Kapitel vom 12.04.1899: Vollkommenheit als Oblate
Es ist notwendig, meine Freunde, dass ihr ernste Männer werdet. Ihr seid weder Seminaristen noch Schüler. Das Ordensleben übt seine Macht vor allem auf junge Menschen aus. Der hl. Aloysius, der hl. Stanislaus waren bewundernswerte Ordensleute, und Gott wartete nicht auf ihr reifes Alter, um ihnen den Siegeskranz zu verleihen.
Man kann folglich die klösterliche Vollkommenheit schon in der Jugend erringen. Und das muss sogar geschehen, da der Wille da noch geschmeidiger, die Ideen noch nicht so starr und der Egoismus noch nicht so tief eingewurzelt ist. Ihr solltet also jetzt schon an eurer Heiligung arbeiten. Später werdet ihr erkennen und konstatieren, dass das, was euch haften geblieben ist, genau das ist, was ihr euch in der Jugend angewöhnt habt.
Es ist der Gedanke und die Überzeugung, dass ihr euer Leben zu einem innerlichen machen müsst. Alles Übrige mag dieses Leben der Innerlichkeit unterhalten, aber das Fundament dazu müsst ihr heute schon legen. Es ist eine Erfahrungstatsache: wenn ihr euch ernst z.B. dem Studium hingebt, werdet ihr davon euer ganzes Leben hindurch die Folgen verspüren. Setzt euch darum fest in den Sinn, dass ihr in diesem Augenblick eure ewige Zukunft grundlegt, und gleichzeitig die von vielen anderen. Vernachlässigt ihr aber diese Aufgabe, werden sehr viele Menschen ihres Heiles verlustig gehen.
Müssen solche Gedanken traurig und unerträglich machen? Nein. Wer die Regel treu beobachtet, findet darin immer Frieden und Glück. Gebt euer Herz großmütig dem Dienst Gottes und des Nächsten hin, dann werdet ihr es später fürs Gute gestärkt und geadelt wiederfinden. „Die Stunde ist da, vom Schlafe aufzustehen.“ Wenn ihr die Jahre eurer Jugend vergeudet, ist das ein ungeheures Unglück. Das wird euch eines Tages ganz klar werden. Weit umso mehr genießen. Denn niemand ist freier als der, der Gott gehorcht und zwar Gott allein, und der in beständiger Vereinigung mit dem Willen Gottes lebt.
Im Gebet und in der so verstandenen Arbeit findet ihr eine Stütze und einen Trost in euren Verdrießlichkeiten und Schwierigkeiten, die euch euer Charakter wie der der anderen verursacht, genau wie in den Reibereien des Gemeinschaftslebens. Im Übrigen, hätten wir keinen anderen Grund zu leiden, müssten wir uns dann nicht geehrt fühlen, den Kelch zu verkosten, den unser Herr bis zur Neige geleehrt hat? Wird die Prüfung, wie sie auch immer aussehen mag, entschlossen angenommen, so legt sie in unserer Seele ein anderes verstehen. Man geht doch nicht ins Kloster, um sein tägliches Brot sicher zu stellen, sondern um durch ein Leben des Kreuzes sein Heil zu sichern.
Meine Freunde, wir Oblaten haben eine hohe Mission zu erfüllen. Ich sprach euch schon sehr oft von unserer Begegnung mit dem Hl. Vater, von seiner Billigung und seinem Befehl, alle Bischöfe Frankreichs um ihre Hilfe und Unterstützung zu bitten. Herr Chaumont ist uns mit diesem Besuch bei den Bischöfen zuvorgekommen, ein heiliger und eifriger Priester, der ein großes Werk ins Leben rief. Seine Mitglieder nennen sich Söhne und Töchter des hl. Franz v. Sales, verehren und ahmen ihn nach und tun sich etwas zugute auf seine Schutzherrschaft und seine Lehre. Jetzt da sie sozusagen unseren Heiligen schon überall bekannt gemacht haben, was bleibt uns da noch zu tun übrig?
Diese neue Bruderschaft ist gut. Ich habe Herrn Chaumont gekannt und schätze ihn sehr. Dennoch muss ich sagen, dass er mir nicht so sehr den Geist des hl. Stifters zu besitzen scheint als vielmehr den des hl. Ignatius v. Loyola. Ich tadle ihn deshalb nicht. Seine Idee war gut, denn sie hatte Erfolg.
Wir hingegen auch eine Bruderschaft gegründet für Weltleute, die auf Wunsch des Kardinal Richard den Namen „Franz-von-Sales-Bund“ trägt. Verstehen wir darum gut die Tragweite dieses Namens. Wenn Kaufleute einen Verein gründen, pflegen sie dieselben Ideen, dieselben Geschäfte und haben eine Gemeinschaftskasse. So pflegen auch wir mit dem hl. Stifter die gleiche Lebensweise, die gleiche Art zu handeln. Im Innersten seines Tuns ahmen wir ihn nach. Der Sohn hat nicht immer denselben Beruf wie der Vater. Die „Söhne und Töchter des hl. Franz v. Sales“ (v. Chaumont) betonen, ein Leben der Nachfolge des hl. Franz v. Sales zu führen, wie jeder andere es auch kann. Wir hingegen, seine Partner, praktizieren sein eigenes Direktorium, teilen seine Arbeiten, seine Vorgehensweise, den „Weg“ unseres Herrn, den die Heimsuchung auch geht, der dem äußeren Anschein nach so sanft, in Wirklichkeit aber so gewaltig ist. Herr Chaumont vertritt mitunter Grundsätze, die sich von denen seiner ersten Zusammenkünfte zu Paris, der ich beiwohnte, eine Magd der Herzogin von R. auf Befehl des Herrn Chaumont und verabreichte ihrer Herrin ein paar saftige Ohrfeigen. Das ist originell, wenn ihr wollt, aber sicher ganz und gar nicht salesianisch.
Es genügt ja oft, dass etwas komisch ist, um von jedermann angenommen zu werden. Ein anderes Beispiel: Man übergab ein Stück Papier, wie es Sitte ist bei der Zulassung der „Töchter des hl. Franz v. Sales.“ Darauf verlangt man, Alter, Gesundheit, Vermögen, Verwandte, Einfluss und Erbschaft eines bestimmten Mädchens einzutragen. Das entspricht nicht unseren Gewohnheiten…
Sollte man euch fragen, wozu wir einen neuen Franz-von-Sales-Bund gründen, wo doch bereits ein anderer in Blüte steht, so antwortet: Auch der hl. Franz v. Assisi sieht 7 oder 8 religiöse Familien unter seinen Schutz gestellt: die Kapuziner, die Franziskaner, die schwarzen Franziskaner, die Brüder von der strengen Observanz, etc. Warum soll also Franz v. Sales nicht auch mehrere Erben haben, seine „Söhne und Töchter“, die Don-Boscaner, die Missionare von Annecy, und schließlich wir?
Jeder hält sich im Grunde für den besten. Wir dagegen sollten keinen anderen Ehrgeiz haben als die Lehre zu erben, die unser Heiliger mit dem Direktorium der Heimsuchung hinterlassen hat, eine Lehre also, zu deren unermüdlichem Apostel sich die Gute Mutter gemacht hat, eine Lehre, die sich so scharf von anderen abgrenzt, dass manche sie der Neuartigkeit und Sonderlichkeit ziehen. Diesem Vorwurf brauchen wir nur die Billigung der hl. Kirche entgegenzuhalten, die Ermunterungen des Kardinalvikars dem P. Rollin gegenüber, die des Sekretärs der Propaganda, die bereits erzielten Erfolge, die Erfüllung der Verheißungen der Guten Mutter Maria Salesia, die alle Punkt und Punkt in einem Maße in Erfüllung gingen, dass ich selbst schließlich an sie glauben musste. Und zu guter Letzt die zahlreichen Zeugnisse derer, die uns kennen.
(Anm.: „P. Brisson [Unser Vater] liest jetzt einen Brief vor über die Zusammenkunft des P. Lebeau mit der Gräfin Golukowska.“).
Mag Herr Chaumont der Methode der Exerzitien des hl. Ignatius folgen, nichts dagegen einzuwenden. Ich selbst aber habe Misstrauen gegen diese heftigen Exerzitien. Man verlässt diese großartigen Einkehrtage, ausgerüstet mit großartigen Vorsätzen, aber anstelle eines ausgetriebenen Teufels kehren sieben gefährlichere zurück. Und das hat unheilvolle Stürze zur Folge. Wir dagegen begnügen uns damit, dem Heiland zu folgen. Wir arbeiten und leiden zusammen mit ihm, und wenn wir uns schwach fühlen, strecken wir ihm vertrauensvoll die Hand entgegen und treten in seine Fußstapfen. Das ist fruchtbarer und sicherer. Ist es auch leichter? Nein, es erfordert größeren Mut, stärkeren Willen und vor allem ein besseres Urteil. Und das ist unser Los und unser Erbteil. Lassen wir es Frucht tragen.
D.s.b.
