7. Die Gelegenheit zur Sünde (aus dem Jahre 1883)
Als die Jünger aus dem Tempel von Jerusalem kamen, sagten sie zu Jesus: „Sieh doch, Herr, wie schön alles ist!“ Jesus wandte sich um und weinte beim Gedanken an das Unglück, das über Jerusalem kommen musste. Nun, liebe Kinder, wenn ich euch in den Exerzitien sehe, so fromm, so gut, so gut eingestellt, frage ich mich, ob euer Eifer immer anhalten wird. Wird unser Herr bei eurem Anblick nicht über euch weinen wie über den Tempel von Jerusalem? Oh nein, mir scheint im Gegenteil, er versichert mir, dass ihr euren Entschlüssen treu sein werdet.
Gestern habe ich über die Versuchungen zu euch gesprochen, und ihr wisst alle, meine lieben Kinder, dass man sie großmütig bekämpfen muss, ohne sie zu fürchten. Heute will ich euch noch die Gelegenheiten zur Sünde zeigen, die ihr fliehen müsst. Diese Gelegenheiten sind immer schrecklich. Selbst die Heiligen fürchteten sich vor ihnen. Sie sind sogar dann gefährlich, wenn man sie nicht sucht, wenn man sich ihnen nicht freiwillig aussetzt. Ein Mädchen, das immer eine lebhafte Phantasie und ein glühendes Herz hat, kann sich leicht zur Sünde hinreißen lassen, ohne es zu merken. Ihr müsst also sehr wachsam sein. Ein Mädchen kann unmöglich gut und fromm bleiben, wenn es die Gelegenheiten zur Sünde nicht flieht, denn wenn es sich der Gefahr aussetzt, kommt es darin um. Wir wollen also heute Morgen gemeinsam sehen, was die hauptsächlichen Gelegenheiten zur Sünde sind, die sich im Leben eines Mädchens ergeben können.
Erste Gelegenheit zur Sünde: Bälle und Schauspiele. Seht ein Mädchen, das sich seinen Vergnügungen hingibt. Es hat nur im Kopf, was es gehört und gesehen hat. Es denkt nur an das, es schläft mit diesem Gedanken ein, ohne irgendeinen Gedanken für Gott und die hl. Jungfrau zu haben. Meine lieben Kinder, stellt euch einen Menschen vor, der beim Verlassen des Balles oder des Theaters stirbt. Sein Tod ist nicht erbaulich und er erkennt, leider zu spät, dass er nicht war, was er sein sollte, noch da, wo er hätte sein sollen.
Zweite Gelegenheit zur Sünde: gefährliche Gesellschaften. Meine lieben Kinder, wie verderblich sind Gesellschaften! Seht, wie viele sogar von denen nicht durchgehalten haben, mit denen ihr die Erstkommunion empfangen habt. Wo sind sie heute? Was ist aus ihnen geworden? Könntet ihr mir nicht wie die Brüder Josefs antworten, dass ein wildes Tier sie zerrissen hat? Flieht die schlechten Gesellschaften, wie ihr vor einer Schlange fliehen würdet. Flieht auch den Umgang mit einer gefährlichen Freundin zu haben, ihr müsst sie aber unter tausend auswählen, denn wenn ihr sie nur wegen ihrer Reize liebt, die euch gefallen, werdet ihr bald in Sünde fallen.
Dritte Gelegenheit zur Sünde: die Lektüre. Ich spreche hier nicht von den schlechten Büchern, von denen es leider so viele gibt. Ich finde indessen viele Mädchen, die sich nicht scheuen, ihre Seele zu beflecken, indem sie solche lesen. Diese Mädchen richten sich nicht zugrunde, sie sind schon verloren. Ich spreche von Romanen im Allgemeinen, selbst von solchen, die man für anständig hält. Wenn man sie einmal zu lesen anfängt, kann man sich nicht mehr losreißen. Nun denn, ich sage, ein Mädchen, das gern Romane liest, ist nicht ordentlich, weil sein Geist ständig mit dem beschäftigt ist, was es liest. Es tut nichts Ordentliches. Es vergisst leicht seine Pflichten, sogar die wichtigsten. Es denkt von früh bis spät an seine Lektüre, es schläft mit leichtfertigen Gedanken ein, die für seine bedauernswerte Seele, ach, so verderblich sind. Ja, sogar ohne einen ernsthaften Gedanken für Gott zu haben. Die Seele des Mädchens, das Romane liest, macht sich allmählich mit der Leidenschaft vertraut, von der in diesen Büchern unablässig die Rede ist. Ohne Zweifel geht sie nicht auf einen Schlag verloren, und diese Lektüre ist umso gefährlicher, da man die Gefahr mitnichten bemerkt. Ein Mädchen, das diese unglückliche Gewohnheit hat, ist seines Verderbens gewiss. So wie das Wasser, das tropfenweise auf einen Stein fällt, diesen schließlich aushöhlt, ebenso verdirbt sich ohne Zweifel ein Mädchen allmählich, das Romane liest.
Meine Kinder, achtet also gut auf eure Lektüre! Denkt daran, dass ein christliches Mädchen jeden Tag seine fromme Lesung machen muss. Wenn es darin treu ist, will ich ihm erlauben, auch noch andere Bücher zu lesen, die es unterhalten, aber seiner Seele nicht schaden können.
Vierte Gelegenheit zur Sünde: der Charakter. Es gibt keine Charaktere, die sich gleichen. Der eine ist stolz und hochmütig, der andere lahm und gering. Aber wie sie auch sein mögen, es gibt keinen, der sich nicht bessern müsste. Alle unsere Fehler kommen von unserem Charakter. Er ist sehr oft die Ursache des Mangels an Güte und Liebe gegen den Nächsten. Manchmal verhindert er sogar den Herzensfrieden. Ihr hört oft Leute über ihren Charakter lamentieren, und wenn sie in Sünde fallen, geben sie stets ihm die Schuld daran. In gewissem Maße haben sie nicht unrecht, sie vergessen aber, dass sie die Pflicht haben, diesen Charakter zu bessern. Dazu muss man aber vor allem wissen, wie er ist, und das ist nicht immer leicht. Es gibt viele Leute, die Jahr für Jahr leben, ohne ihren Charakter zu kennen.
Das erste Mittel, ihn kennen zu lernen, meine lieben Kinder, besteht darin, Gott um sein Licht zu bitten. Unsere Eigenliebe verbirgt uns gewöhnlich, was wir sind, und wir fallen sehr bereitwillig vor uns selbst auf die Knie, um uns anzubeten, für so vollkommen halten wir uns.
Das zweite Mittel, euch gut kennen zu lernen, besteht darin, eure Umgebung zu fragen. Eure Eltern, eure Meisterinnen werden euch eure Fehler sagen. Fragt eure Kolleginnen. Wenn sie euch echte Freundinnen sind, werden sie es euch sagen. Fragt euren Beichtvater. Er wird euch besser als irgendjemand sagen, was ihr seid. Ich möchte euch sogar fragen: fragt jene von euren Kolleginnen, die euch nicht mögen. Wenn man jemand recht gern hat, findet man gewöhnlich alles gut, was er sagt, und was er tut. Man verwandelt alles in Tugend, sogar seine Fehler. Wenn es also bei euch einige gibt, die euch nicht mögen, dann fragt sie, und sie werden euch sagen, was ihr seid, denn die Liebe ist blind, der Hass ist es nicht.
Das dritte Mittel, sich gut zu kennen, besteht darin, sich in der Meditation zu erforschen. Wer nicht meditiert, kennt sich nicht. Lest auch fromme Bücher, denn in diesen Büchern werdet ihr Seiten finden, die vollkommen auf euch zutreffen. Studiert euch auch durch die Gewissenserforschung. Wenn ihr das eine gewisse Zeit lang macht, werdet ihr bald eure Fehler kennen. Es gibt Leute, die sich nicht zu erforschen verstehen. Sie erforschen sich, ohne dass sie ihren Charakter zu erkennen suchen.
Das vierte Mittel, sich gut zu kennen, besteht darin, zu beobachten, was in uns vorgeht. Sehr oft sind wir traurig und froh, wofür unser Hauptfehler die Ursache ist. Wenn ein General seinen Feind besiegen will, greift er in Ordnung und Methode an. Um euren Charakter zu bessern, müsst ihr ebenso auf der Seite beginnen, wo ihr am meisten zu kämpfen habt. Euer Hauptfehler ist sicher die Ursache vieler anderer. Fasst also einen Entschluss gegen diesen, bis er vollständig ausgerottet ist. Es gibt Leute, die Jahr für Jahr die gleichen bleiben, weil sie nicht gegen ihren Hauptfehler kämpfen. Meine lieben Kinder, bittet, dass Gott euch das Licht gewähre. Bittet ihn, euch eure Fehler zu zeigen. Wenn er euren guten Willen sieht, wird er sie euch sicher zeigen. Im geistlichen Leben verlassen wir uns sehr oft zu viel auf uns selbst. Und eine Seele, die sich zu viel auf sich selbst verlässt, erreicht nichts Gutes. Man muss also schon um die Gnade Gottes bitten, dann die Mittel ergreifen, die ich euch angebe. Ein Mädchen, das sich von seinen Fehlern befreien will, muss jeden Morgen eine Prüfung der Vorausschau machen und zwei Mal am Tag sehen, was es gut und was es schlecht gemacht hat. Das dauert nur einen Augenblick, das ist schnell geschehen. Dann merke es sich alle Siege, die es errungen hat, ebenso alle Fehler. Jeden Monat spreche es mit seinem Beichtvater darüber, damit er sich ein Bild über seine Fortschritte in der Tugend machen kann.
Macht es so, meine Kinder. Das ist das Mittel, gut und fromm zu werden, und euch auf eine glückselige Ewigkeit vorzubereiten.
