Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 19.07.1899: Festhalten an der Methode des hl. Franz v. Sales

Die ersten Kapitel des Direktoriums beweisen, wie hoch der hl. Stifter die klösterliche Vollkommenheit einschätzte. Wie er in der Treue des Ordensmannes das Geheimnis unendlichen Glücks erblickte, wie er für jeden Ordensmann die Notwendigkeit betonte, ganz mit Gott vereinigt zu leben. Diese Gottvereinigung ist zweifellos eine im höchsten Grad wünschenswerte Sache, ist Fundament der Heiligkeit. Seht nur, welchen Wert er ihr beimisst: die so eingestellten Seelen sind eine Freude, seine Krone, das Namensregister, das er Gott darreicht und das sein Herz erfreut. Was er da sagt, wurde mir oft von der Schwester Maria-Genofeva wiederholt, lange Jahr vor ihrem Tod. Sie sagte mir vieles voraus, was bereits in Erfüllung gegangen ist. Andere Voraussagen harren noch der Erfüllung. Wie oft hat sie mir versichert, der liebe Gott habe ihr den hl. Stifter sehr beschäftigt gezeigt. Er erhalte zahllose Gnaden für die Seelen, die darauf abzielten, diese in ganz besonderer Weise mit Gott zu verbinden. Und das trage dazu bei, den Einfluss der hl. Kirche auszubreiten.

Zu diesem Zeitpunkt sprach man noch sehr wenig vom hl. Franz v. Sales. Man begann kaum, in den Priesterseminarien zu lesen. Menschlich gesprochen war es einem armen Landmädchen also unmöglich, diese Resultate vorauszusehen… Ist das aber nicht die Verwirklichung der Wünsche des hl. Franz v. Sales? Wir haben kein anderes Ziel, meine Freunde, als uns zu bemühen, all unseren Handlungen durch die Vereinigung mit Gott Leben einzuhauchen, um nur noch in ihm ein- und auszuatmen, und unsere Werke Frucht tragen zu lassen. Das ist die Gnade der Gnaden. Man erwirbt sie freilich nur mit Hilfe zweier Mittel: der Abtötung und der Treue. Ihr werdet eifrigen Seelen im Leben begegnen, die sich kein Gewissen daraus machen, sich in ihrer Haltung, ihrer Sprache und ihrem Denken Freiheiten herauszunehmen, sich aber dafür Bußübungen und Fasten aufzulegen. Das ist sicher sehr verdienstlich. Ohne Zweifel gibt es aber einen sichereren Weg: Die Treue zu den kleinen Dingen, zu den unscheinbarsten Einzelheiten der inneren und der äußeren Regel. Sich etwas zurückhalten in der Unterhaltung, einen kleinen Zwang auferlegen in der Haltung, pünktlich sein im Gehorsam: ist das dann nichts? …

Mit solchen Nichtsen stößt man aber zum Kern der Dinge vor: man zerstört seinen Eigensinn, sein ichbefangenes Urteil, seinen Geist der Unabhängigkeit und des Stolzes. Schwimmt man aber wie ein toter Fisch zwischen zwei Wassern, schert man sich nicht um Abtötung und Treue, nimmt man im Noviziat seine Pflicht auf die leichte Schulter, dann verdient man den Fluch der Geheimen Offenbarung: Du hat den Namen, dass du lebst, und bist doch tot.

Immer komme ich auf dieselben Gedanken zurück. Aber es liegt eben eine unausschöpfbare Fundgrube darin verborgen. Nicht deshalb ist man ein kleiner Wicht, weil man sich mit den kleinen Dingen abgibt. Nicht der sich in die Höhe emporschnellt, ist ein großer Mann, sondern der, der von tief unten ausgeht, um immer höher emporzusteigen.

Denkt ernstlich darüber nach. Außerhalb dieser Linie sich zu bewegen, sind keine Novizen denkbar. Das heißt es verstehen und sich danach richten. Um ein tüchtiger Schreiner zu werden, genügt es nicht, dicke Bücher zu lesen. Man muss sich vielmehr in allen Arbeiten des Handwerks betätigen. Das gilt auch für die Ausbildung von echten Ordensleuten. Nur unter dieser Voraussetzung wird das Noviziat zu einem Haus göttlicher Zwiegespräche, einem Ort der Erbauung und des Friedens.

Heutzutage werden die Menschen immer anspruchsvoller. Vermeidet darum jene Freiheit der Sprache, des Gesangs und der Manieren, die die Fremden mit Recht verletzt, weil sie in direktem Gegensatz zu unserem Geist steht.

In anderen Orden hat man eine andere Art der Ausbildung. Einer meiner Mitschüler, P. Picardat, erzählte mir, im Noviziat der Jesuiten werde man einem äußerst strengen Training unterworfen. Es werden einem manchmal höchst mühsame Aufträge übertragen. Werden sie schlecht ausgeführt, so werden einem beschämende Rügen und Bußen nicht erspart. Das alles, um einen auseinander zunehmen und zermalmen, für die Ordensregel geschmeidig und biegsam zu machen.

Wir kennen diesen Geist bei uns nicht. So wollen wir wenigstens die Mittel nicht vernachlässigen, die uns zum gleichen Ziel führen sollen. Ohne das keine Oblaten! Ist das kein raffinierter Mystizismus? Sich liebend dem Gehorsam unterwerfen, frohen Herzens Enttäuschungen oder unangenehmen Aufträge annehmen, unablässig zur Verfügung des lieben Gottes stehen, nein, das ist kein Mystizismus. Vielleicht haben Frauen mehr Verständnis für die Feinheiten dieses Lebens, doch scheint der Großmut der Männer besser geeignet, es zu verwirklichen.

Nun, dieses Leben hat die Verheißungen des ewigen Lebens für sich. Der hl. Franz v. Sales erschließt uns diesen Weg und wir haben überhaupt keinen anderen.

Hegen wir darum große Ehrfurcht voreinander! Das zerstört die Freundschaft nicht. Im Gegenteil, es sichert uns treue, sichere und ergebene Freunde, während die so genannte Kameradschaft nichts für uns ist. Es ist zwar keine Sünde, aber der Untergang des klösterlichen Geistes.

„Wer aber wird mir, oh Gott, so viel Gnade erwirken, dass der Allmächtige auf mein Verlangen höre: dass er selbst dieses Buch schreibe und ich es…“

Seht nur, welche Poesie und welche Begeisterung dieser Ausruf des hl. Stifters atmet! Welch hohe Vorstellung vermittelt uns das vom großen Tag unseres Profess! Oh, wäre doch jeder davon ganz durchdrungen, dann gäbe es keine Ordensleute, die schon am Abend und am folgenden Tag ihrer Priesterweihe oder Profess es fertig bringen, die Erlaubnis zu entlocken, einige Tage in Paris zu verbringen, um sich dort zu ergehen und zu zerstreuen. Hatten sie denn in diesem Augenblick dem lieben Gott gar nichts zu sagen? Brauchten sie also eine Ablenkung und Zerstreuung? Das war für mich, ich gestehe es, eine der großen Bitterkeiten meines Lebens. Und ich muss gleich hinzufügen, dass von all diesen Ordensleuten nicht einer bei uns blieb.

Ihr dagegen, haltet euch fest an die Methode des hl. Franz v. Sales! Sie hat einen hl. Vinzenz, einen hl. Alfons, einen Bossuet hervorgebracht! Und es ist das, was Gott von euch wünscht und die Seelen von euch erwarten… Gestern erhielt ich den Brief einer Prinzessin, der Enkelin eines Königs. Sie bat mich um die Mittel, sich nach dem Geist der Oblaten und Oblatinnen zu formen, als dem „geistlichen Weg mit Auszeichnung“. Sie ist eine Person von hoher Bildung, die die Jesuiten, die Oratorianer, etc. kennt. Sie ist aber überzeugt, dass unser Weg ungemein fruchtbar und höchst geeignet ist für alle Lebenslagen. Mache sich also jeder und mit ganzem Herzen an die Arbeit!

D.s.b.