Kapitel vom 08.03.1899: Verteidigung gegenüber Irrlehren
Wir müssen euch auf ein großes Ereignis aufmerksam machen: auf den Brief, den S. Heiligkeit, Papst Leo XIII. verfasst hat, um die Prinzipien zu verteidigen, auf denen der Ordensstand beruht. Ich muss ihn zu eurer Kenntnis bringen, weil er einen nachhaltigen Einfluss auf euer Verhalten, euer Denken und Handeln ausüben soll.
Seit einiger Zeit drängt sich eine Geistesrichtung an die Oberfläche, in den USA durch P. Hecker, in Frankreich durch Geistliche und Leiter von Werken der Katholischen Aktion, die da sagen, die Zeit der Gelübde und der Evangelischen Räte sei vorbei. Die Kirche schreite voran wie die Welt, und die moderne Welt dulde kein Gängelband und keine Abhängigkeit mehr. Darum keine Fesseln der geistigen Entwicklung! Die Gelübde müssen verschwinden, um Platz zu machen der Bewegung, die der Hl. Geist unmittelbar den Seelen mitteilt. Jeder einzelne empfange die unmittelbaren Eindrücke Gottes zu seiner Vervollkommnung und Leitung, zur Betätigung seines Eifers: Wollet den Geist nicht auslöschen! Die Kirche werde so in einen neuen Weg einschlagen, der dem Geisteszustand unserer Zeit entspreche. Dieser Weg werde die Protestanten bekehren und die Gleichgültigen der Kirche wieder nahebringen…
Der Hl. Vater verurteilt diese Lehre rundweg. Er versichert, der persönliche Eifer sei zwar etwas Vortreffliches, doch nur unter der Bedingung, dass er in die Ausbreitung der Liebe und in die Verleugnung seiner selbst ausmünde. Die Ordensgelübde, Garanten der evangelischen Räte, seien weit davon entfernt, dass man sie verwerfen müsse, sie müssten im Gegenteil zu neuen Ehren gelangen und jeder anderen Methode vorgezogen werden.
Diese Gelübde sind in der Tat nur die Anwendung der Grundsätze unseres Herrn. Es kann gar keine wirksameren Heiligungsmittel geben als sie. Der hl. Paulus geht noch weiter: Wenn die Seele nicht in den Händen Gottes und in Vereinigung mit ihm lebt, sind all ihre Mühen wertlos. Das ist ganz unsere Lehre. Der Hl. Vater bestätigt somit unsere Grundsätze und will sie ausgeführt sehen. Hat er mich nicht aufgefordert, sämtliche Bischöfe Frankreichs aufzusuchen und sie in seinem Namen um Hilfe und Unterstützung zu bitten? Als Kinder des hl. Franz v. Sales obliegt somit uns diese Aufgabe. Der Wille des Hl. Vaters ist es also, dass die evangelischen Räte befolgt werden, und zwar genau auf unsere Art und Weise. Der Hl. Vater drückt positiv aus, dass die Arbeit, die ein Mensch vollbringt, genau so viel taugt wie er selbst, kraft seiner Losschälung und seiner Gottvereinigung.
Ich wünsche sehr, dass dies tief in euer Urteil und euer Wollen eingehe. Ihr habt eine gewaltige Aufgabe. Der Sekretär der Propaganda sagte mir: Ihr ahnt gar nicht, welche Wirkung diese Lehre hervorzubringen berufen ist. Das bestätigt mir wieder ein Brief des P. Rollin, dem der Generalvikar ans Herz legte, alle Worte der Guten Mutter zu sammeln und bekannt zu machen, damit die Kirche nicht solch eines Schatzes beraubt werde.
Was uns angeht, so müssen wir uns der treuen Befolgung unserer Gelübde befleißigen. Woran erkennt man, ob man Gott liebt? Nicht jeder, der zu mir sagt, Herr, Herr, wird ins Himmelreich kommen, sondern, wer den Willen meines Vaters tut.
Üben wir auf diese Weise den Gehorsam, üben wir die Keuschheit, und das nicht nur, indem wir das Böse meiden, sondern indem wir unsere ganze Liebe Gott vorbehalten, mögen wir auch keinerlei Vergnügen und Geschmack daran finden. Leben und lieben wir die Armut. Die Armut des Geistes bewirkt, dass man sich nicht an Albernheiten in Nahrung, Kleidung, und Einrichtung klammert, sondern die Armut unseres Herrn lebt: Das ist nämlich der ganze Mensch. Alles andere ist nichts, wertloser Herbst-Regen.
Das sollt ihr zum Gegenstand eurer Betrachtung machen. Und seid in eurem Gebaren nicht Kinder oder Studenten… Lest noch einmal in den „Annales“ oder in der Broschüre, die einen Auszug davon gibt, die Rede des Herrn Fragnieres über den „Weg“ (Anm.: „vermutlich den der Guten Mutter.“). Betrachtet diese Dinge durch, setzt sie in die Praxis um, damit leistet ihr wunderbare Dinge.
Diese Methode ist so einfach. Aber es bringt ungewöhnliche Wirkungen hervor, wo man sie praktiziert. Auf unserer letzten Priesterversammlung sagten mir alte Priester: „Oh, Pater, welche Wohltat ihr uns erweist. Aber das wisst ihr doch schon seit langem…! Sicher, aber wir haben es nicht recht verstanden: Euer Leben“, schreibt er mir, „ist die Quintessenz des Evangeliums, ist das Leben unseres Herrn selbst.“ Die Vollkommenheit besteht nicht in äußeren Akten, sondern darin, dass wir das Leben unseres Herrn nachleben und ihm folgen… Und genau dahin, meine Freunde, führen uns die Gelübde, wenn wir sie im Geist des Direktoriums befolgen.
Ihr seid noch jung. Überseht nicht, dass dies da von äußerster Wichtigkeit ist. Betrachtet euer Leben nicht als ein Allerweltsideal, es hat vielmehr eine beträchtliche Tiefendimension, euer Leben.
All das sieht sehr mühselig aus. Nun, dann macht euch eben als entschlossene Männer ans Werk! Haltet euer Direktorium hoch, und die Gnade wird im rechten Augenblick kommen. Der Weg ist sicher. Schätzt eure Ordensgemeinde über alles. Gewiss finden sich nicht viele Mächtige und Adelige darunter, wir sind kleine Leute. Aber waren die Apostel nicht auch bescheidene Fischer? Gewiss taugen wir weniger als sie, aber kann Gott nicht selbst aus Steinen Kinder Abrahams erwecken? Gehen wir also an die Arbeit! Der Hl. Vater selbst gab den Trompetenstoß dazu. An uns ist es, zu antworten: „Hier sind wir!“
D.s.b.
