5. Die Furcht vor der Sünde
Meine Kinder, ich denke, dass ihr in guter und heiliger Verfassung seid. Heute ist der letzte Tag eurer Exerzitien. Dieser Tag soll noch besser sein als die anderen. Unterhaltet und vergnügt euch während der Freizeit gut, seid aber die ganze übrige Zeit recht gesammelt, denkt an Gott, sprecht mit ihm in der kleinen Kammer eures Herzens. Ich wünsche sehr, dass ihr euch alle Tage eures Lebens an das erinnert, was ich euch heute sagen will.
Vor sehr langer Zeit hörte ich die Beichte eines armen Arbeiters, der an Altersschwäche starb. Ich war ein ganz junger Priester. Es war einige Tage nach meiner Priesterweihe. Als mich der Mann eintreten sah, schaute er mich an und sagte: „Sie sind sehr jung, meine Beichte zu hören.“ – „Wollen Sie einen anderen Priester?“ – „Nein, Sie gefallen mir gut.“ Er beichtete also und ich war sehr erstaunt, bei ihm eine so große Zartheit des Gewissens zu finden. Leider hatte die Übung aufgegeben, jedes Jahr zu beichten, und das seit vielen Jahren. Er war Ausländer und beherrschte unsere Sprache (Anm.: „die französische Sprache“) schlecht. Ich sagte ihm: „Wie kommt es, dass Sie einen so großen Glauben und eine solche Furcht vor der Sünde bewahrt haben?“ Da streckte er seine beiden mageren Hände vom Bett aus, erhob sie zum Himmel und sagte: „Als ich ein Kind war, und die Erstkommunion empfing, hat man uns gesagt, wir müssen alles tun, was wir können, um die Sünde zu meiden, und ich hatte immer große Furcht, Gott zu beleidigen.“
Ich sah also das lange Leben dieses Mannes. Obwohl er die Übung aufgegeben hatte, zu den Sakramenten zu gehen, hatte er die ganze Zeit getan, was er konnte, um die Sünde zu meiden, ja sogar die kleinsten Fehler. Wie betroffen war ich darüber! Ich war ein junger Priester, wie ich euch schon gesagt habe, und ich wusste nicht, dass ein Vorsatz, den man im Augenblick der ersten heiligen Kommunion fasst, noch solchen Einfluss auf einen so alten Mann haben kann.
Der Entschluss, den ihr heute fassen werdet, liebe Kinder, muss ebenso lange halten wie der dieses Mannes, dessen Beichte ich gehört habe. Wenn ihr wüsstet, wie Gott jene liebt, die alles tun, was sie können, um keine Sünde zu begehen! Er liebt sie so sehr, dass die Gute Mutter Maria Salesia Chappuis sagte, eine ganz unschuldige und recht fromme Seele, die nur auf Gott schaut, ist allmächtig über sein Herz.
Wie schön ist es, so zu sein, liebe kleine Freundinnen! Wenn ihr manchmal unfreundlich seid, – die einen nur ein wenig, andere mehr – dann sagt: „Mein Gott, es tut mir sehr leid, dass ich so bin“, und seid es nicht mehr. Wenn ihr treu seid, Gott nicht zu beleidigen, wird Gott euch lieben, wie er den hl. Aloisius von Gonzaga liebte, die hl. Agnes, die hl. Lucia und vor allem die heilige Jungfrau. Die gebenedeite Jungfrau lebte im Tempel, nahe beim Altar des Herrn, ganz rein. Wie wünschte ich, dass er euch alle Tage eures Lebens so liebt wie diese so heiligen Seelen! Meine Kinder, sagt oft: „Mein Gott, mein Herz will rein und keusch bleiben. Meine gute heilige Mutter, mache, dass ich werde wie du!“
Ihr müsst also alles tun, was ihr könnt, um die Sünde zu meiden, und müsst euch sagen: „Ich will keine Sünde begehen in meinen Gedanken und vor allem in meinem Herzen. Oh nein, ich will es nicht. Sobald ich sehe, dass ein Wunsch sündhaft vor Gott ist, will ich vor ihm fliehen wie vor einer Schlange.“ Die Schlangen in Amerika z.B., die in den Wäldern sind. Plötzlich sieht man ihren Kopf, der sich bewegt, die Zunge, die aus ihrem feurigen Rachen schießt, wenn sie ihr Opfer suchen. Wenn dieses nicht die Flucht ergreifen trachtet, sobald es die Schlange erblickt, wird es durch den Blick des Feindes gebannt und wird sogleich seine Beute. Die Schlange verschlingt es auf einen Schlag.
Meine Kinder, flieht, sobald ihr euren bösen Willen gewahrt! Wenn ihr die Sünde meiden wollt, dann betrachtet den Gedanken, den Wunsch nicht. Wenn ihr am Morgen aufsteht, und an eurer Kleidung etwas fehlt, möchtet ihr wohl ein wenig brummen. Tut es nicht, und schon ist eine Sünde vermieden! Ihr kommt in das Pensionat und eine Mitschülerin hänselt euch. Ihr hättet Lust, ihr ein etwas verdrießliches Gesicht zu zeigen. Tut es nicht, und wieder ist eine Sünde vermieden. In der Freizeit möchtet ihr ein wenig schmollen, nicht mit einer bestimmten Schülerin spielen: folgt dieser Regung nicht, seid im Gegenteil recht freundlich zu der, von der ihr euch fernhalten möchtet, und das ist wieder ein Fehler weniger. Merkt euch das gut, liebe Kinder. Später in der Welt werdet ihr unter vielen Umständen leben, wo euer Gewissen nicht mehr in Ordnung sein könnte, wenn ihr nicht jetzt beginnt, darauf zu achten. Die Sünden trennen von Gott, sie trennen vom Himmel, vergesst das bitte nie!
Ihr werdet also den festen und hochherzigen Entschluss fassen, die geringsten Fehler zu meiden. Gott senke in eure Herzen, liebe kleine Freundinnen, so viel Liebe zu ihm, und so großen Abscheu vor der Sünde, dass er sich in eurer Seele spiegeln kann, wie die kleine Taube sich im Wasser spiegelt. Dann wird euch unser Herr sagen: „Das ist das Kind, dem ich meine ganze Liebe geschenkt habe, das Kind meines Herzens!“ Dann wird er zu den Engeln und Heiligen sagen: „Hört es an, tut recht, um was es euch bitten wird, denn es lebt nicht mehr selbst, sondern ich lebe in ihm.“ – So wird es alle Tage eures Lebens sein, liebe Kinder, wenn ihr treu seid, um die Sünde zu meiden. Das wünsche ich euch von Herzen.
