11. Vortrag: Über die Keuschheit
Samstag, 16. September 1876
Meine Kinder, das dritte Gelübde ist das Gelübde der Keuschheit. Die alten Autoren leiten das Wort Keuschheit (castitas) von einem lateinischen Wort ab, das Kastanie bedeutet (castanea). Wie dem auch sei, diese Etymologie enthält eine wertvolle Information. Wenn die Kastanie auf dem Baum ist, ist sie von einer stacheligen Hülle umgeben, die sie beschützt. Niemand wacht es, sie zu berühren. Ebenso muss sich die Keuschheit mit einer Art Schutz umgeben, der verhindert, sich der Sinne zu bedienen, um das Böse zu tun. So ist es die Keuschheut der Ohren, Schlechtem nicht zuzuhören, die der Augen, Unbescheidenes nicht zu betrachten, die der Lippen, unziemliches oder frevelhafte Worte nicht auszusprechen. Die Keuschheit bewirkt, dass wir uns mit einer Schranke umgeben, damit sich unsere Sinne in der Sünde nicht gehen lassen zu etwas, das der liebe Gott verboten hat. Die Keuschheit ist für alle Christen verpflichtend, aber vor allem für die Nonnen. Sie besteht darin, die Sinne zu hüten, seinen Körper zu hüten, ihn von allem Fern zu halten, das durch das göttliche Gesetz verboten ist.
Diese Tugend wird uns durch das Gebot Gottes, die Ordensregel des heiligen Augustinus und des heiligen Franz von Sales empfohlen. Die Ordensregel sagt, dass es den Nonnen verboten ist, sich irgendeine natürliche Zuneigung zu gewähren. Alles, was ihrerseits die Aufmerksamkeit anziehen könnte, und wenn es nur ein einfacher gegebener oder angenommener Blick wäre, ist auch verboten. Ihr versteht das, meine Kinder, ihr versteht wohl die große, absolute Verpflichtung dieser Tugend. Durch die Gnade Gottes möchte man da nicht fehlen, aber man hat eine gewisse Selbstsuche, die nicht fehlerfrei sein kann. Infolge einer großen Zuneigung zu sich selbst ist man bereit, sich betrachten zu lassen, also wird man schuldig. Obgleich man keine schlechte Absicht hatte, hat man sich ausgesetzt.
Die Keuschheit ist eine Tugend, die uns von allen Seiten umgeben muss, um uns vor uns selbst und den Blicken der anderen zu verbergen. Sie stellt unsere Seele umso mehr unter den Blick Gottes und der Engel, je mehr sie uns vor den Blicken der Menschen verbirgt. Die Sinnlichkeit, der Stolz, die Eigenliebe, sie verlieren sich an die Welt und ziehen den Fluch Gottes an. Und wenn Gott nicht immer öffentliche Strafen schickt, wie er es für die sündigen Städte tat, von denen die Heilige Schrift spricht, so schickt er persönliche, die beträchtlich sind. Man kann nicht Pech oder Kot berühren, ohne sich zu beschmutzen. Es bedarf also einer großen Aufmerksamkeit, einer großen Vorsicht.
Meine Kinder, seid in den Beziehungen zu den Mädchen sehr keusch, sehr zurückhaltend. Achtet, sie nicht zu viel sagen zu lassen unter dem Vorwand, dass sie ihr Herz öffnen müssten. Wenn man ihnen zuhörte, wäre man so die Ursache, dass sie ein ungesundes Vergnügen empfinden würden, wenn sie davon sprechen. Seid also umsichtig, vorsichtig, dass sie die Dinge nicht zu ausführlich beschreiben, nicht in die Einzelheiten gehen. Man soll nicht ihre Prüfung in dieser Hinsicht machen, sie nicht alles sagen lassen. Sie sprechen oft, um euch zu sagen, was ihr nicht wisst, oder um zu sehen, ob es euch Vergnügen bereitet. Sagt ihnen also, sie sollen sich dieser Fehler in der Beichte anklagen. Man soll sich nicht mit den Dingen beschäftigen, die den Versucher betreffen. Doch es kann Fälle geben, wo ein Mädchen in dieser heiklen Sache einen Rat braucht. Wenn man ihn ihr gibt, wenn man dazu imstande ist, kann man ihr einen großen Dienst erweisen. Wenn ihr sehr treu seid, werdet ihr die Gnade bekommen zu erkennen, was gemäß den Umständen angebracht ist. Um den Mädchen den Schrecken, das Fernhalten von diesen Dingen einzugeben, müsst ihr selbst von diesem Gefühl durchdrungen sein. Das ist der erste Grad eures Gelübdes, sehr rein, sehr keusch mit euch selbst und mit den Mädchen zu sein, um ihnen nie Gelegenheit zu geben, zu den Fehlern dieser Art zurückzukehren.
Was euch persönlich betrifft, meine Kinder, wacht gut über eure Gedanken, eure Neigungen. Eine Nonne hat unseren Herrn als Gegenstand ihrer Zuneigung erwählt. Sie kann eine Zuneigung zu ihrer Oberin, ihren Mitschwestern, den Mädchen haben, aber sie muss vermeiden, es nach Außen hin zu zeigen. Eine Nonne muss darüber wachen, in keiner ihrer Handlungen gegen ihr Gelübde der Keuschheit zu fehlen. Sie muss darauf achten, ohne Skrupel und Gewissensanstrengungen, sondern ganz einfach. In allen Dingen muss man sehr heikel nach außen sein, sehr heikel mit sich selbst. Beim Aufstehen und beim Niederlegen muss man die Regel einhalten, sehr keusch, sehr bescheiden sein, denken, dass man in der Gegenwart Gottes ist und dass man den guten Engeln große Achtung entgegenbringen muss.
Vor den Kindern muss man alles vermeiden, das nicht der Ordensbescheidenheit entspricht. Es darf in der Nonne weder diese Worte noch diese Haltung geben, die wenig Harmonie fühlen lassen. In der Haltung der Nonne, in ihren Gesten, ihren Gesprächen muss alles geregelt sein. Wer lacht schallend? Es sind die Personen ohne Erziehung, leichte und unbedachte Personen. Möge man nie dieses lange, unangebrachte Lachen hören. Es muss die Nonne in ihrer ganzen Handlungsweise, in ihrer Art zu gehen, ihre Arme zu halten, große Achtung vermitteln. Das ist sehr viel! All das behindert zwar, aber die Keuschheit muss von Stacheln umgeben sein, das heißt mit Dingen, die nicht immer nach unserer Vorstellung gehen.
Meine Kinder, eure Beziehungen zu den Leuten in der Welt, zu den Geistlichen müssen sehr zurückhaltend sein. Eure Worte dürfen von keinem Anspruch zeugen. Vermeidet die Zudringlichkeit, jedoch ohne ins Lächerliche zu verfallen. Es entsetzt, Nonnen zu sehen, die kühne Blicke aussenden. Man muss Vertraulichkeit vermeiden. Wenn man schaut, soll man den Kopf nicht zu sehr heben und einen einfachen, herzlichen, sehr frommen Blick haben. Die Heiligen hatten einen sehr schönen Blick. In den ersten Jahrhunderten beschworen die Apostel die Christen, die Bescheidenheit unseres Herrn nachzuahmen. Im Französischen bedeutet das Wort Bescheidenheit (modestie) eine Zurückhaltung, eine Art Rückhalt an Offenherzigkeit. Im Lateinischen besagt es gemäßigt, zurückhaltend (modestus). Man muss in seinen Blicken, seinen Handlungen angemessen sein. Wenn sich da einige verbessern müssen, dann sollen sie genau darauf achten. Da hilft vor allem die Einfachheit der Seele. Im Sprechzimmer muss man sich bei den Personen, mit denen man dort ist, gut beobachten. Man muss sehr zurückhalten sein. Der heilige Franz von Sales lehrte es uns durch seine Beispiele und seine Schriften.
Meine Kinder, die Exerzitien waren sehr gut. Es tut mir leid, dass ich euch nicht sagen konnte, was ich noch alles gewollt hätte. Wir werden im Laufe unserer Gespräche darauf zurück kommen. Merkt euch gut, was ich euch gesagt habe, übt es sogleich aus; später werdet ihr den Eifer verloren haben, der euch heute belebt.
Möge unser Herr, der einzige König der Jungfrauen, der heilige Augustinus, euer seliger Vater, die heiligen Schutzpatrone euch bis zu dem Tag führen, wo ihr zum Festmahl der Gemahlinnen des Königs eingeführt werdet, von denen gesagt wird: „Sie werden dem Lamm überall hin folgen, wohin es gehen wird, sie werden ein Lied singen, das nur sie allein singen können. Das Lamm wird ihnen einen Namen geben, der ihnen alle Liebe kundtun wird, die es für sie hat.“ Dieses Glück wird eines Tages euch allen zuteil werden, meine Kinder, wenn ihr treu seid. Amen.