4. Vortrag: Über die Dankbarkeit zu Gott für die Ordensberufung
Dienstag Abend, 15. September 1874
Meine Kinder, heute Vormittag hatte ich euch eine sehr reichliche Nahrung für eure geistliche Sammlung gegeben, um den Tag zu verbringen. Ihr hattet über die Gelübde, die wesentlichen Pflichten eures Standes zu meditieren. O meine Kinder, wie sind wir glücklich! Wir gehören zu denen, die Gott unter den Gläubigen auszeichnete, wir gehören zu den Engeln im Himmel! Es ist der Anteil von Maria, Marta, den Erwählten des Herrn Jesus. Es ist der Anteil der Kinder Israels, und Gott gab ihnen keinen anderen. Die heilige Jungfrau sagte in ihrem Magnificat: „Suscepit Israel puerum suum“ „Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen“ (Lk 1,54). Es wurde den anderen Völkern nicht gegeben, an den Kindern Israels Anteil zu haben. Er hat Israel in sein Herz genommen. Es ist sein kleines Kind, das er in seinen Armen hält. Und wie liebevoll! Was für eine Liebe ist das? Es ist die, welche er Abraham, unserem Vater, versprochen hat. Und unser Abraham ist der heilige Franz von Sales. Sie ist für die Seelen, die seinem Weg folgen: Sicut locutus es ad patres nostros, Abraham, et semini eius in saecula – Wie er unseren Väter verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. (Lk 1,55).
Ihr seid also sehr glücklich, meine Kinder. Heute Abend vor dem Einschlafen dankt Gott, preist ihn, dass er euch erwählt hat. In diesem Gefühl der Danksagung sollt ihr einschlafen.
„Herr, wozu würden mir alle Kronen der Erde dienen? Deine Herrschaft, o mein Gott, ist eine Herrschaft der Liebe. Dein Blick ist das Leben, er ist alles für mich! Ein einziger Blick von dir, Herr, ist mir mehr als der Himmel, er ist hundert Mal, tausend Mal mehr wert als der Himmel! Die Ewigkeit wird nicht lange genug sein, um für die Wahl zu danken, die du für mich getroffen hast! Du hast mir gesagt: Komm, und ich bin gekommen. Wir preisen dich, Herr, dass du uns erwählt, berufen hast!“
Verweilen wir in diesen Gefühlen, meine Kinder. Nähren wir damit unsere Seele. Sie werden uns für die Vorbereitung auf den Tag dienen, sie werden uns zu einer guten Beichte bringen, und unser berührtes Herz wird seine Untreue lebhafter fühlen.
So wird sich also heute Abend unsere Seele in diesem Gefühl der Liebe ausruhen und sagen: „Wer bin ich, o mein Gott, dass du mich gerufen hast, um dich mir zu schenken? Wer bin ich, dass du mich mit einem so liebenswerten, so süßen Namen riefst? Sag mir, o mein Gott, habe ich denn mehr gemacht als eine andere, habe ich dich weniger beleidigt? Ach! Würde ich meine Seele mit der einer Person der Welt vergleichen, wäre dann mein Gewissen reiner, mein Wille gerader, aufrichtiger? Wäre der Charakter dieser Person nicht ausgeglichener als meiner? Wäre seine Seele nicht frommer, weniger lau, weniger kalt als meine? … Habe ich dich gewählt? Nein, du bist es, Herr! Ich will mich dir schenken, aber dieser Wunsch ist sehr schwach, ich zögere. Ich frage mich manchmal: Ist das wohl meine Berufung? Muss ich darauf verzichten? Muss ich mich noch der Liebe der Welt, der Liebe meiner selbst oder dir, Herr, hingeben? … Wie bin ich arm und schwach! Ich möchte wohl das Geheimnis deines Herzens kennen, welche Motive, welcher Beweggrund, welche Sichtweisen ließen dich so mit mir handeln? Du erwähltest mich unter Tausenden, unter Zehntausenden! …“
Meine Kinder, wir finden in der Ewigkeit nicht genügen Zeit, um den lieben Gott für das zu preisen, was er für uns getan hat. Wir sind so arm, so schwach, so unwissend, so materialistisch, dass wir das nicht verstehen. Nun, ich sage es euch, wenn man nur eine Minute den Blick Gottes sehen könnte, wenn er eine Seele zum Ordensstand und zum Priestertum beruft, wenn man diese Gnade verstehen könnte, wenn er die Berufung gibt, würde man daran sterben. Man könnte den Eindruck der Liebe nicht aushalten, dieses Gut der göttlichen Liebe, so tief und stark ist die Liebe, die Gott dazu bestimmte, so mit uns zu handeln. Die Seele könnte diesen Augenblick der Gnade nicht ertragen. Sie würde die Bande zerreißen, sie würde sich von ihrem Körper trennen! Meine Kinder, wir verstehen unseren Herrn nicht, wir sind kalt, gleichgültig.
Herr, du bist hier in deinem Tabernakel verborgen und wir sehen dich nicht! Du bist in deinem Tabernakel verborgen und wir hören dich nicht! Du bist in deinem Tabernakel verborgen und wir fühlen dich nicht! Lass uns verstehen, o mein Gott, was es heißt, ganz dir zu gehören. Gib uns dein Licht beim Segen heute Abend, während du auf dem Altar sein wirst, lass uns dich verstehen, dass wir dich fühlen, dass wir dich hören, dass wir dich sehen.
Wie möchte ich alle Seelen der Personen nehmen können, die hier sind, die mir zuhören, alle Gedanken der Engel und der Heiligen, um dir zu danken, Herr! Das wäre nicht genug! Ich möchte verstehen, was in deinem Herzen an Liebe ist durch diese Wahl. Ich werfe mich nieder, ich bete an, ich bitte …
Lass mich, o mein Gott, lieben, was du liebst, das sich will, was du willst, dass ich verstehe, was du verstehst! Dein Gedanke sei mein Gedanke, deine Handlung meine Handlung. Wie der Blinde des Evangeliums werde ich dir sagen: Mache, dass ich sehe! Und wie der heilige Paulus: Dass ich die Höhe, die Tiefe und die Weite deiner Liebe zu mir verstehe, o mein Gott! Du wirst mir dein Licht mitteilen, zu mir sprechen, und meine Seele wird aufmerksam sein. Es wird nicht das geringste Geräusch sein, alles um mich herum wird still sein. Möge deine Stimme hörbar werden und ich werde sagen: „Ich habe deine Stimme gehört, du sagtest: Komm, und da bin ich, ich bin gekommen, nur um deinetwegen! Mögen dein Leben und mein Leben nur ein Leben sein, nicht zwei getrennte Leben, sondern ein einziges Leben! Ich bleibe da, Herr, ich will nur mehr für dich lieben und atmen. In dir werde ich lieben und anbeten, heute, alle Tage meines Lebens und bis zum großen Tag der Ewigkeit.“ Amen.