Kapitel vom 18.10.1899: Das Noviziat ist der Anfang eines Weges, nicht Erreichen eines Zieles
Heute sind wir in großer Zahl zusammengekommen. Als unser Herr mit seiner Mission begann, hatte er nicht so viele Männer um sich. Und doch hat diese kleine Zahl eine Welt bekehrt. Es ist ja wahr, dass das die Apostel teuer zu stehen kam: ein ganzes Leben voller Arbeit, Kämpfe und Opfer, und selbst den Kopf kostete es sie, da alle Martyrer wurden. Der hl. Johannes hatte nicht diese Ehre, verdient aber gleichwohl den Namen eines Blutzeugen.
Darin liegt für uns, meine Freunde, eine wichtige Lehre, die wir tief in unser Herz graben sollten: wir werden bei den Seelen nur das vollbringen, was wir selbst sind. Begreifen wir das wohl: mögen wir durchaus erbärmliche, unbrauchbare Sünder gewesen sein, wir können den Seelen dennoch Dienste erweisen, die in dem Maße Wirkungen hervorbringen, als wir Opfer bringen. Die Gute Mutter übte ein wahres Apostolat aus. Man stellt sich gern vor, das habe sie keine Opfer gekostet. Nun, ich habe sie gesehen und betrachte sie als eine der abgetötetsten Seelen, die ich je kennengelernt habe. Sie legte sich zwar keine übermäßigen körperlichen Bußübungen auf, obwohl sie z.B. während einer Krankheit fünf Tage lang gar nichts gegessen hat, ein Fasten also, das ihr wenig Ordensleute nachmachen könnten. Sie tötete sich dem augenblicklichen Willen Gottes unterwarf, indem sie sich den Anforderungen der klösterlichen Observanz beugte und sich in allem ganz und vorbehaltslos hingab. Niemals machte sie nur halbe Sache. So heiligte sie sich selbst und wurde Ursache für die Heiligung vieler anderer. Zu ihrer Insassen auf vollkommene Weise erfüllt wurde. Wem verdankte das? Nun, der Guten Mutter. Und wem verdankte sie es? Ihrer rückhaltlosen Treue zur hl. Regel.
Ihr seid alle zu uns gestoßen, um an eurer persönlichen Heiligung wie an der der anderen zu arbeiten. Meine Freunde, ihr werdet nur so viel wert sein als ihr hergebt. Diese Wahrheit schrieb man auf den Grabstein eines hohen Herrn auf dem Friedhof von Genua: Ich nehme nur das mit, was ich hergab…
Es ist zwecklos, Priester und Ordensmann zu werden, wenn man seinen Auftrag, sein Programm nicht erfüllt. Kann man das bereits am Anfang seines Noviziates? Nein. Nach 5 oder 10 Jahren? Auch nicht. Es ist Aufgabe des ganzen Lebens, Arbeit eines jeden Tages und eines jeden Augenblickes. Damit müssen wir uns abfinden: „Es ist gut für den Mann, wenn er sein Joch von Jugend an trägt.“ Jawohl, es ist gut, nicht frei über seine Vorstellungen, seine Handlungen und sein Wollen verfügen zu wollen, sondern alles dem Willen Gottes und dem Gedanken an die Gegenwart Gottes zu unterwerfen.
Solch ein Leben ist aber unmöglich! Nein, es ist möglich und ist das große Mittel, um glücklich zu werden. Man fasst einen festen Vorsatz und geht in aller Einfachheit an seine Ausführung. Es kommt nicht darauf an, dass man mit Todesverachtung an sich herum hämmert, sondern wir ziehen wie der Magnet die Lasten Stück für Stück, ganz vorsichtig und ohne Heftigkeit, an uns. Denn alles Heftige währt nicht lange.
Bei der Betrachtung bereiteten wir unser Tagewerk vor mit dem lieben Gott zusammen, sehen unsere Fehler voraus, geben darauf acht, tun dies mit Beharrlichkeit und Ausdauer gemäß unserem Ordensmotto: (Anm.: „Französischer Text infolge von Druckfehlern unklar.“). Das Direktorium, hl. Messe, Gesundheit und Krankheit, Prüfungen und Tröstungen. Machen wir es wie der Kaufmann, der jeden Morgen seine Geschäfte vorbereitet. Handeln wir wie der Staat, der Millionen gewinnt durch Fabrikation von Streichhölzern. Was ist ein Streichholz schon wert? Den hundertsten Teil eines Centime, also nichts….
Die Treue zum Direktorium bedeutet ein Höchstmaß an Weisheit, eine Fülle von Gnaden. Werden wir dabei ohne Unterbrechung unter dem Joch sein? Warum denn nicht? Im Seminar habe ich das erlebt: nicht ein einziges Wort außerhalb der Hausordnung! Man tat das im Geist des Glaubens. Und alle, die es taten, wurden heilige Priester. Wollt ihr es ihnen gleichtun? Dann gebraucht die Mittel: Folgt eurem Direktorium, haltet euch an den gegebenen Gehorsam, so wie unser Herr, der erste Oblate, es getan hat, gemäß dem Wort des Bischofs von Nizza: „Er hat sich geopfert, weil er es selber wollte.“ So sollt auch ihr zu euch selber sagen: Ich bin Oblate, weil ich es selbst gewollt habe.
Nicht trägt mehr zur Entfaltung einer Persönlichkeit bei als diese Lebensweise. Nichts verleiht mehr Fähigkeiten, Erleuchtungen und Einsichten, und diese Erleuchtungen werden zu eurem Eigentum! Wenn ihr sie gebraucht, bringen sie ihre Wirkung hervor. Sie entstammen ja nicht einem Buch, Gott selbst erhellt euren Geist. Welche Schule, welche Universität hat der hl. Paulus besucht? Wo hat er seine akademischen Grade in Philosophie und Literatur erworben? Und doch, wer hat je gesprochen wie er, wer ist wie er in die Tiefen der Gottvereinigung eingedrungen? Nun, auch euer Leben mit dem Direktorium wird euch zu Theologen und Gelehrten machen. Denn dadurch wird unsere Seele, wie der hl. Bernhard sagt, der Spiegel der Gottheit. Gott macht es Freude, sich darin zu spiegeln. Und wir schauen darin die göttlichen Vollkommenheiten. Wie aber dahin gelangen? Mit Hilfe tiefschürfender Überlegungen? Indem man sich den Kopf zermartert? Nein, man muss vielmehr ganz einfach sein Direktorium beobachten. Indem man sich unterwirft, erwirbt man die Gabe der Gottvereinigung und der Einsicht. Die Gute Mutter sagte, die Erbsünde habe mehr den Verstand getrübt als den Willen geschwächt. Gott also muss uns erleuchten.
Studiert in dieser Gesinnung die Theologie, den Traktat über die Eucharistie z.B., in der Schule des hl. Thomas und der großen Interpreten. Dann werdet ihr selbst erfahren und erleuchtet. Diese Sammlung unserer Fähigkeiten bewirkt, dass das göttliche Licht sie durchdringt und belebt. Dann ist man kein leeres Echo mehr, man wird vielmehr ganz Sprachrohr Gottes. Alles, was ihr dann erworben habt, geht in eure Natur ein, wird euer Eigentum, wird eins mit euch.
Wie aber dahin gelangen? Durch das Direktorium. Es wird zu einem Etui, das eure Reichtümer einschließt, wird der Glaskolben des Chemikers, wo alle Elemente eine neue Form erhalten.
Sich gut ans Direktorium halten wird für uns also zu einer wesentlichen Sache. Warum war unser hl. Stifter ein so tüchtiger Seelenführer? Weil er es verstand, dem Menschen ein Betätigungsmittel in die Hand zu legen. Mit Hilfe des Direktoriums gestaltet und befruchtet er alle Bewegungen, wird alles verübernatürlicht und vergöttlicht. Keine außergewöhnlichen Ideen finden sich darin: es ist das reine Evangelium. „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ und ferner: „Man muss allezeit beten und nie darin nachlassen…“ Ohne Unterlass beten? Da bleibt ja keine Zeit mehr zum Schaffen? … Da kommt der hl. Franz v. Sales mit seinem Büchlein, das uns in unablässiger Gebetsverfassung her ist das ein unvergleichlicher Reichtum. Es vermittelt uns einen Vorrat, einen Reichtum, eine Gewohnheitshaltung, die uns in allem ohne Ausnahme Gott näherbringt. Gewiss ist das nicht leicht. Als ich mich widersetze, sagte sie: Der liebe Gott ist es aber wert, dass man alles gibt…
Und das ist nicht leicht, alles zu geben. Damit wäre man einer der größten Heiligen des Himmels. Ein Wort, das man aus Gehorsam nicht sagt, sieht nach gar nichts aus. Und doch ist dies Nichts ein Akt der Liebe, der euch berechtigt, von Gott eine Teilnahme an seiner Allmacht zu erbitten, ein Liebesakt, der euch ein Anrecht auf seine Gnade einräumt… Da seht ihr, welch hohe Weisheit und tiefe Philosophie diese Treue darstellt! Fangt also damit an, dann wird euch all das sicher sein. Auf diese Weise vermeidet man sehr viele Fehler: die Zunge z.B. lässt uns Sünden gegen die Liebe, die zarte Rücksichtnahme, die Demut und Wahrheit begehen. Wer sein Direktorium hält, meidet all diese Fehler. Und wenn gar eine ganze Kommunität auf diesem Weg dahin schreitet, bleibt nichts mehr zu wünschen übrig: es ist ein Stück Paradies! Ich übertreibe nicht. Tut es und ihr werdet es selbst erleben.
D.s.b.
