10. Vortrag: Über den Gehorsam zur Oberin
Freitagabend, 15. September 1876
Heute Vormittag, meine Kinder, sprach ich über den Gehorsam, der sich auf die Ordensregeln, das heißt auf unseren Herrn bezieht, da die Ordensregel der Ausdruck seines Willens ist. Aber wir haben nicht nur der Ordensregel zu gehorchen, wir haben auch den Personen zu gehorchen, die uns durch die Ordensregeln gegeben sind, um uns zu befehlen. Der Gehorsam soll nicht nur der Ordensregel, den Satzungen und dem Direktorium erwiesen werden, sondern auch der Oberin und den Amtsschwestern, die uns in den verschiedenen Beschäftigungen anvertraut sind. Ich werde also heute Abend zu euch über den Gehorsam sprechen, den man der Oberin entgegenbringt, die die Gnade hat, unsere Seelen zu lenken.
Das Kapitel hat eine Oberin gewählt. Gott legt in die Hände der Gewählten die Autorität für die Heiligung der Seelen. Der Gehorsam, der ihr zusteht, soll sehr weitreichend, sehr absolut sein. Dieser Gehorsam ist nicht immer leicht. Er kostet etwas, er verursacht Verwirrungen, Mühen, Abneigungen. Wenn das nicht so wäre, wäre es nicht der Mühe wert, das Gelübde dafür abzulegen. Wir verpflichten uns, etwas zu machen, das wir aus uns selbst nicht machen würden. Wir zwingen uns dazu durch das Gelübde, das wir abgelegt haben. Unsere Seele schenkt sich ganz, unseren Willen können wir nicht mehr frei ausüben, er muss sich von nun an ganz dem Gehorsam unterwerfen.
Wir muss man der Oberin Gehorsam erweisen? Man muss ihn mit großer Achtung erweisen und denken, dass man nicht dem Geschöpf gehorcht sondern Gott. Dieser Gehorsam soll einfach, ganz, absolut sein, das heißt, dass wir jedes Mal, wenn die Oberin befiehlt, gehorchen müssen. Es kann manchmal vorkommen, dass sie ihre Befugnisse überschreitet. Wenn wir aber gut den Geist der Ordensregel besitzen und Gott treu sind, wird er nicht zulassen, dass sie uns schlecht oder unangebracht befiehlt. Wir müssen also nur einfach und herzlich gehorchen.
Der Gehorsam, den wir der Ordensregel erweisen, ist verdienstvoll, aber der, den wir der Oberin erweisen, ist es noch mehr, weil er uns mehr kostet. Er streift oft an unserer Eigenliebe und lastet auf uns mit einer schweren Bürde. Es kann vorkommen, dass wir gegen den Gehorsam zur Ordensregel fehlen, ohne dass wir es merken, aber das ist beim Gehorsam, den wir der Oberin erweisen, kaum möglich. Man muss sich da also ein großes Pflichtbewusstsein erlernen.
Wenn die Oberin dies oder jenes in unserer Beschäftigung ändert, uns dies oder jenes befiehlt, das uns fast unmöglich erscheint, ist es unsere Pflicht zu gehorchen. Sie befiehlt uns in dieser oder jener Art, machen wir es. Aber es wäre besser, es anders zu machen? Wer sagt das zu euch? Eure Eigenliebe, eure Selbstgefälligkeit. Ihr wisst nicht, ob eure Idee besser ist als ihre, und selbst wenn sie mehr wert wäre, müsst ihr trotzdem gehorchen, denn für euch geht es nicht darum, eurer Idee zu folgen, sondern nur zu gehorchen, wie es die Ordensregel sagt, und wie ihr es gelobt habt. Ist dieser Gehorsam sehr hart, sehr schmerzhaft? O nein, meine Kinder! Er ist hart, wenn ihr den Menschen gehorcht, sagt der Apostel. Das heißt, wenn ihr euch dieser oder jener Person unterwerft und nicht Gott, aber wenn ihr eurer Oberin gehorcht, indem ihr Gott in ihr seht, gehorcht ihr Gott.
Eines Tages fragte der Bischof von Belley den heiligen Franz von Sales, ob man den Oberinnen gehorchen müsse, wenn sie schroff und hart sind. Sie gingen spazieren und kamen an einer Quelle voll reinem und klarem Wasser vorbei. Das Wasser, das hervorsprudelte, bildete einen kleinen Bach, der schließlich durch das Fließen trüb und schmutzig wurde. „Nun gut“, sagte ihm unser seliger Vater mit einem Lächeln auf den Lippen, „diese kleine Quelle, die Sie soeben sehen, ist der mit Milde gegeben Gehorsam. Das Wasser kommt sanft heraus, es ist klar, es ist schön und gut. Aber wenn es ein wenig geflossen ist, ist es trüb und verdorben. Das sind die sanften und guten Oberinnen. Aber wenn man anstelle der kleinen Quelle einen großen Brunnen aus Bronze errichtete und darauf Löwen oder Hydren setzte, die das Wasser aus dem Mund speien, glauben Sie, dass dieses Wasser weniger gut, weniger frisch, weniger klar wäre als das der kleinen Quelle, und dass es ebenso schnell trüb und verdorben würde? … Gewiss nicht. Nun,“ setzte der heilige Franz von Sales fort, „die sanften und guten Oberinnen sind die kleine Quelle, die harten und strengen Oberinnen sind aus Bronze, deren Wasser immer sehr frisch ist, nicht schmutzig wird und immer rein bleibt. Ob nun der Befehl um ein wenig sanfter oder ein wenig härter gegeben wird, es fließt immer das Wasser der Gnade über unsere Seele.“
Meine Kinder, wenn ihr den Befehl gut annehmt, wenn er ein wenig härter und strenger ist, gebt ihr der Tugend des Gehorsams diese Kraft, diesen Charakter, der die Gnade rein und klar macht. Fürchtet also nicht, dass in dem, das ihr empfangt, der Schmutz der menschlichen Erwägung ist, von dem unser seliger Vater spricht, denn das verschmutzt das Wasser, während es von der Bronze nicht beeinträchtigt wird, es kommt ungetrübt heraus und bleibt rein und klar. Das besagt, meine Kinder, dass wir immer gleich gut gehorchen müssen, ob uns nun sanft oder hart befohlen wird, und dass wir den Gehorsam gut annehmen müssen, der uns gegeben wird, von wem er uns auch zukommt. Es ist besser, wenn es hat ist, denn wenn der Gehorsam von Personen kommt, die wir lieben, kann sich der Sand der Eigenliebe und der Schmutz der natürlichen Zuneigung einmischen.
Der heilige Franz von Sales wollte, dass man schnell, einfach und herzlich gehorcht. Macht das, meine Kinder, und ihr werdet groß gewinnen. So seid ihr zum Beispiel gewöhnt, dies oder jenes zu tun, und dann sagt man euch, etwas anderes zu machen, macht es. Glaubt ihr, dass dies eure Arbeit verderben wird? O nein! Gehorcht, und ihr werdet viel mehr Früchte ernten als von dem, das eurem Geist gefallen und ihm verständlich sein könnte. Meine Kinder, blinder Gehorsam muss so weit gehen, dass ihr etwas macht, das euch unvernünftig scheint. Seid also gehorsame Kinder, seid sehr eifrig in der Übung dieser Tugend. Wenn es mir die Zeit erlaubte, könnte ich euch viel erzählen, um zu untermauern, was ich sagte. Gehorcht einfach, herzlich und mit viel gutem Willen. Der so erwiesene Gehorsam ist sanft und gut für die Seele, er nährt sie. Wenn ihr einen Gehorsam auszuführen habt, der euch etwas kostet, beruhigt eure Seele, schenkt sie ganz dem lieben Gott und erinnert euch an den Brunnen, von dem der heilige Franz von Sales spricht. Verfahrt ihr so, dann werdet ihr sehen, wie glücklich ihr sein werdet. Ihr werdet also leichter zu Füßen unseres Herrn gelangen, der im heiligen Sakrament gegenwärtig ist, und ihr werdet erfahren, wie gut er zur Seele ist, die treu gehorcht.
Meine Kinder, bittet den gehorsamen, den bis zum Kreuz gehorsamen Jesus auch bis zum Tod zu gehorchen. Jesus gehorchte seinem Vater bist zum Kreuzestod! Er gehorchte ihm in dem Befehl, dem ihm die Menschen gaben, das Kreuz zu tragen, sich daraufzulegen. Doch sein Vater sagte es ihm nicht direkt. Jesus gehorchte denen, die ihn kreuzigten! Wir brauchen nicht denen zu gehorchen, die uns kreuzigen. Wenn uns der Gehorsam manchmal ein wenig kreuzigt, ist diese Kreuzigung nicht sehr hart, und indem dies unsere Heiligung bewirkt, soll es uns zum ewigen Leben führen.
Ihr werdet euch an diesen Vortrag erinnern, meine Kinder, und ihr werden den Vorsatz fassen, sehr herzlich allem zu gehorchen, das euch gesagt werden wird. Damit euch der Gehorsam weniger mühevoll ist, denkt an den Gehorsam unseres Herrn. Gehorcht wie er, und ihr werdet ihm nahe kommen! O, wie glücklich werdet ihr im Augenblick des Todes sein, wie sanft und gut wird er für euch sein, wenn ihr während der wenigen Tage, die ihr auf Erden verbrachtet, gut gehorchtet, und wie groß wird euer Lohn im Himmel sein! Wie Gott den Heiligen nichts abschlägt, die im Himmel sind, schlägt er auch denen nichts ab, die ihm auf Erden gehorchen. Versteht das, meine Kinder, gehorcht gut während der paar Jahre, der paar Tage eurer Pilgerschaft hier herunten. Und nachdem ihr mutig auf dieser Erde gewandert seid, werdet ihr in den Glanz der ewigen Stadt eintreten. Dann werdet ihr nicht mehr gehorchen, der Herr wird sich irgendwie zu eurem Diener machen bei diesem himmlischen Festmahl, wo er selbst euch mit seinen göttlichen Händen bedienen wird.
Gehorcht also mit Liebe und unser Herr wird euch nicht nur sein Glück, seinen Gehorsam geben, sondern ihr werdet auf Thronen sitzen, um während der ganzen Ewigkeit zu befehlen, und euer Kopf wird mit einer Krone geschmückt werden, die umso schöner sein wird, als ihr besser gehorcht haben werdet. Ich wünsch sie euch aus ganzem Herzen, und ich segne euch im Namen des Vater und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.