5. Der Phantasie und dem Herzen misstrauen (aus dem Jahre 1878)
…Heute Abend will ich über eine Sache sprechen, die euch nicht unbedingt betrifft, die euch nicht allgemein betrifft. Sie geht indessen einige von euch an und die Unterweisung, die ich euch geben werde, möge für eure Seelen fruchtbar sein.
Meine Kinder, ich habe über zwei Feinde zu sprechen, die euch unablässig verfolgen und euch bis zum letzten Atemzug folgen werden. Ihr fragt euch vielleicht: Was habe ich getan, dass ich zwei Feinde habe? Ich habe niemandem Böses getan, ich will niemand übel, wer es auch sei. Wer sind diese zwei Feinde? Es ist eure Phantasie und euer Herz. Sie sind eure zwei großen Feinde.
Was ist denn Phantasie? Sie ist etwas in uns, das uns dies oder das für gut halten, uns glauben lässt, dass etwas sehr schön, sehr ausgezeichnet ist… oder dass etwas überhaupt nichts wert ist, dass es nur Hass und Abscheu verdient. Und manchmal ist es genau umgekehrt. Man nennt die Phantasie den Hausnarren. Wenn ein Narr im Haus ist, geht man nicht zu ihm, ihn um Weisung und Rat zu bitten. Man hütet sich wohl, ihn zu konsultieren.
Gott hat euch viel Phantasie gegeben. Sie ist etwas Gutes, wenn sie recht gelenkt wird. Misstraut aber eurer Phantasie… und misstraut auch eurem Herzen! Sie lassen euch an eine Menge von Dingen glauben, die überhaupt nicht wahr sind. Ihr müsst also eurer Phantasie und eurem Herzen misstrauen und nicht allem folgen, was sie euch eingeben, denn es ist nicht immer sehr vernünftig. So sage ich nicht, dass ihr kokett seid. Im Allgemeinen seid ihr wohl so, wie man sein muss, aber warum glauben manche von euch, dass ein Stück Band von bestimmter Farbe eine so großartige Wirkung hat? Warum scheinen euch diese Bluse, dieses Leibchen so blendend, so hinreißend? Warum scheint euch dieses oder jenes Kleid so begehrenswert? Das ist die Frucht eurer Phantasie. Ihr habt Gefallen an dem, was elegant, was schön ist, und eure Phantasie entflammt sich dafür wie ein Streichholz, das ein wenig Phosphor enthält. Ihr legt dieser oder jener Bagatelle zu viel Bedeutung bei. Ein armes Mädchen muss sich misstrauen, wenn es sich zur Koketterie, zur Kleiderpracht hingezogen fühlt, wenn es sich alles in den Kopf setzt, wenn es übertreibt…
Wenn ihr wüsstet, meine Kinder, wie schön ein schlicht gekleidetes Mädchen ist! Ich lehne guten Geschmack nicht rundweg ab, aber liebt lieber das, was gut ist, aber erinnert euch, dass ein Mädchen keinen schöneren Schmuck hat als seine Einfachheit und seine Unschuld. Zieht euch nicht an wie eine Frau von hundert Jahren, zieht euch aber auch nicht an wie lächerliche Frauen. Der hl. Franz von Sales sagte: „Ich möchte, dass meine Fromme, meine geistliche Tochter, gut gekleidet ist, ich will, dass sie ordentlich ist.“ Ich bin zufrieden, weil ich sehe, dass ihr in der Kleidung nicht übertreibt. Aber es gibt doch einige, die das etwas zu sehr lieben…
Nehmt euch in Acht vor eurer Phantasie hinsichtlich der Abneigung und Zuneigung, die ihr für eure Gefährtinnen fühlt. Da ist ein Mensch, der euch gefällt. Eure Phantasie entflammt sich, es scheint, dass dieser Mensch alle Vollkommenheiten besitzt. Da ist ein anderer, passabel, aber ihr findet ihn äußerlich hässlich und linkisch, mit einem Wort abscheulich. Warum das? Er ist das Erzeugnis eurer Phantasie. Meine Kinder, ich fordere euch auf, eure Phantasie recht zu zügeln, wenn es sich um eure Zuneigung handelt. Bittet die hl. Jungfrau um etwas Mäßigung. Der hl. Ambrosius zeichnet uns ihr Porträt. Er sagt, Maria war schlicht in ihrer Haltung, bescheiden im Blick, offen im Gesichtsausdruck. Sie hatte etwas überaus Liebenswürdiges, man fühlte sich zu ihr hingezogen, man liebte und schätzte sie. Bemüht euch, ihr zu gleichen, meine Kinder. Seid schlicht, das ist so erfreulich, das ist jungfräulich!
Ich kenne einen früheren Zögling der Heimsuchung. Ihr Vater sagte eines Tages zu ihr: „Wenn du heiraten willst, werde ich eine gute Partie für dich finden. Ich werde dir 100.000 Francs (Anm.: „ca. 20.000,00 € (zinsbereinigt)“) als Mitgift geben.“ Ihr Vater stellte sie also der Oberin vor. Die ließ sie mit einer Schwester das Militärlazarett besichtigen. Man führte sie durch die Säle. Als sie fortgegangen war, rief ein alter Soldat die Schwester, die das Mädchen begleitet hatte, und sagte: „War das nicht die heilige Jungfrau, die bei Ihnen war, als Sie eben durch den Saal gingen?“ Die Kleidung des Mädchens war äußerst schlicht, und der Veteran fand das so schön, dass er sich sagte: Unsere Schwester ist so gut, dass die Bewohner des Paradieses sie besuchen. Aber es war nicht ihr Schutzengel, der sie begleitete, es war zum mindesten die heilige Jungfrau. Hätte Fräulein ein Kleid mit einer meterlangen Schleppe getragen, hätte sie auf dem Kopf ein Büschel Heu gehabt, der Veteran hätte sie nicht für die heilige Jungfrau gehalten. Die Einfachheit ist so schön. Sie ist so fröhlich, so strahlend! Fasst alle den festen Entschluss, immer schlicht zu sein!
Meine Kinder, ein letztes kurzes Wort. Eure Phantasie täuscht euch oft. Sie lässt euch die abscheulichen Dinge großartig finden. Sie lässt euch die besten Dinge sehen, als seien sie nichts wert, als verdienten sie nicht, dass man sie anschaut. Wenn eure Phantasie euch etwas unter diesem Gesichtspunkt zeigt, dann sagt: „Mein Gott, lass mich sehen, was wahr ist. Lass mich sehen, was gut ist!“
Der andere Feind, den ich euch genannt habe, ist euer Herz. Wir leben durch das Herz. Die Engel lieben Gott vollkommen. Die Heiligen lieben Gott, sie leben nach dem Herzen. Auch das Mädchen lebt nach dem Herzen. Es liebt seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern. Wenn es verheiratet ist, liebt es auch seinen Mann, seine Kinder, liebt es auch Gott, der sie ihm gegeben hat. Gott hat uns unser Herz gegeben, liebt es auch Gott, der sie ihm gegeben hat. Gott hat uns unser Herz gegeben, damit es glücklich sei, damit es zufriedengestellt werde. Wieso geschieht es also, dass ein Mädchen sich so oft von seinem Herzen täuschen lässt? Es glaubt das Schöne, das Vollkommene zu sehen, sein Herz entflammt sich, es folgt der Phantasie und läuft in die Schande, in das Verderben. Es gerät in Gewissensbisse bis zur Verzweiflung.
Meine Kinder, wacht gut über euer Herz. Wenn es euch nach rechts oder links ziehen will, dann sagt: „Mein Gott, du bist ganz Liebe. Zeige mir, in welchem Maß ich lieben soll.“ Gott täuscht niemals, meine Kinder. Wenn ihr aber euer Herz um Rat fragt, wird es euch täuschen, wird es euch erhebliche Prüfungen bereiten.
Wacht also gut über euch, achtet auf euer Herz. Man muss es überwachen. Wenn ihr es allen unsteten Eindrücken nachlaufen lasst, Gefühlen die es verweichlichen, wird s sich vom ersten Anschein gefangen nehmen lassen. Das führt dazu, dass euer Herz nicht überlegt, dass es ohne Energie, ohne Mut, ohne Kraft ist.
Ich halte ein, meine Kinder. Wir werden unseren Herrn, der die Liebe unserer Seele ist, bitten, dass wir lieben wie Er, dass wir mit ihm lieben. Gott sagt dem Kind, es soll seinen Vater lieben, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern. Diese Liebe gebietet er. Später kann man auch andere Menschen lieben, weil Gott selbst sie uns gibt, dass wir sie lieben. Auch diese Liebe ist gut. Das ist das Geheimnis der heiligen Affekte, die wahre Liebe, die Liebe, die nicht täuscht. Merkt euch das für euer ganzes Leben, meine Kinder.
