Wie soll ein Oblate des hl. Franz von Sales predigen?

      

3. Die richtige Auswahl des Predigtstoffes (Fortsetzung)

Diesem Ziel – nämlich der Ansammlung von Gedanken für die Predigten – solltet ihr alles in den Dienst stellen, was ihr lest, was ihr erfahrt, was ihr hört und was ihr selbst denkt. Zieht von allem, was euch begegnet, ohne Unterlass praktischen Nutzen. Macht nicht die Vorbereitung für die Ansprachen, die halten sollt, nur und erst im Augenblick, da ihr sie halten sollt, so ganz hastig, als müsste man sich dafür die Zeit erst stehlen. Ihr sollt nicht etwa eine Stunde vor dem Besteigen der Kanzel oder drei Tage, zuvor die Predigtbücher oder sonstige Zweckbücher durchstöbern und da erst die Gedanken für die Ansprache suchen, die ihr halten sollt. Nein, euer ganzes Leben, jeder Augenblick eures Lebens sei dieser Vorbereitung gewidmet.

Da kann euch alles zweckdienlich werden, man muss es verstehen, aus allem Vorteil zu ziehen. Ihr müsst ein humanistisches Fach unterrichten. Nun, so wisst, dass sogar die Mathematik euch hierin in ihrer Art behilflich sein kann und erst recht die Naturwissenschaft, die Physik, etc. Da könnt ihr, wenn ihr natürlich entsprechend eingestellte Zuhörer vor euch habt, ganz packende Vergleichspunkte finden. Nehmt z.B. den Eukalyptus, wie klein ist sein Fruchtkern, und doch wie groß wird nicht sein Baumstamm, wie rasch wächst er doch empor, wie hart und widerstandsfähig ist sein Holz, wie wohltuend und balsamisch sein Geruch. Kann man denn nicht einen Vergleich mit der Gnade machen, die im geringsten Maße schon verliehen, in ganz kurzer Zeit ungeahnte Wirkungen hervorbringen kann.

Sucht euch über die Entdeckungen in der Wissenschaft zu unterrichten. Daraus könnt ihr nämlich Vergleiche heranziehen, die den Gebildeten gefallen und die Neugierigen fesseln werden. Stellt selbst Beobachtungen in der Natur an: da hat man wirklich eine fruchtbare, unerschöpfliche und immer neue Suchen liefernde Fundgrube.

Ihr seid ein Buch am lesen, oder einen Zeitungsartikel oder eine Zeitschrift, ihr hört einen Vortrag an, oder unterredet euch mit jemandem und werdet dabei auf einen Punkt aufmerksam, den ihr einen guten Tages verwerten könntet, oder ihr habt eine Geschichte, eine Anekdote, einen Vergleich, ein Bild vor euch, sammelt dieses alles recht sorgfältig und lasst nichts verloren gehen. An Geschichten und Vergleichen werdet ihr niemals zu viel Vorrat haben. Muss man nicht zuerst sich an die Einbildungskraft wenden, um alsdann die Aufmerksamkeit zu fesseln und schließlich den Willen und das Herz zu packen. Man wird auf euch, besonders seitens der Kinder nicht hören, außer ihr bringt ihnen. Geschichten und Bilder. P. Rolland war 12 Jahre lang Chorknabe auf der Sängerschule von Langres. Er hatte da gewiss Hunderte von Predigten gehört. Aber nur einen einzigen Prediger scheint er im Gedächtnis behalten zu haben, nämlich einen Kapuzinerpater, der Geschichten erzählte. Es sind die Kinder nicht die Einzigen, die gerne Geschichten hören und die am Schluss einer Predigt nur die Geschichten behalten, die der Prediger erzählt hatte.

Arbeitet und lest viel in euren freien Augenblicken, schreibt euch das auf, was euch gefällt, oder was ihr euch merken wollt, um es im gegebenen Augenblick anzubringen – Notiert euch alles, was euch auffällt.
Ihr müsst euch Notizen machen. Ihr sollt euch eine Mappe anlegen, in der ihr eure freien Blätter mit Bemerkungen und Hinweisen und die Abschriften der Schüler hineinlegen könnt. Jedes dieser Blätter soll seine alphabetische Überschrift tragen: Abnegatio, Amor, Bona terrestria, Caritas, etc. Ordnet eure Blätter alphabetisch und schreibt dort alles nieder, was ihr irgendwie von Bedeutung findet. Bei einer Lesung findet ihr einen schönen Gedanken, eine packende Beweisführung, einen erbaulichen Zug, einen Vergleich über den Glauben, die Abtötung, die Arbeit. Ist ein Absatz etwas gar lang und ihr wollt euch nicht der Mühe unterziehen, ihn vollständig abzuschreiben, dann notiert euch nur einige Zeilen oder bloß den Sinn, und verweist dabei auf den Band und die Seite des Werks, um später euren Beleg leicht zu finden. Nur müsst ihr sorgfältig darauf achten, die Quelle genau anzugeben, aus der ihr die Stelle genommen habt. Fliegende, in Pappdeckeln zusammengeschnürte Blätter sind einem Hefte vorzuziehen. Die Hefte können hinderlich und lästig werden, es werden ihrer immer mehr und schließlich kann man das, was man sucht, nicht mehr finden. Früher hatte ich auch mit Heften den Anfang gemacht, konnte aber nie recht weiter fortsetzen. Erst auf der dritten Seite fand ich meine Notiz dumm, lächerlich und unsinnig. Mit der Methode loser Blätter wäre mir vielleicht eine solche Versuchung nicht unterlaufen. Ein Wort, das man in seiner Sammelmappe findet, bringt uns das Buch in Erinnerung, das wir einst gelesen haben. Ein Gedanke daraus weckt neue Gedanken. Das bringt uns neues Licht und erweitert den Gesichtskreis.

Ich fragte einmal den Erzbischof von Reims, den Hochwürdigsten Herrn Landriot, wie er es anstelle, dass seine Predigten und Schriften so abwechslungsreich und so inhaltsvoll seien: „Sagen Sie uns Ihr Geheimnis, Hochwürdigster Herr, Sie müssen ja eine ganz umfangreiche Bibliothek besitzen.“ Und er zeigt mir in seinem Arbeitszimmer einen kleinen Gegenstand: „Hier liegt mein Geheimnis.“ Und er schnürte mir die Pappdeckel auf, die sich im Schrank in großer Anzahl befanden und sagte: „Schauen Sie hier, wie ich arbeite. Habe ich etwas zu sprechen oder zu schreiben, z.B. über die Freiheit versehen sind. Und da finde ich alles Interessante wieder, was ich ehemals über diesen Gedanken gelesen hatte. Das wirkt befruchtend auf euch und es kommen mir manche andere neue Gedanken in den Sinn und dann ist meine Aufgabe zu ¾ gelöst.“

Ich hörte einst mit unsäglichem Vergnügen dem H.P. Gratry in Paris zu, wie er seine Konferenzen zu St. Rochus vor der Schuljugend hielt. Er saß da vor einem Stuhl. Seine Blätter mit verschiedenen Notizen lagen neben ihm. Daneben standen auch einige Bücher. Wenn er zitierte, bediente er sich seiner Notizen und liest die Seiten vor, die er sich im Voraus aufgezeichnet hatte. „Homer sagt folgendes… Plato jenes.“ Er redete über die Sterne (denn P. Gratry sprach immer von Sternen! …). „Newton hat über die Sterne dieses oder jenes gesagt…“ Gewiss, man kann in dieser Art nicht vor jeder Zuhörerschaft sprechen. Aber vor allen Zuhörern könnt ihr das verwerten, was ihr euch in euren Notizen aufgeschrieben habt und darin den P. Gratry nachahmen. Und was P. Gratry gesagt hat, ist gewiss etwas Gediegenes, Neues und sehr Interessantes. Seine Konferenzen hatten ungeheure Anziehungskraft. Das wirkte ganz anders als wie etwa eine schon zugestutze und frisierte Konferenz, die angefüllt ist mit Gemeinplätzen und Flachheiten, die bereits jedermann kennt.

Macht es, meine Freunde, dem H. P. Gratry und dem Hochwürdigsten Herrn Landriot nach und legt euch eine Sammlung von Aufzeichnungen an. Als euer Vater und eurer Oberer verlange ich von euch, aus Gehorsam es zu tun. Fangt mit Kleinem an, mit ein paar Blättchen Papier, euer Schatz von Notizen wird mit jedem Tag größer werden. Lasst euch nichts entgehen von all dem, was ihr interessant, neu, eurem Geschmack entsprechend findet oder was ihr glaubt, eines Tages irgendwie verwerten zu können. Ihr macht eure Lesung in der hl. Schrift, macht euch Notizen daraus. Schreibt euch den Text auf, der euch ergriffen hat und auch die Gedanken, die euch jener Text eingegeben hat. Ihr werdet sehen, welches Licht ihr auf diese Weise empfangen werdet. Man kann nie einen Abschnitt des Evangeliums oder der Briefe des hl. Paulus oder Johannes aufmerksam und mit Glauben lesen, ohne einen lichten Gedanken über eine sittliche Wahrheit oder geistliche Lehren daraus zu schöpfen. Einen lichten Blick für irgendeine religiöse Pflicht des Priesters oder über eine Verpflichtung jener denen wir das Evangelium zu predigen haben wie Väter, Mütter, Jungmänner, Mädchen, über einen bestimmten Seelenzustand, über diese Gefahr, jene Sünde, über Widerwärtigkeiten, geistliche Trockenheit oder Geistesfreuden, über die Tröstungen, die Gott uns für die Zeit des Leidens bereit hält und was sonst noch. Ihr werdet immer etwas finden, das ihr praktisch irgendwo einmal anbringen könnt und das euch bei irgendeiner Gelegenheit behilflich sein kann. Wenn ihr die hl. Schrift lest, dann unterlasset es nie, die Gedanken zu notieren, die euch dabei kommen.

Ihr macht im hl. Franz v. Sales eure Lesung, z.B. im Theotimus, ihr findet dort einen packenden Gedanken, einen hübschen Vergleich, ein reizendes Blümchen, legt auch dieses zu eurer Blumensammlung hinzu. Ihr seid vielleicht eine Zeitschrift am lesen, z.B. eine Wochenschrift, oder man liest gerade im Refektorium ein anregendes Buch. Oder man erzählt euch ein Ereignis, eine Begebenheit, die nicht ohne eine tiefe Lehre ist. Auch daraus zieht euren Nutzen. Sei es etwas Heiliges oder etwas Profanes, mögt ihr etwas lesen oder es in einer Unterhaltung erzählen hören oder es selbst erleben, ganz gleich, wenn ihr nur etwas darin findet, das euch irgendwie einen Nutzen bringen kann.

Hütet euch, es so zu machen wie ein Stadtkaplan, von dem man mir neulich erzählt hat, dass er seine Beschäftigung darin sucht, Romane zu lesen, um dort zu finden, was seine Zuhörerschaft von Weltmännern und Weltdamen interessieren könnte. Wie kann man da erwarten, dass Gott solche Vorbereitung segnet? Man muss an das Wort Gottes mit großer Ehrfurcht herantreten. Wenn ihr so jeden Tag euch Notizen macht, werdet ihr in kurzer Zeit ohne viel Mühe und Anstrengung, ohne in euren gewöhnlichen Arbeiten gestört zu werden, einen ganz beträchtlichen Vorrat von Predigtstoff in der Hand haben und zur Verfügung besitzen. Wenn ihr euch jeden Tag nur eine Bemerkung niederschreibt, dann habt ihr im Laufe des Jahres 365 solche Notizen und in 10 Jahren 3.650 und wie viel in 50 Jahren erst?

Und nicht nur, dass ihr auf diese Weise immer bereit sein werdet, etwas Gutes zu sagen, ohne jemals verlegen zu sein, wenn ihr eine Predigt, einen Vortrag oder eine Ansprache halten sollt, diese Gedanken, die ihr euch in eurer Sammelmappe geordnet habt, sind ganz eurem geistigen Geschmack entsprechend geordnet, denn ihr habt sie doch nach eigenem Wohlgefallen gewählt. Bald und leicht werdet ihr sehen, dass das ganz und gar eure eigenen Gedanken sind, und ihr werdet so euch rasch und ohne Schwierigkeit angleichen. Was ihr dann vortragen werdet, stammt alsdann nicht nur eurem eigenen geistigen Bestand, sondern es wird, von eurem Geiste verarbeitet und zu eigen genommen, gleichbedeutend mit euch selbst sein. Nehmt also auf, macht euch zu Eigen, so gut es nur geht, alles, was ihr nur finden möget. Oft braucht ihr eure Quellen gar nicht zu zitieren, Zitate wirken leicht langweilig. Wenn ihr nur die Worte anderer vortragt, dann werden euch die Kraft der Überzeugung und der Feuereifer fehlen, die euch erst den Erfolg verleihen. Und da die einzelnen Abtötungen des Geistes sich nie vollständig gleichen werden, sind die notierten Ideen, die ihr in euch verarbeitet habt, wirklich eure eigene persönliche Färbung tragen. Ihr werdet euer eigenes Ich, eure eigene Persönlichkeit wahren. Was ihr sagen werdet, wird dann keine Predigt im Zopfstil und ihr, ihr selbst werdet nicht zu einem leeren, formlosen Echo herabsinken.

Täuscht euch nur nicht. Das Wasser, frisch von der Quelle wird selbstverständlich gut sein. Wenn es klar durch Wiesen und Wege und besonders durch Straßen und Gassen der Städte laufen musste, dann wird es widerlich und nicht zu legen, die den Wasserlauf verstärken. So verhält sich die Sache.

Jeder soll sein kleines Paket besitzen, seine Sammelmappe, in der er seine eigenen Geisteserzeugnisse aufbewahrt. Auch wenn sich darunter wertlose Notizen finden sollten, und daran wird es ohne Zweifel so manche geben, was hindert das? Ihr werdet sie schon nach und nach entfernen. Und wenn sich auch bei der Anwendung eurer Notizen, in euren Predigten sich manches Unzusammenhängende oder aber gewisse logische Mängel finden sollten, so wird man sie euch immer verzeihen, wenn ihr nur interessant sprecht. Und ihr werdet fesselnd reden, wenn ihr handelt wie ich euch sage, weil ihr anders reden werdet als alle übrigen.

Meine Freunde, ich gehe noch einen Schritt weiter. Wenn ihr während eurer Betrachtung ein besonderes Licht erhaltet, oder wenn ihr einen Vergleich entdeckt, so lasst euch das nicht verloren gehen. Wenn ihr aufmerksam seid, dann werdet ihr sogar bei euren gewöhnlichen Gebeten, in eurem Vaterunser und Ave Maria an gewissen Tagen lichtvolle und fruchtbare Gedanken finden. Im „fiat voluntas tua…panem nostrum quotidianum“ werdet ihr etwas Neues und Fremdes bemerken, woran ihr sonst vielleicht nie gedacht hättet. Einen solchen Gedanken müsst ihr euch aufschreiben und ihn sorgfältig bewahren.

Benützt dafür auch die Gebete aus eurem Brevier. Seht, ob nicht in den Psalmen, in den Lektionen, in den Orationen sich etwas findet, das eurem Verstand zusagt, das euer Herz rührt. Betet nicht einfach maschinenmäßig all das herunter, wie einer, der nur daran denkt, sich einer anderen Pflicht zu entledigen. Zieht vielmehr Nutzen daraus für euch selbst und für andere. Aber die Betrachtung ist doch kein Studium! Gewiss… Wenn ihr aber mit dieser genannten Aufmerksamkeit betrachtet, wird eure Betrachtung recht sein und euch außerdem eine kostbare Ergänzung bringen. Davon bin ich in meinem Inneren fest überzeugt. Man wird nur dann als Prediger etwas leisten, und nur dann den Menschenherzen die Wahrheit Jesu Christi vortragen, wenn man auf diese Weise handelt. Beim Beten des Breviers stoßt ihr auf einen frommen, noch nicht bekannten Gedanken: das ist keine Zerstreuung! Ihr wendet nur dieses oder jenes Wort der hl. Schrift oder der Überlieferung auf euch selbst und auf andere an. Ihr macht damit einen besonderen Einblick in diesen oder jenen Punkt der Theologie. Es kommt euch wie eine Eingebung von Gott vor. Notiert es euch, bewahrt es euch auf und lasst es Früchte bringen. Später wird es euch wertvolle Dienste leisten. Wenn ihr es in eurer Predigt einmal anbringt, wird man euch gespannt anhören, denn man wird da Dinge vernehmen, die man nicht überall antrifft, und nicht Sachen, die man bereits 100 Mal gehört hat. Man wird nicht wieder eine heruntergeleierte Wahrheit hören müssen, die jedermann schon schön auswendig kennt, die immer und immer wieder ans Tageslicht gezogen werden. Man bekommt vielmehr etwas Neues, Anziehendes und für die Seele Brauchbares vorgetragen.

„Aber es fällt mir beim Lesen und Studieren kein rechter Gedanke ein!“ Das ist aber ganz eigentümlich, das ist recht traurig, sogar. Das rührt wahrscheinlich daher, dass sie nie ernsthaft daran gedacht haben, etwas zu notieren und in der Mappe zu sammeln. Am Tage aber, wo ihr zur Überzeugung gelangt, dass man es tun muss, werden euch schon die guten Gedanken kommen. Macht die Probe nur!

In allem, was ihr Tag für Tag, Minute für Minute tut, werdet ihr unerschöpfliche Fundgrube besitzen: in der Betrachtung, im Brevier, im hl. Messopfer, in der Danksagung, beim Besuch des Allerheiligsten. Ihr werdet Schätze vorfinden in der Liturgie, in den Zeremonien. Eine Fülle von Licht wird euch zuteil, wenn ihr darauf achtet. Es mag der Palmsonntag kommen, oder Maria Lichtmess oder Aschermittwoch. Im letzteren Fall findet ihr einen packenden Gedanken, des Bestreut-Werden mit dem Aschenstaub hat euch ergriffen. Schreibt euch das nieder, und sollt ihr einmal über die Demut predigen, oder über die Flüchtigkeit des Lebens, oder aber über den Tod, dann habt ihr da einen eigenen Gedanken, der anregend und befruchtend wirkt.

Gewiss wird das, was ihr euch aufschreiben werdet, nicht den Wert haben wie etwa ein Artikel aus dem hl. Thomas. Ihr werdet da nichts Überraschendes für die Welt der Philosophie bringen. Ihr könnt euch sogar hie und da täuschen. Ihr werdet das aber wieder gut machen können, indem ihr euch im Studium uns in der Wissenschaft weiterbildet. Seid ihr nicht sicher, ob eure Ansicht theologisch unanfechtbar ist, dann holt euch bei euren Oberen oder bei vertrauten Mitbrüdern Rat. Sie werden eure Meinung schon richtig stellen, wenn sie darin etwas Falsches oder Gewagtes vorfinden sollten.

Um es noch einmal zu sagen, ich verlange keineswegs von euch, dass ihr aus dem Breviergebet ein Studium und aus der Betrachtung eine Verstandesarbeit und eine Gelehrtenforschung machen sollt. Nein, ihr sollt beten von ganzem Herzen, ihr sollt euch in Gott sammeln und von Zeit zu Zeit wird sich euch auch ein praktischer, packender Gedanke entgegentreten, vielleicht einmal am Tage oder nur in der Woche oder noch seltener. Eben ein solcher Gedanke gibt das wieder, was ihr selbst seid. Den werdet ihr aussprechen und nicht jeden beliebigen. Man wird auf euch hören, euch verstehen und an euch Wohlgefallen finden. Eine Seele eine selbstständige Persönlichkeit wird zu ihnen reden: und das will schon etwas bedeuten, meine Freunde.

Ich wiederhole also: alle Tätigkeiten eures Lebens werden euch beisteuern helfen, wenn ihr nur nicht das große Ziel eures Lebens, das Apostolat der Seelen aus dem Auge verliert: „Euntes docete… Omnia quaecumque audivi a Patre meo nota feci vobis“ (Anm.: „Während sie gingen, lehrte er sie: ‚Alle bekannten Dinge, die ich von meinem Vater gehört habe, werde ich euch geben.‘“), so sagte der Heiland zu seinen Aposteln. Nicht allein das, was wir persönlich benötigen, wird er uns vertraulich mitteilen, sondern auch das, was wir den anderen zu sagen haben werden. Dieses Licht und dieses Wort Gotts werdet ihr überall finden: in euren täglichen Obliegenheiten und Verpflichtungen, bei euren Schülern, z.B. wenn ihr bei Schülern tätig seid, bei jenen Menschen, mit denen ihr zusammenlebt.

Findet ihr, was ich euch da sage, außergewöhnlich? Im Gegenteil, es ist äußerst einfach. Ich kenne einen Professor, der noch lebt, und der ein hervorragender Schriftsteller geworden ist. Er nahm sich vor, in der Ausübung seiner Lehrtätigkeit den Charakter seiner einzelnen Schüler zu studieren, deren Zahl 30-35 betrug, sich an das Wort an das Wort Lamartines oder Chateaubriands, ich weiß es nicht mehr genau: „Jeder Mensch ist ein Buch.“ Somit kann man jeden Menschen lesen, im Denken und Handeln, ihre innere Veranlagung zu studieren, die Unterschiede in ihrem Denkvermögen, ihres Willens und Herzens zu untersuchen. Das gab ihm viel Licht. 35 Schüler: denkt euch, das ist ja eine ganze Welt für sich. Aus diesem Studium schöpfte er seine kernigen, auf die Wirklichkeit aufgebauten Gedanken über den Menschen. Den Menschen lernt man nicht in den Büchern, sondern mitten im Leben kennen.

Ihr seid auch berufen, meine Freunde, der eine mehr, der andere weniger, Seelen zu führen. Studiert also das Seelenleben an denjenigen, die zu euch kommen, oder die euch anvertraut sind. Studiert die Charaktere, die einzelnen Vorzüge des Willens und des Herzens. Das ist sogar eure Pflicht. Wer 30 Menschen durch und durch kennt, kennt die Menschheit im Allgemeinen. So viele denken gar nicht daran. Dieser Gedanke sagt ihnen nichts – oder sagt ihnen so wenig, dass sie daraus gar keine Erfahrung sammeln, ihr Wissen über das menschliche Herz gar nicht bereichern. Macht eure eigenen persönlichen Beobachtungen darüber. Studiert das Leben und sammelt euch neue Erfahrungen. Denkt darüber nach, was im Geiste und im Herzen jener enthalten ist, die euch im Herzen jener enthalten ist, die euch anvertraut wurden, also euren Schülern, Pfarrkindern, Jungen und Mädchen aus den Vereinen, denkt nach über ihre Charaktereigenschaften, ihre Launen, ihre Ansichten und Urteile. Wenn ihr so einen gut kennt unter 100 Menschen, die euch begegnen, dann werdet ihr 4 oder 5 von diesem Schlag noch finden. Die Kenntnis, die ihr von dem einen gewonnen habt, wird euch helfen, rasch jenen kennen zu lernen, die ihm ähnlich und diese werden es angenehm empfinden, wenn sie merken, dass ihr sie schon kennt. Sie werden sich wundern: „Ich habe ihnen kaum noch etwas gesagt und Sie kennen mich schon ganz gründlich.“ Ihr habt dann solche Seelen bereits gewonnen und besitzt deren volles Vertrauen.“

Was ich hier sage, bezieht sich immer nur auf euer Predigtamt, auf die Missionen, auf die Erziehung und auf die Seelenführung. Man hat ganze Bände über die Seelenkenntnis, über die Unterscheidung der Charaktere geschrieben, wie es auch Werke gibt, die z.B. über die Chemie handeln. Man kann dort gewiss recht brauchbare Sachen finden und ihr sollt sie bei gegebener Gelegenheit benutzen. (…) ihr aber selbst in der praktischen Lage, euch ein persönliches Urteil zu bilden, dann seid ihr gewiss günstiger daran. Also lasst uns denn immer den Nebenmann tüchtig studieren? Nein, gewiss nicht. Aber ihr sollt Nutzen ziehen aus den Umständen, die sich darbieten. Habt ihr nähere Beziehungen zu einer Person, dann benützt sie dazu, um den Reichtum eurer kleinen Beobachtungen zu bereichern und eure Erfahrungen zu vermehren. Wie viele Menschen verlieren unendlich viel Zeit in langwierigen Forschungen auf irgendeinem Gebiete, z.B. Chemie, Physik, Botanik. Und doch ist das keine verlorene Zeit. Auf solcher Forschertätigkeit beruht vielmehr der Fortschritt der Wissenschaft. Machen wir es ebenso. Benutzen wir unsere Zeit auch ein wenig, um die Charaktere der einzelnen Menschen kennen zu lernen und zu erfassen. Um euch zu vergewissern, welche Vorteile und günstige Seiten sie haben und was man ihnen alles zumuten darf. Wissen wir das, dann haben wir ein untrügliches Zeichen in der Hand, um diese Seelen zu gewinnen und unseren Einfluss auf sie auszuüben, aber immer mit der Absicht, um ihnen das Wort Gottes zu vermitteln.

Das ist auch rechte Sinn des priesterlichen Studiums… Macht euch alles dienstbar, um zu diesem Ziel zu gelangen, das ihr jederzeit vor euren Augen behalten sollt. Es hat wenig zu sagen, mit wem ihr es zu tun habt, es wird sich gleichbleiben, wohin man euch schickt: ihr werdet bereit sein zu sprechen, gerüstet, um das Gotteswort zu verkünden. Lebt ihr aber so in den Tag, ohne euch um dieses Ziel zu kümmern, ja was soll man, um es noch einmal zu sagen, was soll man mit euch anfangen? Sie sind fein gebildet? Nein, dann werden Sie Literaturprofessor und mischen Sie sich nicht in das Geschäft des Predigers und Seelenführers. Sie werden für Dünger dieser Erde, für praktische Fälle kein Verständnis haben. Sie werden davon nichts begreifen. Sie werden höchstens große Augen machen und nichts sehen. Was wird dann Ihnen übrig bleiben, als in ihrem Studierzimmer zu bleiben.

Ihr müsst also bereit sein, euer Lehramt vor den Seelen auszuüben: „Docete omnes gentes.“ (Anm.: „Lehret alle Völker…“). Ihr müsst sie unterweisen, unten im Beichtstuhl, oben auf der Kanzel bei den Katechesen. Beutet alles aus. Sammelt euch den einschlägigen Stoff in eurer Sammelmappe, in eurem Kopf, in eurer Erfahrung. So werdet ihr Männer sein, fähig, etwas Ordentliches zu sagen und zu tun und das Werk des Heilandes fortsetzen.