Ausgewählte Vorträge für Jungarbeiterinnen

      

6. Die Versuchung (aus dem Jahre 1883)

Meine Kinder, allein deswegen, weil ihr Gott dienen wollt, müsst ihr eure Seele auf die Versuchung vorbereiten. Das Ziel, das ihr euch für diese Exerzitien gesetzt habe, ist eure Bekehrung. Wer nicht besser aus diesen Exerzitien hervorginge, hätte sie schlecht gemacht. Ich wiederhole also, die Exerzitien müssen in euch allen eine Bekehrung bewirken, eine Bekehrung vom Bösen zum Guten für eine bestimmte Zahl, vom Guten zum Besseren für jene, die schon gut sind. Denn unter euch gibt es bestimmt Seelen, die gut und Gott treu sind.

Wenn ihr aus den Exerzitien kommt, werdet ihr wohl Schwierigkeiten zu spüren bekommen. Der Teufel wird euch versuchen, doch lasst euch deswegen nicht von diesem Feind fangen, der gern Verwirrung stiftet. Meine Kinder, schon deswegen, weil ihr Exerzitien machen wollt, müsst ihr eure Seele auf die Versuchungen vorbereiten. Alle haben Versuchungen. Versucht werden ist unser aller Los. Das Leben ist ein ständiger Kampf. Der hl. Paulus hatte trotz seiner Offenbarungen sehr schwere Versuchungen, aber unterlag ihnen nicht. Unser Herr selbst wurde nach dem langen Fasten dem seine Taufe folgte, vom Teufel versucht. Wir werden versucht nach einer Beichte, nach der Kommunion, nach guten Exerzitien, aber man darf deswegen nicht mutlos werden, denn die Versuchung ist das besondere Kennzeichen der Bevorzugten Gottes.

Das christliche Mädchen ist auf Versuchungen gefasst und bereitet sich auf sie vor. Es begnügt sich nicht damit, sie zu erwarten, sondern es sieht sie voraus. Es kennt die Orte, die Personen, die es treffen wird, und es bereitet sich auf die Versuchung vor, indem es jeden Morgen die Prüfung der Vorschau macht. Es meidet selbst die Gelegenheiten, versucht zu werden, denn es weiß, wer sich der Gefahr aussetzt, kommt darin um. Es meidet, sage ich, soviel als möglich die Gelegenheiten, versucht zu werden, indem es nicht durch jene Straße geht, von der es weiß, dass es dort nicht gehen kann, ohne eine Erregung seines Herzens zu fühlen. Es meidet die Begegnung mit jener Person, die es mit einer zu sinnlichen Zuneigung liebt. Kurz: es meidet alles, was es meiden kann.

Trefft also gut die notwendigen Vorkehrungen. Aber wenn das geschehen ist, lasst euch nicht verwirren und vertraut auf Gott. Ihr werdet nie über eure Kräfte versucht werden. Ein frommes Mädchen fürchtet die Versuchung nicht, denn sie fürchten heißt schon fast, ihr erliegen. Was soll man tun, wenn man versucht wird? Man muss beten, Zuflucht bei Gott suchen und auf ihn vertrauen.

Es gibt Seelen, die glauben, dass die Versuchung eine Sünde sei, und sie grämen sich darüber so, dass sie davor große Angst haben. Die Versuchung ist keine Sünde. Man kann sogar im Gegenteil sagen: glücklich jene, die versucht werden. Jene Seelen, die nicht versucht würden, wären von Gott geliebt werden, und der Teufel greift nur die Seelen an, die ihm nicht gehören. Je besser eine Seele ist, umso mehr wird sie versucht, denn die Versuchung ist ein Kennzeichen der Auserwählung. Außerdem stellt sie unsere Tugend auf die Probe, und es gibt kein zuverlässigeres Mittel der Heiligung. Die Versuchungen hier unten sind wie kostbare Steine, die unsere Krone im Himmel bilden sollen.

Das soll jedoch nicht heißen, dass man mit der Versuchung ungestraft spielen könne. Sie ist ein Funke, der an sich nichts ist, der aber schnell zu einer verheerenden Feuersbrunst werden kann. Noch einmal: man darf keine Angst vor der Versuchung haben, man muss sie aber sogleich zurückweisen. Wenn ihr das getan habt, wird euer Mut wachsen und ihr verdient eine stärkere Gnade, um die nächste Versuchung zu überwinden.

Es gibt Seelen, die sich aufregen, die sich beunruhigen, wenn sie versucht werden. Macht es nicht so. Wenn euch die Versuchung überrascht, verjagt sie, ohne euch weiter zu beunruhigen. Der Teufel ist, obwohl man es von ihm sagt, nicht so mächtig, wie man sich vorstellt. Er gleicht den Kettenhunden. Wenn sie jemand vorbeigehen sehen, beginnen sie zu bellen, um ihn zu erschrecken. Er hat keine Macht über euch, denn er ist ja angekettet. Er hat nur dann Macht, wenn ihr mit ihm spielt. Dann bekommt ihr Kratzer, ja sogar Bisswunden. Fürchtet ihn also nicht, aber sagt im Augenblick der Versuchung zu Gott: „Mein Gott, rette ich, ich gehe zugrunde.“ Wenn dann die Versuchung vorbei ist, darf man sich nicht Gedanken darüber machen, ob man ihr nicht doch erlegen ist. Es gibt Seelen, die aus Furcht, unterlegen zu sein, sich viel zu sehr ängstigen. Das verwirrt sie, nimmt ihnen die Kraft und das Vertrauen, und der Teufel zieht daraus seinen Nutzen.

Seid also fest und mutig, merkt euch aber, was ich euch am Anfang gesagt habe: Meine Kinder, allein deswegen, weil ihr Gott dienen wollt, müsst ihr eure Seele auf die Versuchung vorbereiten.