Exerzitienvorträge für die Oblatinnen 1873

      

4. Vortrag: Über das Gebet

Dienstag Abend, 23. September 1873

Meine Kinder, wir schreiten in unseren Exerzitien voran. Wir müssen auch in dem voranschreiten, was wir zu machen, zu sagen haben. Bis jetzt sprach ich zu euch über die innere Sammlung, die Abtötung und den Ordensgeist. Diese drei Dinge sind wie die Grundlage eurer Berufung, der Grundsein eurer geistlichen Treue. Es muss nun dieser Grundstein auf einem festen Untergrund ruhen. Worüber werde ich also heute Abend sprechen? Über das Gebet.
Wie soll eine Oblatin beten? Ihr findet es vielleicht sonderbar, dass ich euch diese Frage stelle, als ob eine Oblatin anders beten solle als die anderen Personen. Das Vaterunser, werdet ihr mir sagen, soll von einer Oblatin wie von jedermann gesprochen werden. Wir sehen nicht, welchen Unterschied es zwischen dem Gebet einer Oblatin und dem Gebet einer anderen Person geben soll. In der Heiligen Schrift, werdet ihr mir wieder sagen, sehen wir nichts Besonderes über die Art zu beten angegeben. Wohlan, ich sage euch, dass eine Oblatin nicht wie jedermann beten soll. Wer lehrt es uns? Es ist der heilige Franz von Sales, es ist seine Lehre, und die heilige von Chantal ist bei diesem Thema noch deutlicher.
Wenn ein Offizier oder ein Lakai mit seinem König sprechen will, oder wenn der Sohn des Königs mit seinem Vater sprechen will, ergreifen sie dann die gleichen Mittel, um zu ihm zu gelangen? Nein. Nun, auch ihr betet nicht wie jedermann. Ich werde mit dem Stundengebet der Kirche beginnen. Wie soll es eine Oblatin beten? Sie muss glauben, wenn sie ihren Vers beendet hat und der andere Chor ihr antwortet, dass ihr die Engel antworten, dass die Schwestern, die den Vers sprechen, die Stimmen der Engel sind. Als man den heiligen Johannes den Täufer fragte: „Wer bist du?“, antwortete er: „Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft: Ebnet den Weg für den Herrn!“ (Joh 1,23). Was ist eine Stimme? Das ist keine Person, das ist nicht jemand, das ist ein Ton. Es sind also die Schwestern wirklich die Stimmen der Engel, und ihr müsst daran denken. Eine Caritasschwester betreut ihre Kranken, das ist gut, das ist ihr Gebet; eine andere wird etwas anderes machen, das ist wieder gut. Aber für eine Oblatin ist es anders: sie wird ihr Ziel nur durch das Gebet und die Vereinigung mit Gott erreichen.
Was die Schwestern betrifft, die nicht das Stundengebet sondern die Vaterunser beten, müssen sie denken, dass die Engel auch den zweiten Teil ihrer Vaterunser sprechen. Wenn ihr euer Stundengebet privat betet, sollt ihr denken, dass euer guter Engel es ist, der mit euch betet und auf jeden eurer Verse antwortet.
Ihr seid verpflichtet, die Gedanken des Direktoriums zu nehmen, um euch an die Gegenwart Gottes zu erinnern. Wenn aber diese Gegenwart eine Gewohnheit für euch sein wird, braucht ihr sie euch nicht mehr extra bewusst zu machen. Wenn sich jemand bei euch in eurem Zimmer befindet, öffnet ihr auch nicht wieder die Tür, um ihn noch einmal hereinzubitten. Ebenso ist es mit der Gegenwart Gottes: wenn sie beständig ist, ist es unnötig, sie in Gedanken zu fassen, sich an sie zu erinnern.
Meine Kinder, ich komme auf das zurück, was ich euch vorhin zum Thema Stundengebet der Kirche gesagt habe. Indem ich euch mitteilte, dass die Engel dabei sind, so sage nicht ich es, sondern unser seliger Vater, der es in seine Regel setzte. Und ich bin sicher, um es hineingesetzt zu haben, mussten der heilige Franz von Sales und die heilige Johanna Franziska von Chantal viel beten, um diese Gnade von unserem Herrn zu erhalten. Und wenn sie sie schon auf dieser Erde erhalten haben, mussten sie sie seit sie im Himmel sind noch wirksamer erhalten. Ich gehe nun nicht weiter auf das Stundengebet ein. Ich werde jetzt über das Gebet im Allgemeinen sprechen.
Wie also sollt ihr beten? Nun, ich werde es euch sagen. Ihr sprecht zum Beispiel das Vaterunser. Während eure Lippen diese Worte aussprechen, muss eure Seele meditieren. Oder wenn sie nicht meditiert, möge sie liebevoll sammeln, was ihr sagte, und den Worten, die ihr aussprecht, etwas so sanftes, so liebevolles für unseren Herrn geben, dass euer Gebet zu ihm aufsteigt und gleichzeitig in das Herz von den Personen dringt, für die und mit denen ihr betet. Wenn ihr betet, meine Kinder, muss man in euch die Salbung Gottes, seine heilige Liebe fühlen. Wenn ihr unter Mädchen betet, möge man auf eurem Gesicht, in eurem Blick, in eurer Seinsart, in euren Worten fühlen, dass der liebe Gott in euch ist.
Warum seid ihr nicht heiliger als ihr seid? Warum ist euer Wille nicht wirkungsvoller? Weil ihr nicht gut betet, weil ihr unwissend seid. Ihr macht die Dinge nicht gut, weil ihr sie nicht versteht. So sieht man euch beten und man fühlt nicht, dass der liebe Gott in euch ist. Man sieht wohl eine Person, die betet, aber man sagt sich: „Der liebe Gott ist nicht da.“ Deshalb ist euer Gebet wirkungslos. Das ist auch der Grund eurer Trockenheit, eurer Dürre, eurer Abneigungen. Ihr betet, das heißt ihr sprecht Gebete, aber ihr betet nicht! O, wie gut konnte unser seliger Vater beten, und wie stieg sein Gebet zu Gott auf!
Ihr seid im Verlauf eurer Gebete zerstreut. Wenn eure Seele oder eure Vorstellungskraft durch die Tür oder das Fenster geht, scheltet sie nicht, sondern führt sie sanft und mild zum lieben Gott zurück ohne Heftigkeit, ohne lange zu reden, denn die Zeit des Gebetes ist so kurz, dass man sie nicht zu langen Reden verwenden darf. Seht dieses kleine Kind, das bei einem heftigen Regen vor der Tür steht. Seine Mutter nimmt es am Arm und zieht es in das Haus, ohne lange zu reden.
Ich sage euch heute nicht noch mehr darüber, meine lieben Töchter, da ich eure Aufmerksamkeit nicht zu sehr ermüden will. Der heilige Franz von Sales will nicht, dass man lange spricht. Würde ich noch weiter machen, würde ich fürchten, euch vergessen zu lassen, was ich euch anfangs sagte. Ich behandle euch wie Kinder! Wenn man einem kleinen Kind zu viel Nahrung geben würde, könnte sie sein Magen nicht ertragen. Ich höre also auf, indem ich euch Folgendes sage: Die bei unserem Herrn versammelten Apostel fragten ihn nach der Art zu beten. Unser Herr antwortete ihnen: „Sagt nur diese Worte: Vater unser im Himmel …“ (Vgl. Mt 6,7-13). Es ist dasselbe Gebet, das wir jeden Tag sprechen. O, wie waren die Apostel glücklich, als ihr göttlicher Lehrer sie beten lehrte! Wie glücklich wiederholten sie dieses Gebet, das unser Herr selbst verfasst hatte! Nun, sagt es auch ihr, meine lieben Töchter, wiederholt dieses Gebet mit denselben Anlagen wie die Apostel und in der Weise wie uns der heilige Franz von Sales im Direktorium lehrt. Euer Gebet wird so zum Herzen unseres Herrn kommen.
Meine liebe Töchter, mögen eure Seelen wohl die Wichtigkeit dieses Gebetes und wie es zu machen ist verstehen! Möge es zu Gott aufsteigen und wieder herniederkommen mit Gnaden, die sich auf euch und alle Personen ergießen, für die und mit denen ihr betet. Das ist die Gnade, die ich euch wünsche im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.