Kapitel vom 28.06.1899: Ernst, Maß und Frömmigkeit
„Ihres ganzes Lebens und all ihrer Übungen Ziel soll sein, sich mit Gott vereinigen…“
Diese Worte so kurz und so voll tiefen Sinnes.
„Daher dürfen sie nach nichts so sehr verlangen als dermaßen tugendhaft zu sein, dass der Wohlgeruch ihrer Tugend Gott erfreue und auch in die Herzen…“
Vereinigung mit Gott und Erbauung des Nächsten sind die beiden Mittel, die uns bei hl. Stifter für das Apostolat vorschlägt. Glaubt nur nicht, das seien leere Phrasen, aufs Geratewohl hingesprochen. Nein, er fordert vielmehr mit voller Absicht dazu auf, da man mitunter zu haben scheint, ihre ganze Wichtigkeit zu erfassen.
Es kommt mir immer wieder in den Sinn, mit welchem Herr Lejeune, der Obere des Kleines Seminars, uns den Satz des Trienter Konzil: „Nichts als Ernst, Maß und Frömmigkeit atme ihr Benehmen.“ Ein tiefer Eindruck blieb uns allen davon im Gedächtnis. Wenn das aber von einfachen Weltgeistlichen gilt, wie viel mehr vom Ordensmann! Das Direktorium wünscht, wir Oblaten sollen die Seelen der Gläubigen durch den Wohlgeruch unserer Tugenden zu Gott hinführen. Das Direktorium ist aber für uns verpflichtend, da es einen wesentlichen Bestandteil unserer Satzungen bildet. Es will, dass wir auch in unserem Äußere unsere Frömmigkeit und Sammlung beweisen, damit diese bis in die Herzen der Gläubigen dringe und sie für den Glauben gewinne. Es geht hier folglich um den wichtigsten Punkt unserer Verpflichtungen.
In den anderen Orden sind es Fasten und Geißelungen, bei den Jesuiten die Mühen der Predigttätigkeit und die Unterwerfung unter einen strikten Gehorsam, der den Willen bricht. Und damit gewinnen sie die Seelen. Bei uns aber sind die Mittel, Bekehrungen herbeizuführen, gerade unsere inneren und äußeren Dispositionen. Falls wir also die Empfehlungen des Tridentinums nicht verwirklichen, sind wir keine Oblaten und erreichen nichts.
„Nichts als Ernst…“
Zunächst muss ein Oblate alles Unschickliche ächten. Gewiss ist zu unterscheiden zwischen Kameradschaft und Kameradschaft. Ich kannte sehr viele Seminariten, die eine gute und lobenswerte Zuneigung untereinander verband. Was vermieden werden muss, ist das Leichtfertige in unseren Beziehungen, das zum Sichgehenlassen verleitet, zur Sucht nach Bequemlichkeit und sogar zu Unanständigem
„Aber wir sind doch unter uns“, wird man mir entgegenhalten… Nein, sondern ihr seid in der Gegenwart Gottes und eurer hl. Regel. Richtet ihr euer ganzes Verhalten nach diesen Prinzipien, dann wird die Freundschaft, die darauf aufbaut, eine solide und ernste sein, durch Gebet und Sammlung geheiligt, wird zu einem Herzensband werden. Um einen echten Oblaten zu haben, bedarf es dieser Voraussetzungen, die zweifellos eine beständige Abtötung mit sich bringt, einer Abtötung, die Rom für hinreichend erklärte gegenüber dem Kapuziner, der in unsere Satzungen einige Spezialbußen aufnehmen wollte.
Wenn dagegen unsere gegenseitigen Beziehungen in vulgäre Kameradschaft ausarten, sind diese ganz schlecht. Ich bestehe leidenschaftlich auf diesem Punkt, denn gerade im Noviziat müsst ihr euch die Verhaltensweisen angewöhnen, die ihr in unseren Häusern wie in der Gesellschaft draußen beachten sollt, wo immer euch der Gehorsam hinschickt. „Aber“, werdet ihr sagen, „das ist doch Sache eines persönlichen Charakters. Man handelt halt so, wie einen das Temperament leitet…“ Oh nein, dieses Verhalten müssen wir uns durch Tugendübung zulegen. Es ist etwas anderes, wenn ein Seminarist sich derlei Vertraulichkeiten herausnimmt. Eines Tages sitzt er in seinem Pfarrhaus als eigener Herr, verkehrt mit den Konfratres der Umgebung, die dieselben Gewohnheiten haben. Ihr aber müsst euch auf einen ganz anderen Standpunkt versetzen. Ihr sollt euch untereinander nicht anders verhalten als unter Fremden, mit gleicher Zurückhaltung und im gleichen Ton guter Erziehung. Auf diesen Punk legt man ungeheures Gewicht in den Noviziaten aller Orden, wie z.B. bei den Jesuiten.
„Nichts als…Maß…“
Lasst Mäßigung walten! Was unsere Arbeit betrifft, bedarf es, glaub ich, dieser Auffassung nicht. Wir alle haben es sehr gern, wenn die Arbeit hinter uns liegt… Es schiene aber wohl nicht unangebracht, euch einzuladen, etwas größeren Eifer bei eurer täglichen Arbeit zu zeigen. Oh, wie sympathisch sind mir junge Kleriker und junge Ordensleute, die arbeiten und beten gleichermaßen. Alles andere taugt nichts.
Ich bin heute streng, nicht wahr, meine Freunde. Habe ich unrecht? Seht euch den heutigen Klerus doch an, über den der Papst klagt. Er sieht darin eine Folge mangelnder sittlicher und religiöser Erziehung. Wir müssen da achtsam sein, und in allem, in Erholung, Haltung, Essen und Trinken Zurückhaltung üben, und jene Einfachheit, die so hohe Achtung verdient, dass der hl. Paulus kein wirksameres Mittel wusste, um die ersten Christen zu überzeugen als eben diese Haltung und Verhaltensweise Christi selbst: „Ich beschwöre euch bei der Sanftmut und Bescheidenheit Christi…“ Bemühen wir uns, in jeder Lage daran festzuhalten, damit man in uns Jesus Christus sehe und wir jeden Augenblick bereit sind, jene Ketten zu tragen, von denen der hl. Paulus spricht.
„Nichts als… Frömmigkeit…“
Fügen wir zu dieser Zurückhaltung und Bescheidenheit noch die Frömmigkeit, den sanften Einfluss der übernatürlichen Einstellung. Und ich möchte noch hinzufügen: fügen wir die Nächstenliebe hinzu, jenes einzige Band, mit dem der hl. Stifter alle seine Kinder verbinden wollte, da es weitgehend hinreicht, um die klösterliche Vollkommenheit zu erlangen. Bei den Oblatinnen konnte ich die entsprechende Erfahrung machen. Zu einem gewissen Zeitpunkt wollte ich sie nicht einmal mehr beichthören, so schienen sie mir im Widerspruch zu mir zu leben. Da kam mir der Gedanke, sie das Gelübde der Nächstenliebe ablegen zu lassen. Und von diesem Augenblick an klappte alles aufs Beste. Und jetzt sagen Außenstehende gern zu mir: Wäre ich noch ein junges Mädchen, würde ich Oblatin. Man sagte mir das aber nicht von den Oblaten. Nein, das ist keine Nächstenliebe, gegen seine Nachbarn und Oberen loszuziehen. Was wird die Folge davon sein? Dass das Herz einen Ersatz sucht: betätigt es sich nicht in der Liebe zum Nächsten, verfällt es in Partikularfreundschaft. Was gibt es aber Schmählicheres und Stupideres als solche sinnlichen Anhänglichkeiten!
Dass man sich dazu versucht fühlen kann, braucht uns noch nicht zu verwundern, das geht uns allen so. „In Sünden empfing mich meine Mutter.“ Doch der liebe Gott lässt die Gnade da überfließen, wo die Heimsuchung zunimmt. Werden wir aber auf Grund dieser Tatsache, und dank der Gnade Gottes etwa sündenlos? Das nicht, aber es ist etwas anderes, wachsam dahinzuleben, und etwas anderes, seinen Leidenschaften zu frönen. Misstraut denen, die sich ihrer Ehrlichkeit rühmen und sich über andere erhaben fühlen. Gott wird sie im Stich lassen und sie werden tief fallen, weil sie stolz sind. Die Tugend hat keine andere Grundlage als die Demut und das Misstrauen gegen sich selbst.
Ich lade euch ein, in dieser Woche besonders auf das zu achten. Seid eifrig in dieser zarten Rücksichtnahme zueinander, gegenüber alten wie jungen Mitbrüdern. Wenn ihr eure Kräfte erlahmen fühlt, dann ruft Gott um Hilfe an. Aus eigener Kraft erwerbt ihr keine Tugend.
Gelingt das auf den ersten Anlauf? Oh nein, das ist eine Arbeit fürs ganze Leben. Wir brauchen uns über unsere Fehler nicht aufzuregen, vorausgesetzt, dass unser Wille unentwegt Gott sucht, und das vom ersten Tag unserer Ausbildung an. Es ist nicht als normal anzusehen, dass einer im Seminar ein Taugenichts war und später Gutes hervorbringt. Ihr Novizen müsst das umso mehr beachten, da ihr noch Lehrlinge seid in eurem Handwerk. Die Treue zu dieser Übung ist die beste Garantie für einen energischen Charakter. So haben meine Mitseminaristen gehandelt, ich sehe sie in meiner Erinnerung noch heute.
Die einen sind heiligmäßige Priester geworden, die anderen sind bedeutungslose Wesen geblieben. Es fällt uns nicht schwer, jene auszusuchen, die wir nachahmen wollen.
D.s.b.
