Kapitel vom 22.03.1899: Die Passion als Anstoß für das geistliche Leben
Wir stehen in der Passionszeit. In dieser Woche gedenken wir des Leidens unseres Herrn und der Sieben Schmerzen Mariens. Etwas sollten Oblaten aber besser verstehen als alle anderen: die Notwendigkeit, uns in den verschiedenen Zeiten des Kirchenjahres innig mit der Gesinnung der Kirche zu vereinigen, im Augenblick hinsichtlich der Feste. Früher hatte man in den christlichen Familien die Gewohnheit, religiöse Übungen vorzunehmen, um jede Zeit des Kirchenjahres zu heiligen, und das war richtig so. Ist die Kirche nicht die Fortsetzung Jesu Christi und des Geheimnisses seiner Menschwerdung? Die einzelnen Feste erinnern uns an die hauptsächlichen Phasen des Lebens und erneuern die Gnaden, die durch die Mysterien erworben wurden. Nun sind aber die Oblaten die Kinder dieser Kirche kraft einer herzlichen Liebe, kraft ihrer innigen Vereinigung mit ihrem Leben und ihrer Lehre.
Von der Morgenbetrachtung an verbinden wir uns mit dem Leiden des Herrn, wenn wir in seiner Gegenwart unser Tagewerk vorbereiten. Das ist bedeutend besser als ein Betrachtungsbuch zu gebrauchen. Wärt ihr Kaufleute, so würdet ihr frühmorgens eure Geschäfte zurechtlegen und euren Gewinn vorausplanen. Wird das Himmelreich aber nicht einem Kaufmann verglichen oder einer kostbaren Perle, die man lange gesucht und um den Preis seines Vermögens erworben hat?
Wenn ein Mysterium euch innerlich ganz besonders anspricht, sollt ihr darüber nach Herzenslust betrachten. Ich kannte einen heiligen Priester, der immer neue Freude darin fand, über unseren diesem Gedanken, sagte er, könnte er Stunden, Tage, ja ganze Jahre verweilen. Jeder von uns verspürt eine Neigung, bei diesem oder jenem Gleichnis, bei der oder jener Einzelheit aus dem Leben Jesu liebend zu verweilen. Bleiben wir doch dabei. Es ist das unser Anteil. Der liebe Gott ist ein guter Vater und gibt jedem sein tägliches Brot. Leiht ihm also die Ohren eures Herzens, lasst diese Gottesgabe Frucht bringen, verbergt euer Talent nicht in eurem Taschentuch, um es dann im Garten zu vergraben. „Löscht den Geist den nicht aus!“ Im Gegenteil, ihr sollt es richtig einzuschätzen wissen und Frucht tragen lassen. Wie könntet ihr sonst die Talente anderer verstehen?
Wir müssen sehr aufpassen auf die Gabe, die Gott in unsere Seele gelegt hat. Seid nicht leichtsinnig und unüberlegt: „Bäume im Herbst, entwurzelt, tot…“ Solche Bäume mit welkem Laub bedeckt, zur Hälfte entwurzelt, vom Sturm nach rechts und links gebogen, sind nicht mehr imstande, aus dem Saft des Frühlings Nutzen zu ziehen und Blüten und Früchte hervorzubringen.
Der Mensch besteht nicht nur aus Händen und Füßen, sondern und vor allem aus einem Herzen. Dieses Herz heißt es nähren, indem wir sorgsam alles sammeln, was es stärken, erwärmen und ermuntern kann. Ihm müssen wir auch die nötige Ruhe gönnen, die die nachfolgende Arbeit erleichtert. Ich meine, eine Ruhe am Herzen des göttlichen Meisters, so wie der Ackersmann, nachdem er sein Feld besät hat, geduldig auf die Ernte wartet.
Wenn ihr wollt, dass euer Herr und Meister euch liebt, müsst ihr ihm nachfolgen und zwar vor allem auf den Kalvarienberg. Werdet also ernste Männer, deren Seele vom Gedanken an die Passion lebt. Sobald die Menschen in Berührung mit solchen Priestern kommen, sind sie gewonnen.
„Er komme und trinke.“ Da finden sie, womit sie ihren Durst löschen können, und nur dafür ist der Priester da, meine Freunde.
Die Kirche ist der fortlebende Christus auf Erden: „Seht, ich bin bei euch.“ Davon müssen wir Gebrauch machen, eins mit ihr, der Kirche, und mit ihm, Christus, müssen uns mit ihm identifizieren. Und als Mittel dafür gibt er uns unter anderem die hl. Messe, die ja nichts anderes beinhaltet als das Opfer Christi. Das wird uns Liebe einflößen, uns aufs Priestertum vorbereiten, und an dem Tag, wo wir die Stufen des Altars hinaufsteigen, wird Gott uns entgegenkommen, um uns seinen Gunsterweisen zu überhäufen.
Wer soll diese Wahrheiten besser verstehen als wir? Niemand. Wer soll sie besser in die Tat umsetzen als wir? Niemand. Das ist unsere Lehre, ist die Lehre der Guten Mutter, deren Treuhänder wir sind. Wenn ihr davon ganz durchdrungen seid, wie leicht wird es euch dann sein, eure Überzeugung den anderen mitzuteilen. Lest nur Bossuet. Wer hat ihm denn diese wunderbaren Gedanken über die Glaubensgeheimnisse geoffenbart, wenn nicht seine eigenen unablässigen Betrachtungen? Warum hat er sie mit so viel Beredsamkeit immer wieder dargelegt, wenn nicht, weil er davon zutiefst überzeugt war?
Durchdenkt also auch eure religiösen Verpflichtungen, die Grundsätze eures Oblatenlebens. Dann stellt ihr einen Wert dar, und euer Wort wird kein leeres Echo, sondern ein weitschallender Glaube, der eure eigene Überzeugung in aller Herzen trägt.
D.s.b.
