Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1876

      

7. Vortrag: Über die Armut

Donnerstag Vormittag, 14. September 1876

Meine Kinder, gestern sprach ich zu euch über die Notwendigkeit, in all euren Handlungen wahre Nonnen zu sein, kein oberflächliches Leben zu führen, also ein Leben, das von einer Sache zur anderen geht, ohne Herz, ohne Liebe. Heute will ich, dass eure Seele von den Verpflichtungen des Ordenslebens erhellt wird.
Was will das Wort Ordensleben sagen? Dieses Wort bedeutet, durch viel engere, stärkere, beständigere Bande mit Gott verbunden zu sein als in jedwedem anderen Leben. Seht, was der Katechismus sagt: Der Ordensstand ist ein stabiler Stand durch das Gemeinschaftsleben. Es geht also nicht um einen momentanen Eifer, sondern um einen Eifer, der immer dauern soll. Das Ordensleben ist ein Sein jenseits des gesamten Lebens. Dieses Sein hört nicht auf der Erde auf, es wird im Himmel fortgesetzt. Unser Herr hat die Wahrheit gesagt, er hat das Hundertfache versprochen. Er gab dem Ordensleben nicht einen vierfach, sondern einen hundertfach größeren Teil als jeder anderen Lebensweise. Und dieses Versprechen unseres Herr ist kein relatives Versprechen, es ist absolut. Wenn wir also das Hundertfache empfangen sollen, sind wir dann nicht strengstens verpflichtet, uns hundert Mal mehr zu schenken als die anderen? Ijob sagte, dass unsere Tage gezählt seien und wir sie daher gut verwenden sollen.
Meine Kinder, was also ist unsere Verpflichtung? Die Nonne gelobt Armut, Keuschheit und Gehorsam. Durch das Gelübde der Armut hat sie nichts. Nichts gehört ihr, sie kann über nichts verfügen, sie kann überhaupt nichts anordnen, da sie der Welt gestorben ist. Ist es ein großes Übel, arm zu sein? Haben die Reichtümer nicht ihre Dornen? Was unser Herr sagt, ist eine unbestreitbare Wahrheit: „Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen!“ (Mk 10,23). Denen der liebe Gott Reichtümer gibt, gibt er oft weniger reichlich die Gnadengaben. Versteht das gut. Ich muss euch, meine Kinder, unterweisen: eine Nonne muss bezüglich der heiligen Gelübde bestens belehrt sein.
Die heilige Kirche schreibt uns das Gelübde der Armut vor, zunächst um uns von den Verwirrungen der äußeren Dinge zu lösen. Die Reichtümer haben ihre Dornen. Die Dornen kratzen, zerreißen, verletzen tief und verursachen bittere Schmerzen. Wenn man reich ist, hat man nicht die Freiheit des Geistes. Die Reichtümer machen sehr oft unglücklich auf dieser Welt. Wenn man wie wir Zeuge war von den Vorgängen am heiligen Gericht, ist da niemand, der nicht sagen würde: „Ich will kein Vermögen, es macht zu unglücklich.“ Wir werden all das erst in der anderen Welt verstehen. Die reichen Frauen sind häufig sehr unglücklich: entweder sie sind Christinnen und ertragen geduldig ihre Mühen, oder sie sind leicht und stürzen sich unüberlegt in die mehr oder weniger gefährlichen Wege, um sich zu betäuben. Ich kenne keine einzige reiche Frau, wer immer sie auch sei, die vollkommen glücklich ist. Ich habe nie eine gesehen. Der liebe Gott ist gerecht, er gibt nicht die Fülle auf zwei Seiten. Wenn er die weltlichen Dinge in Fülle gibt, gibt er selten im gleichen Maß die geistigen Güter.
Versteht das gut, meine Kinder. Der heilige Thomas (von Aquin) sagte, das Gelübde der Armut befreie von den Wirrnissen des Reichtums, des Elends dieses Lebens und mache die Seele freier, um zu Gott zu gehen. Er gibt uns den Teil der Armen, den Teil, den unser Herr ihnen machte. Selig die Armen im Geiste, das heißt diejenigen, die sich nicht an die Dinge der Welt hängen, denn ihrer ist das Himmelreich (vgl. Mt 5,3). Sie vermeiden so den Fluch Gottes. Es gibt völlig von den Gütern der Erde losgelöste Christen, die ihre Güter für ein Mitglied der Familie bewahren müssen und sie gedeihen lassen; sie sind entbunden von einem Teil der an die zeitlichen Güter gebundenen Mühen, aber die liebe Gott nimmt sie ihnen nicht ganz.
Man muss wirklich arm sein, besitzlos, wie unser Herr sagte: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ (Mt 8,20) Das, meine Kinder, sagt das Evangelium, was unser Herr gemacht hat. Das sollen wir machen, das ist das Beispiel, dem wir folgen sollen. Ich hole nicht von weit her, was ich eich sage, ich entnehme es dem Evangelium. Ihr werdet mir vielleicht sagen, dass es hart ist, nichts zu haben, aber betrachtet, was dafür gegeben wird. Für einige elende Dinge, die ihr aufgebt, gibt euch unser Herr das Hundertfache an Sicherheit, Geistes- und Seelenruhe.
„O selige Armut!“ sagt der heilige Franz von Assisi, „ich habe dich am Kreuz verstanden, wo unser Herr gestorben ist. Ich habe dich an mein Herz gedrückt, ich werde dich nie mehr verlassen. Du bist mein Leben, meine Glückseligkeit, mein Glück, denn durch dich liebt man Jesus Christus und besitzt man ihn bei sich.“
Seien wir also gern arm. Möge jede von euch den Herrn dafür preisen. Bewahrt diese Gefühle, meine Kinder, denn die Armut ist eine sehr große Gnade. Ich will euren Geist nicht weiter ermüden. Wenn jede von euch versteht, was die Armut ist – ich wiederhole es -, wird sie den Herrn dafür preisen.
Gehen wir zu Jesus, wir werden ihn überall finden. Seht ihn in Betlehem als kleines Kind: er liegt in der Krippe zwischen zwei Tieren. Er wird von ungebildeten Hirten angebetet. Wie arm ist alles, was ihn umgibt! Als die heilige Jungfrau und der heilige Josef mit dem Jesuskind nach Ägypten fliehen müssen, haben sie kein Einkommen. Sie verbringen eine gewisse Zeit in diesem Land, dessen Bewohner weder die jüdische Sprache noch die jüdische Religion kennen. Sie kommen nach Nazaret zurück, wo das Jesuskind mit dem heiligen Josef arbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Sehr unseren Herrn später bei den Predigten: einige heilige Frauen geben ihm, was er zum Leben braucht, aber er ist immer arm. Er hat nichts. Sehr ihn eines Tages erschöpft von Müdigkeit, Hunger und Durst. Er setzt sich an den Rand des Jakobsbrunnens, wo er die Samariterin trifft. Es war Mittag, und er hatte noch nicht gegessen. Seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Nahrung zu holen. Und wie stirbt er!
Gehen wir also zu unserem Herrn, betrachten wir ihn, ahmen wir ihn nach. Er hat als Erster die Armut gewählt, er hat uns als Erster dafür das Beispiel gegeben.
O Herr Jesus, mach uns arm im Herzen, arm im Geiste, aber reich an deiner heiligen Liebe und wie du uns versprochen hast, reich an Ruhm im Himmel! Amen.