Exerzitienvorträge für die Oblatinnen September 1874

      

7. Vortrag: Über die Betrachtung

Donnerstag Vormittag, 17. September 1874

Meine Kinder, zu den Pflichten einer frommen Seele und vor allem einer Oblatin des heiligen Franz von Sales zähle ich ganz besonders die Betrachtung, die wahrhaftig unser Leben, unser Wesen ist. Die Betrachtung ist für unseren Tag, was die heilige Kommunion für die Heilige Messe ist. Sie soll unsere gewohnheitsmäßige Nahrung, unsere alltägliche geistige Nahrung sein.
Ist die Betrachtung eine sehr schwierige Übung? Keineswegs, außer für eine Person, die die richtige Art die Betrachtung zu machen, nicht kennt. Man hält sich beim lieben Gott auf, man langweilt sich nicht. Ebenso wie er sich nicht bei uns langweilt, wenn wir ihm nichts sagen können, ebenso dürfen wir uns nicht langweilen, in seiner heiligen Gegenwart zu sein. Es gibt in der Welt einen bedauernswerten Irrtum, der durch gewisse Bücher verbreitet wird, die die Seelen auf einen Weg führen, der für viele mühsam ist. Heute können viele Personen der Welt, sogar Priester keine Betrachtung machen. Man macht Überlegungen: man nimmt ein Buch, man liest zwei Seiten, man denkt darüber nach und oft macht man leider gar nichts.
Wenn ihr zu unterrichten habt, wenn ihr Katechismus unterrichtet, Unterweisungen haltet, werdet ihr es machen, meine Kinder, wie ich es euch erklären werde. Nehmt die Methode der heiligen Jungfrau, des heiligen Franz von Sales, die Methode vieler Heiliger. Versteht mich gut. Bringt euer Herz, euer Gedächtnis zu unserem Herrn. Die Betrachtung ist ein Gespräch der Seele mit ihm. Wir erzählen ihm von uns, von den Dingen, die uns betreffen, von unserem Gewissen, unseren Bedürfnissen, Wünschen, Pflichten, von unserer Gesundheit. Wir erzählen alles dem lieben Gott und das herzlich, liebevoll. Wir halten uns ganz nahe bei ihm auf. Das ist die Betrachtung. Es bedarf nicht sehr gelehrter Methoden, um seine Betrachtung zu machen; mit diesen Methoden läuft man Gefahr, die Seele von Gott zu trennen. Ihr werdet mich wohl verstehen: Gott ist Geist und Liebe und der Teufel ist nur Geist, Gott hat ihm die Liebe genommen. Man muss also nicht nur durch den Geist, sondern vor allem durch das Herz zu Gott gehen. Die Methoden der Betrachtung sind gut für gewisse Personen, die vor allem durch den Geist leben; aber wir übernehmen die Methode unseres seligen Vaters. O, wie liebt ihn unser Heiliger Vater, der Papst! „Welche Macht hat der heilige Franz von Sales“, sagte er mir, „um die Seelen an Gott zu binden.“ Bemerkt, der Papst sagte nicht, um den Geist zu binden, sondern um die Seelen, die Herzen zu gewinnen. Wohlan! Wir folgen seiner Methode, auf dass sie die unsere werde.
Ich glaube, dass ihr mich versteht. Die Betrachtung ist ein Gespräch mit Gott. Wir zeigen ihm unsere Bedürfnisse, unser Elend, unsere Schwierigkeiten, unsere Gebrechen, unsere Abscheu, unseren Widerwillen. Begeben wir uns zu unserem Herrn. Sprechen wir zu ihm über das, was wir ihm zu sagen haben. Bereiten wir unseren Tag gut vor, sehen wir die Umstände voraus, die uns in diesen Fehler, den Ungehorsam, die Abscheu vor der Unterwerfung unseres Willens fallen lassen. Prüfen wir, was für uns eine Gelegenheit zur Sünde sein wird. Sagen wir unserem Herrn: „Hier bin ich in deiner Gegenwart, Herr, sieh, was ich brauche. Ich bin deinem göttlichen Herzen ganz nahe. Hast du mir je etwas verweigert? Ich bin nur Staub und Asche, ich bin deiner Gnade unwürdig, und was ich dir sage, ist sehr kalt; aber du hast mich erwählt, mein Gott, um ganz dir zu gehören!“ So muss man Betrachtung machen.
Ihr werdet besser verstehen, meine Kinder, was ich euch soeben sagte, wenn ich hinzufüge, dass es außer dieser Art der Betrachtung noch die Beschauung gibt. In der Beschauung ist man vor dem lieben Gott mehr für ihn als für sich. Man spricht mit ihm über das, was ihn betrifft. Unsere Seele spricht von Gott. Man ist für ihn vor ihm; man spricht mit ihm über seine Passion, seinen Tod, seine Allmacht, seine Güte; man betrachtet seine göttlichen Mysterien; die Seele erhebt sich zu Gott. Diese Betrachtung ist also sehr gut. Es gibt Bücher, die die Beschauung, die die Seele durch die Intelligenz, den Willen zu Gott erhebt, behandeln. Die Beschauung ist Liebe, aber sie ist keine Gewohnheit, sie ist nicht allen Seelen eigen. Eine Seele, die zur Beschauung getragen wird, dringt bis in die Geheimnisse Gottes vor. So sehen wir, dass der heilige Paulus in einer Beschauung in den dritten Himmel erhoben wurde. Er sagt uns, dass das Auge nie sah, das Ohr nie hörte und kein Menschenherz je fühlte, was den Erwählten des Herrn vorbehalten ist.
Die Beschauung ist also ein Gespräch mit Gott über ihn selbst und die eigentliche Betrachtung ein Gespräch über uns. Im Allgemeinen sind die Kinder des heiligen Franz von Sales keine Kinder der Beschauung, es sind eher Kinder der Betrachtung, die zu Gott vom Grunde ihres Herzens sprechen und sich wie kleine Kinder bei ihm aufhalten. Das ist unser gewohntes Leben. Für die Oblatinnen soll das Leben eher ein Leben der Betrachtung als ein Leben der Beschauung sein.
Meine Kinder, sehr in eurer Betrachtung am Morgen, was euch fehlt, was ihr braucht, welche eure Fehler, eure Versuchungen, eure Leidenschaften sind; sehr die Tugenden, die ihr zu erwerben habt. Haltet euch ganz nahe bei unserem Herrn. Ihr seid da bei ihm in seinem Sakrament der Liebe, sprecht zu ihm einfach und herzlich. Geht also zum Herzen Jesu, zu dieser Quelle der Liebe, gebt euch ganz und sprecht zu ihm wie die heilige Jungfrau, der heilige Josef in Nazaret, wie Magdalena. Sprecht zu ihm wie der heilige Petrus, wenn er sich nach einem langen Marsch durch die Felder Judäas bei ihm ausruhte. Macht es wie sie. Deshalb sage ich, dass es für euch vorteilhafter ist, in der Verwendung der Bücher, die die Betrachtung behandeln, gemäßigt zu sein. Ich bin keineswegs dagegen, dass man am Abend den Punkt der Betrachtung liest; man kann daraus immer einen gewinnbringenden Gedanken sammeln. Hören wir darauf, und wenn uns das nichts gibt, gehen wir an die Betrachtung mit dem, was wir im Herzen haben. Wenn wir mit jemand sprechen, nehmen wir keine Zeitung! Warum sollen wir Gott anders behandeln, als wir einen Freund behandeln würden, der uns besuchen kommt! Heute hoffe ich, dass euch das Herz Jesu gut verstehen lässt, was ich euch sagte.
Meine Kinder, wir werden die Beichte beginnen. Erinnert euch, was ich euch über die Gelübde sagte. Prüft, ob ihr auf der Höhe eures Standes seid, bezieht es in eure Gewissenserforschung ein.
Unser Herr möge eure Seelen segnen und euch geben, mit Gott zu sprechen wie er auf dem Berg. O Jesus, segne uns, damit wir heute und alle Tage unseres Lebens treu sind! Amen.