Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1876

      

8. Vortrag: Über die Armut (Fortsetzung)

Donnerstag Abends, 14. September 1876

Meine Kinder, heute Vormittag sprach ich zu euch über das große Glück, dazu berufen zu sein, unserem Herrn in seiner Armut nachzufolgen. Heute Abend will ich euch Seele genügend erleuchten, damit ihr diese Tugend liebt und übt.
Ich sagte euch, dass die Armut ihre natürlichen Vorteile hat. Ihr habt es verstanden, und es drang euch ins Herz. Aber die Armut hat ihre Bürde, ihren Verzicht, was im Klosterleben fühlbar wird. Man muss darauf gefasst sein, um es gut zu verstehen und zu nützen. Wir müssen bei jeder Gelegenheit den Wunsch, den Gedanken haben, die Übung der Armut, die darin steckt, anzuwenden.
Die Armut, meine Kinder, vereint uns innig mit unserem Herrn. Aber – ich wiederhole es – sie hat wohl auch ihre Last, ihren Verzicht. Ihr seid arm, weil ihr am Morgen um 5.30 Uhr in einem kalten Zimmer aufsteht. In der Welt würdet ihr euch von Euren Bediensteten ein Feuer machen und euch bedienen lassen. Das ist ein wahrer Verzicht. Und im Winter ist es eine sehr große Übung der Armut. Wenn ich dem Tagesablauf weiter folgte, wäre es in allem dasselbe.
Unsere Nahrung ist die der Armen. Die Armen leben, wie ihr lebt, essen, was ihr esst. Eure Nahrung ist die der Armen, die das Nötige zum Leben haben, aber ärmlich. Für alle eure Mahlzeiten soll es dasselbe sein. Aber da ihr arbeitet, braucht ihr genügend Nahrung, um eure Kräfte wiederherzustellen. Bei jeder Mahlzeit müsst ihr auf etwas verzichten; die Regel verpflichtet euch zu einer Übung der Abtötung entweder in dem ihr etwas esst, was euch nicht schmeckt, oder indem ihr auf etwas verzichtet, das ihr gern habt. Der heilige Franz von Sales sagte, dass er nicht will, dass die Abtötung sichtbar ist. Aber man muss sich etwas versagen und wäre es nur ein Bissen Brot. Man serviert euch etwas Versalzenes. Esst es als Übung der Armut, bietet es dem lieben Gott im Geist der Armut an. Diese Abtötung ist mehr wert als die, die ihr wählen könntet, weil das, was ihr macht, den Grund in eurem Gelübde der Armut hat. Das gilt für die Nahrung.
Ich weiß wohl, meine Kinder, dass ich dazu nichts weiter zu sagen brauche. Ihr könnt nicht ärmer leben als ihr lebt. Es ist vorzuziehen, dass ihr nehmt, was nötig ist, um eure Kräfte zu erhalten. Es ist besser, Brot zu essen, als zu Medikamenten greifen zu müssen. Das ist eine Pflicht, der heilige Franz von Sales wollte es so. Aber man muss jede Suche vermeiden. Verwendet immer sehr einfache Gerichte. Es sollen die Oblatinnen nicht in weltlicher Weise leben, wie die Leute von Welt es machen, die sich die Dinge nach ihrem Geschmack suchen. Man soll keine ausgesuchten Speisen verwenden, noch oft reichlich Mahlzeiten einnehmen. Die Armen machen das an Festtagen. Die Nonnen können es auch machen, aber sehr selten.
Man muss die Armut bei den Mahlzeiten üben, die Armut beim Geschirr, die Armut bei den Nahrungsmitteln. Wenn etwas teuer ist, soll man nicht davon essen. Ich erinnere mich, dass ein heiliger Ordensmann, dem man eine sehr ausgesucht Speise vorsetzte, die von einem Mitglied seiner Familie geschickt worden war, nicht davon essen wollte. „Aber“, sagte man ihm, „wenn Sie es nicht essen, wird es verderben. Man gibt es Ihnen.“ – „Nein,“ antwortete er, „ich habe das Gelübde der Armut abgelegt, ich werde es nicht essen.“
Unser heiliger Vater, der Papst, hat den Bischöfen äußerst strenge Regeln über die Armut gegeben. Entweder die Armut ist etwas, oder sie ist nichts. Einige Kongregationen, die das Gelübde nicht abgelegt haben, brauchen nicht so zu handeln, aber für uns ist das etwas anderes. Seht die Heimsuchung, wenn der Bischof kommt, ist das Geschirr angemessen, aber es ist arm, es gibt keinen Luxus. Man soll – ich wiederhole es – machen, was man bei den Armen machen würde, die das Nötige zum Leben haben, aber ärmlich. Die Regel verbietet, das kleinste Möbel zu bewahren, das nach Reichtum riecht. Ich möchte, dass eine Nonne, der man sehr Ausgesuchtes schickt, es wie der heilige Ordensmann macht und es nicht behält. Das muss uns gut verständlich machen, dass uns unsere Gelübde zu sehr großer Armut verpflichtet. Bei jeder Mahlzeit müssen wir uns daran erinnern, dass wir arm sind. Man muss die Dinge gut verstehen, ohne jedoch lächerlich zu sein. Wie wäre es anstößig, gebe es bei den Oblatinnen schönes Geschirr und erlesene Speisen und Weine! Habt für die Kranken einen besseren Wein, aber sonst nicht, nie, nie!
Bezüglich Kleidung, meine Kinder, seid sauber und angemessen. Der heilige Franz von Sales will, dass seine Philothea angemessen gekleidet ist, dass sie sich so kleidet, dass keine Bemerkung gemacht wird, wenn man sie sieht, dass ihre Kleidung untadelig ist. Man möge darauf achten, seine Kleidung zu schonen, man pflege sie wie die Armen, die keine Mittel haben, sich neue zu beschaffen. Man muss sie möglichst lange behalten. Die Kleidung, die man uns gibt, gehört uns nicht, sie wird uns geliehen. Achten wir sehr darauf. Man muss das großmütig tun. Ihr habt nicht die Armut der Gewänder, wie in einigen Kongregationen wie die Franziskanerinnen oder die Kapuzinerinnen. Aber wenn euch etwas fehlt, müsst ihr euch daran erinnern, dass ihr arm seid. Tragt eure Kleidung mit Bescheidenheit und es möge nach Armut riechen. Wenn also etwas an eurem Kleid oder euren Schuhen nicht passt, seid zufrieden. Nehmt diese Kleidung wie ein Armer an, der empfängt, was man ihm gibt, und die Dinge bewahrt, wie er sie empfangen hat. Also die Armut in der Nahrung, in der Kleidung.
Die Armut in den Dingen, die wir gebrauchen: Eine Nonne muss haben, was sie zum Arbeiten braucht. Sie muss wie ein Arbeiter die für ihre Arbeit nützlichen Werkzeuge haben, sie soll aber nichts außer dem Notwendigsten haben. Die Zelle soll ganz nach der Regel sein, es soll gerade dort nur das sein, was nötig ist. Es wäre mir entsetzlich, würden die Oblatinnen wie große Damen wohnen. In der Heimsuchung besteht die Wäschekammer nur aus fünfzig oder sechzig Jahre alten Möbeln. Es müssen also die Häuser der Kongregationen sehr arm sein. Da man in den Internaten mit den Personen der Welt in Verbindung ist, muss da etwas mehr getan werden. Aber in der Gemeinschaft möge man sehr arm sein. Wenn man etwas Überflüssiges hätte, wäre nichts hässlicher – verzeiht mir den Ausdruck – wäre mir nichts widerlicher als etwas, das nicht arm wäre. Das würde dem Herzen des lieben Gottes widerstreben, er würde euch ausspeien! Ich sage es vor allen, man möge sich wohl daran erinnern.
Der heilige Franz von Sales will wohl, dass man wertvolle Gegenstände für die Kirche bewahrt, aber wenn sie nicht verwendet werden können, muss man sie verkaufen. Diesen Geist muss man wohl haben. Man sei außen und innen arm wie bei den Karmelitinnen, wie in der Heimsuchung. Es muss sein. Ihr seid die Heimsuchung von draußen. Jeder kann zu euch kommen, da ihr nicht klausuriert seid. Daher müssen alle, die euch besuchen, eure Armut sehen, um davon erbaut zu sein, und euer Haus mit einem guten Eindruck verlassen. Also Armut nicht nur in der Nahrung und in der Kleidung, sondern auch bei den Möbeln.
Meine Kinder, es gibt Nonnen, denen immer etwas fehlt: sie brauchen dies und das! Aber wenn ihr Nonnen geworden seid, um zu bekommen, was euch am angenehmsten ist, am bequemsten, hättet ihr besser daran getan, in der Welt zu bleiben. Ihr wärt dort geblieben mit dem, was ihr hattet, ihr wärt in eurem Recht gewesen und der liebe Gott hätte es euch nicht vorgeworfen, da ihr ja das Gelübde der Armut nicht abgelegt hättet. Erinnert euch daran, dass ihr arm seid, verliert nichts, nicht einmal ein Stückchen Faden, ein weißes Blatt Papier. Achtet sehr auf alles. Herr Olier [Jean-Jacques Olier (* 20. September 1608 in Paris, Frankreich; † 2. April 1657 in Paris) war ein französischer katholischer Priester und Gründer der Kongregation der Sulpizianer und des Priesterseminars St. Sulpice in Paris. Er gilt als großer Erneuerer des religiösen Lebens im Frankreich des 17. Jahrhunderts.] sammelte alle Stückchen weißen Papieres und schrieb darauf seinen Priestern. Nehmt euch diesen Geist zum Vorbild. Ihr müsst euch sagen: „Ich bin arm, ich muss ganz wie eine Arme handeln.“
O, wie gefällt Gott die Übung dieses Gelübdes, wie gewinnt sie das Herz Jesu! Wenn ihr arm und abgetötet seid, werdet ihr vom lieben Gott alles erhalten. Wollt ihr Wunder wirken? Seid arm und ihr werdet das Wunder erhalten, euch und die anderen zu bekehren. Grabt das in euer Gedächtnis ein, in euer Herz. Unser Herr war der erste Arme. Lieben wir die Armut, sie ist ein Gelübde, das uns sehr heiligt, und das uns beim lieben Gott eine sehr große Macht gibt. Um die Armut gut zu verstehen, nehmt an, dass ihr gestorben seid. Wenn man einen Toten in Lumpen hüllt, macht ihm das nichts aus. Die Nonnen müssen fürchten, was nach Reichtum und Abwesenheit von Armut riecht.
Ich füge etwas hinzu, das mir am Herzen liegt. Am Tag nach unserer Profess betete ich für meine Brüder von Ma Campagne (Anwesen bei Troyes, wo die Kongregation der Oblaten des heiligen Franz von Sales begann) während der heiligen Messe und im Augenblick der Wandlung bat ich den lieben Gott, dass wir immer arm sein mögen, immer getreu unserem Gelübde der Armut, dass wir nicht die Dinge der Erde suchen, und ich sagte ihm, er möge mir einen Beweis geben, der mir bezeugt, dass er mit dem Gelübde der Armut, das wir abgelegt haben, zufrieden ist. Als ich nach der Messe noch in der Heimsuchung war, teilte man mir mit, dass mich jemand verlangt. Es war eine Person, die kam, um mir zu sagen, dass sie, da die Oblaten das Gelübde der Armut abgelegt hätten, einen Oblaten übernehmen wolle, und dass sie ihm jedes Jahr 500 Francs Rente zahle. Wie ist das nett! Ich war sehr zufrieden, das war der Beweis, dass der liebe Gott unser Gelübde der Armut annahm. Ich fand diesen Umstand sehr bemerkenswert.
Meine Kinder, seien wir sehr arm, sehr losgelöst, seien wir sehr zufrieden, sehr glücklich, wenn etwas nicht ganz gut passt, wenn uns die Schuhe ein wenig drücken, wenn wir nicht untergebracht sind, wie wir es möchten, wenn wir nicht alles haben, was wir in unserer Zelle brauchen, wenn in unserem Büro etwas nicht bequem ist. Wenn ihr nicht genau habt, was ihr braucht, wird der liebe Gott bei euch sein, aber an dem Tag, wo ihr sagen könnt: „Nichts fehlt mir“, wird der liebe Gott die Tür öffnen, weggehen und nicht mehr zurückkommen! Wenn ihr hingegen arm seid, wird er euch mit Segnungen überhäufen. Was ich euch sage, sage ich euch von Seiten Gottes. An dem Tag, wo ihr alles haben werdet, was ihr braucht, nehmt den wesentlichsten Gegenstand und werft ihn zur Tür hinaus, das heißt: tragt ihn zu eurer Oberin. An dem Tag, wo in eurem Büro alles gut gehen wird, sucht das Mittel, dass nicht alles so gut geht. Das ist das große Geheimnis, das große Merkmal der Armut.
Möge Jesus, der bei seiner Geburt in Betlehem arm war, uns die Liebe zur Armut geben. Ich sah das kleine Haus von Nazaret, wo er gegessen hat. Es war nicht bequem! Es ist nicht groß, und ich versichere euch, dass man dort keine großen Festmähler veranstalten konnte, denn es war sehr eng. Das ist die Bleibe eines Gottes!
Meine Kinder, bitten wir unseren Herrn, diese Dinge gut zu verstehen und sie ganz zum Gegenstand unserer Zuneigung zu machen. Amen.