Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1873

      

5. Vortrag: Über die Betrachtung

Mittwoch Vormittag, 24. September 1873

Meine Kinder, wie soll eine Oblatin des hl. Franz von Sales betrachten? Die Betrachtung ist das Leben einer Nonne. Eine Nonne ohne Betrachtung ist eine Nonne, die anders gekleidet ist als die anderen, sie ist wie ein Körper ohne Seele. Eine Oblatin des hl. Franz von Sales soll eine Tochter der Betrachtung sein. Ihr sollt von morgens bis abends betrachten. Was heißt betrachten? Betrachten heißt ständig in der Gegenwart Gottes, in allen Handlungen mit ihm vereint sein. Übrigens zeigen es euch die Ordensregeln und das Direktorium gut, denn der heilige Franz von Sales gab euch für alle Augenblicke des Tages Gedanken zu fassen, um euch ständig in die Gegenwart Gottes zu versetzen und euren Geist wieder zurückzubringen, wenn er sich aus ihr entfernt. Unser seliger Vater kennt keine Nonne ohne Betrachtung.
Wie soll eine Oblatin betrachten? Für diejenigen, die es noch nicht können, für diejenigen, die in die Gemeinschaft kommen, die von der Welt kommen, ist es notwendig, dass man es sie lehrt, denn gewöhnlich kann man in der Welt nicht betrachten. Diese Seelen können einen Umstand oder ein Geheimnis des Lebens unseres Herrn nehmen, ihn sich in seinem Leiden, seiner Geißelung, seiner Kreuzigung vorstellen und eines dieser Themen betrachten. Sie können sich auch an alle Gnaden erinnern, die ihnen der liebe Gott im Laufe ihres Lebens zur Zeit ihrer Erstkommunion, im entscheidenden Augenblick ihrer Berufung zuteil werden ließ, ihm für die Gefahren danken, die sie überstanden.
Meine Kinder, um die Betrachtung zu lernen und um sie anderen zu lehren, könnt ihr euch der Kapitel bedienen, die in der Anleitung zum frommen Leben des heiligen Franz von Sales vom inneren Gebet handeln. Ich wünsche, dass ihr alle dieses Buch kennt.
Ich spreche jetzt für diejenigen, die es bereits können. Man liest am Abend einen Gebetspunkt; denkt daran, erinnert euch daran schon am Morgen, vor allem im Augenblick, wo ihr diese heilige Übung beginnt. Wenn euch der Punkt, den ihr gehört habt, etwas Gutes eingibt, betrachtet ihn; haltet euch vor dem lieben Gott sehr klein, die Letzte von allen. Wenn ihr nichts fühlt, betrachtet eines der Geheimnisse der Passion oder ein anderes Thema, von dem ihr euch am meisten angezogen fühlt. Wenn wir vor dem lieben Gott sind, sollen wir viel von ihm und wenig von uns sprechen.
Was jene betrifft, die Schwierigkeiten bei der Betrachtung haben, die zerstreut sind, die Trockenheiten spüren, deren Vorstellungskraft nach rechts und nach links geht, so sollen sie sanft ihren Geist, ihre Gedanken zum lieben Gott zurückführen, indem sie ihm sagen: „O mein Herr, bewahre meine Gedanken, meine Vorstellungskraft gut bei dir. Hüte wohl diese kleiner Herde meiner Gedanken, o geliebter Hirte, getreuer Hirte! Früher opferte man die Lämmer, Tiere ohne Vernunft; wohlan, ich opfere dir in diesem Augenblick meine Gedanken, die ebenfalls unvernünftig sind.“
Besucht auch unseren Herrn im Tabernakel der Liebe. O, meine lieben Töchter, dort seid ihr ihm ganz nahe. Er hört euch dort nicht nur zu, er hört auch eure Seufzer und alles Sehnen eures Herzens. Er sieht alle eure Veranlagungen, er segnet und stärkt sie.
Schließlich muss man sich bei der Betrachtung, wo der liebe Gott nichts sagt, nichts gibt, bei ihm, bei seinem Kreuz halten. Manchmal sehen wir ihn nicht einmal mehr am Kreuz. Dann erscheint es uns sehr kalt, sehr hart zu sein! Aber bleiben wir dennoch dort, lieben wir es, dieses Kreuz. An manchen Tagen wäre man versucht, nicht die von der Regel vorgeschriebene Zeit zu bleiben: eine halte Stunde ist sehr lang, wenn man nichts erhält, und ihr könntet glauben, dass es besser wäre, die Betrachtung zu lassen und eurer Beschäftigung nachzugehen, dass es für euch nützlicher ist, etwas anderes zu machen. Lasst diese Täuschung hinter euch, meine lieben Töchter, das sind falsche Gedanken. Macht eure Betrachtung, wo ihr euch befindet, und glaubt nicht, eure Zeit verloren zu haben! Es ist eine halbe Stunde, die ihr dem lieben Gott geschenkt habt.
Wenn ihr in einem Augenblick der Versuchung, der Entmutigung seid, o meine lieben Töchter, geht zu unserem Herrn am Ölberg. Auch er musste seine Stunde der Angst als sehr lang empfinden! Bleibt bei ihm, sprecht mit ihm, sagt ihm, wie ihr seid, was ihr fühlt! Vereint euch mit ihm in allen euren Leiden.
Diejenigen, die viel in der Betrachtung empfangen, die Tröstungen erhalten, mögen also ihre kleinen Güter nützen und fruchtbar werden lassen. Mit einem Wort, sie mögen dem Geschenk des lieben Gottes sehr treu sein. Wenn sie von der Betrachtung kommen, sollen sie nicht in sich selbst nachforschen, warum dies, warum jenes, denn dann würden sie eitel Hervorragendes wünschen, und das verbietet der heilige Franz von Sales. Sie mögen ruhig bleiben wie die Taube am Bach, in dem reichlich Wasser fließt. Dort stillt sie ihren Durst, indem sie in langen Zügen von diesem hellen und klaren Wasser trinkt. Seid wie diese Taube, die einfach, liebevoll, sanft und treu ist. Gibt es etwas Einfacheres als diese Taube? Seid auch einfach in eurer Frömmigkeit, in eurer Art zu Gott zu gehen! O, wie mag der heilige Franz von Sales jene nicht, die nicht einfach sind, die nicht geradewegs zu Gott gehen! Die Taube ist liebevoll, seid also von einer zärtlichen und Gott ergebenen Liebe. Seid auch sanft zu euren Nächsten, zu euren Mitschwestern, in euren Aufgaben der Nächstenliebe, in euren Worten, in euren Beziehungen zu den Mädchen. Das Leben der Oblatin ist ein Leben ständiger Betrachtung und nicht nur ein Leben ständigen Handelns. Eure Handlungen sollen wir das Ausstrahlen eures Innenlebens sein. Die Sonne erzeugt das Licht und die Wärme, doch das Licht und die Wärme sind nicht die Sonne, aber sie beleuchten und erwärmen die Erde. Ebenso ist unser Leben ein Leben der Einheit mit Gott, der ständigen Unterhaltung mit ihm; es soll die Seele erwärmen, belehren, erleuchten. Aber es braucht diese Einheit, diese ständige Gegenwart Gottes, sonst werdet ihr nichts vermögen.
Unser Herr hat gesagt: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!“ (Lk 12,49). O, Herr Jesus, der du im Sakrament des Altares gegenwärtig bist, eingeschlossen in diesen Tabernakel der Liebe, ich bitte dich, segne diese paar Worte und mache sie selbst furchtbar für die selige Ewigkeit. Amen.