitten der Welt zu sein, ohne etwas davonzutragen, ohne eine Verletzung zu fühlen. Selbst, wenn wir in der Wüste der Trappistenabtei oder der Karthause wären, wären wir einer Erschlaffung in der Übung der Tugenden ausgesetzt. Der Abstieg ist natürlich. Es ist notwendig, von Zeit zu Zeit die Stufen wieder hinaufzugehen, die wir hinuntergestiegen sind, und den Berg neuerlich zu erklimmen, den uns unser Eigenwille hinabsteigen ließ. Was muss man dafür tun? Man muss Exerzitien machen, gute Exerzitien, um wahre Nonnen zu werden, um heilige Nonnen zu werden.
Was bedeutet es also, Nonne zu sein? Was bedeutet es, eine Oblatin des heiligen Franz von Sales zu sein? Wir werden es mit einigen Worten sagen. Wir werden dann die Hindernisse sehen, die sich dem entgegenstellen, was wir sind, dann die Mittel, die zu ergreifen sind, um es vollkommen zu werden. Ihr werdet euch gut merken, was ich euch sage, meine Kinder, um diese Exerzitien gut zu machen.
Im Allgemeinen sind die Nonnen Gott geweiht, Gott durch die Gelübde hingegeben, die zu üben sie sich verpflichten. Diese Verpflichtungen müssen für alle Nonnen, egal welcher Gemeinschaft sie angehören, die gleichen sein. Doch jede Kongregation hat ihre besonderen Standespflichten. Heute will ich euch also ein Wort über das sagen, was eine Oblatin nach dem Willen Gottes sein soll.
Als der heilige Franz von Sales zu den ersten Müttern der Heimsuchung sprach, sagte er ihnen: „Ihr seid Apostel, nicht um von einer Kanzel zu predigen, um die Heiden zu evangelisieren, sondern um zu erbauen, indem ihr durch eure Wesensart das Leben unseres Herrn auf Erden nachvollzieht.“ (Vgl. DASal 2,88-90) Euch, meine Kinder, werde ich dasselbe sagen. Ihr seid Apostel. Denen, die euch reden hören, die euch sehen, müsst ihr den Eindruck geben, den unser Herr durch sein Wort, durch seine Anwesenheit vermittelte. Ihr seid erwählt, um in der Welt das Leben des Heilands, das Leben der heiligen Jungfrau fortzuführen, damit man sagen wird, wenn man euch sieht: „Das machte unser Herr, die heilige Jungfrau, das sagten sie, das waren sie.“ Was für eine Aufgabe ist das!
Wenn heute der liebe Gott zu einem Heer von Engeln sagte, sie sollen auf die Erde hinabsteigen, um diese Aufgabe zu erfüllen, um das Leben unseres Herrn, der heiligen Jungfrau vollkommen nachzuahmen, würden sie sagen: „O Herr, wie ist diese Aufgabe schwer! Wie können wir, deine Geschöpfe, das unendliche Vorbild, das göttliche Vorbild, das du uns in unserem Herrn Jesus Christus vorschlägst, vollkommen nachahmen? Wie können wir die heilige Jungfrau nachahmen?“ Sie würden erschrocken ausrufen: „Wir können nicht, wir können nicht mehr auf Erden bleiben, wir wollen lieber in den Himmel zurückkehren. Wir sind dort bei dir, Herr, um dich zu loben, dich anzubeten, dich zu lieben. Aber unseren Herrn Jesus Christus können wir nicht nachahmen, das übersteigt unsere Kräfte und unser Vermögen.“
Meine Kinder, obgleich wir keine Engel sind und trotz unserer Schwäche sind wir durch unsere Gelübde und der gegebenen Versprechen verpflichtet, für alle und bei jeder Gelegenheit treue Abbilder unseres Herrn auf Erden und seiner heiligsten Mutter zu sein.
Franz von Sales nannte die ersten Mütter der Heimsuchung Apostel in seiner Zeit, in der man noch glaubte. Wenn er in unserer Zeit lebte, um wie viel mehr würde er uns Apostel nennen. Er würde uns noch intensiver sagen: „Seid Apostel, in dem ihr das wahre Leben unseres Herrn nachahmt, um den Seelen den Eindruck zu vermitteln, den der Anblick des Heilands machen würde.“ Meine Kinder, ihr müsst sagen: „Das ist mein Ziel.“ Seht, wie groß das ist! Und ich sage euch hier keine zufällig gefasste Idee. Ihr müsst alle zu diesem Zustand der Vollkommenheit gelangen können. Aber um das zu erreichen, dürfen wir nicht mehr wir selbst sein. Lebt man von seinen Ideen, seinem Widerwillen, seinen Neigungen, seinen eigenen Anhänglichkeiten, lebt man ziemlich sicher nicht das Leben unseres Herrn. Man lebt sein eigenes Leben. Ich bemerkte das wieder heute bei einer guten Nonne. Ich bemerkte in ihr, in ihrem Leben den Widerspruch zu ihrem eigenen Grund, zu ihrem eigenen Naturell. Also sagte ich mir: „Das ist eine gute Nonne, eine Seele, die sicher und vollkommen unseren Herrn darstellt.“
Um so zu leben, meine Kinder, darf man nicht mehr sich selbst gehören, man muss vielmehr ganz der Abhängigkeit, dem vollständigsten, absolutesten Gehorsam hingegeben sein. Nicht mehr durch sich selbst wollen, sondern nur noch wie unser Herr wollen. Dann wird man feststellen, was er machte. Ihr wollt Nonnen sein? Das ist alles oder nichts. Ahmt unseren Herrn nach! Ihr wollt Nonnen sein, aber dieses oder jenes nicht machen … damit seid ihr überhaupt nichts. Es wäre besser gewesen zu bleiben, was ihr gewesen seid. Aber wenn ihr Oblatinnen sein wollt, ist es etwas anderes, ist es eine andere Frage, ist es eine sehr schwere, sehr ernste Frage.
Ihr wollt Oblatinnen sein? Ihr beginnt eine Kongregation … versteht ihr wohl die ganze Wichtigkeit? Wisst ihr, was ihr machen werdet? Ihr wollt dem heiligen Franz von Sales folgen, der ein Kirchenlehrer ist. Ihr wollt ihm in diesem Leben folgen, dessen Leben ein sehr vollkommenes Leben war. Ich behaupte es, es war sehr vollkommen. Ich nehme unseren Herrn dafür als Zeugen, der hier im Heiligsten Sakrament des Altares gegenwärtig ist.
Meine Kinder, ist dieses Leben schwer? Ja, mit den natürlichen Mitteln, aber mit den übernatürlichen Mitteln nein. Derjenige, der nur Staubfeger in den Tuilerien sein und seine Arbeit machen will, für den hat es keine Folgen. Aber derjenige, der Minister sein will, muss alle Funktionen, alle Verpflichtungen gewissenhaft erfüllen, ansonsten wäre er nicht mehr wert als der Staubfeger, der seine Arbeit noch dazu schlecht macht. Wenn ihr Teil einer Kongregation sein wollt, die zu einem hohen Grad an Vollkommenheit berufen ist – ich fürchte mich nicht davor, eine solche Prophezeiung zu machen, dass Gott genau das verwirklichen will – wenn ihr also Oblatinnen sein wollt, müsst ihr vollkommen sein oder es wenigstens in dem Maße werden wollen. Dazu möget ihr die Absicht, den Willen haben, ganz dem lieben Gott und nicht mehr euch selbst zu gehören.
Heute Abend sage ich euch, meine Kinder, sehr starke, sehr schwere Dinge. Ich sage sie euch, um euch die Situation gut verständlich zu machen, in der ihr euch befindet, den Ernst des Standes, in den ihr eintreten wollt. Wenn ihr diesen gut bestimmten Willen habt, euch so ganz dem lieben Gott zu schenken, wenn ihr alles Nötige machen wollt, um euch nach und nach von euch selbst zu lösen, wenn ihr sehr demütig, sehr unterworfen sein wollt, werde ich euch sagen: O, wie seid ihr glücklich! Ihr seid zehnmal glücklicher, als wenn ihr in der Welt wäret. Eure Handlungen sind verdienstvoller vor Gott, eure Verdienste sind unendlich! Gott selbst krönt seine Gaben. Wo Gott alles ist, belohnt er alles. O mein Gott, der du alles in deinen Heiligen krönst, du verteilst an sie alle deine Gnaden! Da Gott seine Gaben krönt, wird er sie, meine Kinder, auch in euch krönen.
Ich sage euch all das, weil ich euch informieren muss, weil ich euch meine Gedanken erklären muss. Es sind nicht nur meine, sondern auch die Gedanken von Mgr. Mermillod, die von unserem Heiligen Vater und die der Heiligen Kirche. Euer Leben soll ein vollkommenes Leben, ein Leben von Heiligen sein. Werdet ihr eines Tages Heilige sein? Natürlich, es wird für einige von euch sogar viel Zeit erfordern, um es zu werden. Es werden welche noch lange mit sich selbst sein, sie werden viel Zeit brauchen, um sich ganz von sich selbst zu lösen, um nicht mehr ihre Neigungen zu suchen, um keine eigene Persönlichkeit mehr zu haben. Sie werden noch lange unvollkommen und an ihren eigenen Willen gebunden sein. Aber wenn die Seelen sich großmütig, gutwillig, mit einem beständigen Willen zeigen wollen, werden sie glücklich sein und die Auswirkungen eines unendlichen Erbarmens empfangen.
Meine Kinder, ihr wollt Nonnen sein, macht, was dazu nötig ist. Ihr wollt Oblatinnen sein, achtet wohl darauf! Wenn ihr keine treuen Oblatinnen sein solltet, wäre es viel besser, wenn ihr etwas anderes machen würdet, denn ihr werdet zerbrochen werden wie ein Glas, das man zu Boden wirft. Warum das? Weil euch unser Herr liebt, weil er eifersüchtig ist, äußerst eifersüchtig von Herzen auf seine Gemahlinnen. Ich kann es nicht verbergen, ich kann es nicht leugnen. Ich sage das nicht aus mir, ich spreche unter der Eingebung des lieben Gottes, der im Tabernakel da ist und mich hört.
Meine Kinder, wenn euch Jesus im Vorbeigehen einen liebevollen Blick zuwirft wie einst Maria Magdalena, oder dem reichen Jüngling im Evangelium oder den Aposteln, wenn er so an euch vorbeigeht, wenn er euch ruft, wenn er zu euch sagt: Kommt!, so hört ihm bitte zu! Wie unsinnig würde die Seele handeln, die ihm nicht wie der treue Apostel antworten würde: „Hier bin ich, Herr, ich komme voll Vertrauen zu dir, weil du mich gerufen hast.“ Aber, meine Kinder, vergesst nicht, wenn ihr Oblatinnen sein wollt, müsst ihr beginnen, euch selbst und allem abzusterben.
Es lebe der Tod, der uns ein solches Leben schenkt! O, welch seliger Tod ist es, der uns mit dir, Herr, in Zeit und Ewigkeit vereint! Amen.