Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 17.08.1898: In den „kleinen Dingen“ zu Ordensleuten werden

Was ich euch jetzt sagen möchte, lässt sich nicht leicht erklären. Am besten gebrauche ich einen Vergleich.

Wie machte es Bossuet, um sich zu jener Höhe zu erheben, auf der wir ihn erblicken? Hat er auf den ersten Anhieb seine „Elevations sur les mysteres“ geschafft, seine Kanzelreden, seine Grabreden gemeistert, ohne Anstrengung und ohne tief Atme zu holen? Nein, ich sah in der Bibliothek des Großen Seminars und im Bischofshof von Meaux mehrere seiner Handschriften. Die Seiten waren eingeteilt in Fünferkolonnen. In der ersten Spalte stand sein Erstentwurf, der in der zweiten korrigiert wurde und das geschah fünf bis sechs Mal. Hier ersetzte er ein Wort, dort einen weniger starken Ausdruck, dann fügt er einen harmonischen Wohllaut zum vorhergehenden oder unterdrückt einen Missklang, etc. Bei solcher Arbeit kann es nicht überraschen, dass er so erstaunliche Wirkungen hervorbrachte.

Und der hl. Franz v. Sales? Im zweiten Kloster der Heimsuchung von Paris fand man die Handschrift des Vorworts zum Theotimus. Da findet sich eine beträchtliche Zahl von Verbesserungen, die er sechs bis sieben Mal und öfter korrigiert, bis sie seinen Gedanken treffend wiedergeben.

Schaut einem Juwelier zu: Welche Sorgfalt und Aufmerksamkeit wendet er auf, um einen Diamant zu schleifen! Ungeschliffen weist der Diamant keine Schönheit und keinen Glanz auf. Einmal geschliffen aber ist er nicht zu bezahlen, wenn er recht durchsichtig ist. Der letzte, der am Kap gefunden und der Königin von England übergeben wurde, war 40 Millionen (Franken) wert.

Mit dem Ordensleben ist es nicht anders. Es geht dabei nicht darum, einen Rieseneifer zu entfalten und eine gewaltige Glut hineinzulegen, um alles um sich herum zu modeln. Man arbeitet vielmehr unaufhörlich und demütig an sich selbst, wie es die Regel, die Satzungen und die überkommenen Lehren wollen. Diese Arbeit darf aber nicht so aufs Geratewohl erfolgen. Damit würde man nichts Vollständiges und nichts Schönes leisten. Wohl aber durch kleine Anstrengungen, die ständige Aufmerksamkeit voraussetzen.

Bei den Künstlern ist ein Sprichwort in Schwang: Drei Dinge sind die Voraussetzungen für einen guten Künstler: Leidenschaft, Geduld und etwas zwischen die Rippen. Lässt sich nichts Ähnliches vom Ordensmann sagen? Bedarf es dessen aber in allen Orden gleichermaßen? Nein, der Trappist ist schon zum Stillschweigen verurteilt und zum Schlafen auf dem harten Boden. Darum verlangt man von ihm keine Vollkommenheit in der Liebe, keine Unterwerfung seines Urteils. Das würde ihn überlasten und zermalmen. Will der Oblate dagegen auf der Höhe sein, braucht er Hochherzigkeit, ein gesundes und unterwürfiges Urteil, einen energischen Willen selbst in den unscheinbarsten Dingen, damit er nicht ein Wort zu viel sage, damit er keine Gute Meinung unterlasse… Er muss in alle Einzelheiten eingehen. Zeugt das von einem kleinlichen Geist? Nein, sondern von Vollkommenheit.

Soll das heißen, wir erhöben den Anspruch, vollendete Menschen zu sein und strahlende Heilige? Das nicht, aber wir wissen, dass die Kirche ihre Augen auf uns richtet und für die Zukunft viel von uns erwartet… Viel mehr als von vielen anderen? Jawohl, weil wir auch viel mehr Opfer zu bringen haben und der Wert eines Werkes von dem Maß des Opfers abhängt, das es kostet. Ich möchte, dass ihr mich gut versteht. Darum nenne ich hier ein bemerkenswertes Beispiel: Bischof Simon ist im Gehorchen einfach wie ein Kind. Nach so vielen Jahren kommt er endlich nach Frankreich auf Besuch. Er bittet mich nicht einmal, seine Familie besuchen zu dürfen. Und wenn ich ihn frage, zeigt er sich bereit, alles anzunehmen, was ich ihm vorschlage. Was ist die Folge dieses so einfachen Gehorsams, den er bei jeder Gelegenheit übt? Bei seiner Ankunft dort unten fand er 35 schlechte Christen vor. Jetzt lässt er 11.000 zurück, die erstaunliche Beweise ihrer Tugend geben. Die ihn begleitende Oblatin sagt mir, man könne sich keine Vorstellung machen, welchen Einfluss er dort hat. Selbst die Protestanten schätzen und achten ihn. Die Katholiken aber verweigern ihm nichts, weil sie anerkennen, dass er der erste ist, der nichts vernachlässigt und alles hingibt. Was hätte er mit aller Beredsamkeit und Geschicklichkeit erreicht, wenn ihm der religiöse Geist abginge? Gar nichts.

Das ist keine Kleinigkeit, sich von morgens bis abends abzuplagen und sich jeden Augenblick unter das Joch des göttlichen Willens zu beugen, und das nicht aus Schwächlichkeit des Charakters, sondern aus Tatkraft. Und genau das ist unser Lebensinhalt.

Damit kann man uns überall einsetzen. Der Exerzitienmeister unsrer Jugendwerke sagte mir: „Wie mit einem Wohlgeruch bin ich umgeben bei all dem, was ich da sehe und höre. Ich hatte selbst auch vor, Exerzitien zu machen, fand aber keine Zeit dafür. Aber ich spüre, ich habe doch welche gemach… Der Duft, den diese Seelen ausströmen, der Einfluss, den man verspürt in der Nähe dieser Seelen, ist die Frucht der Leitung, die man ihnen angedeihen lässt. Man hält ihnen keine Phantasiepredigten, sondern zeigt ihnen ganz einfach den Weg an. Man leitet sie an, Gott zu lieben, sogar die Prüfungen, die er schickt.“ Verpflichtet euch darum erst selbst, diesen Weg zu gehen, und wenn ihr dann zu den Seelen sprecht, wird euch die Gnade begleiten. Man wird euch die innere Überzeugung anmerken, wird euch glauben und euch nacheifern.

Und die Schlussfolgerung: Achten wir sorgsam auf die kleinen Dinge! Streben wir leidenschaftlich nach Gottesliebe. Haben wir auch die Geduld der Liebe, dann werden wir uns wunderbar geschützt fühlen. Und wenn wir einmal erlahmen, den Schritt zu verlangsamen, dann wollen wir mit der Guten Mutter uns oft vorsagen: Mein Gott, ich hatte dich vergessen. Ersetze du, was ich nicht gesagt habe. Dann werdet ihr erfahren, welche Fülle von Gottesliebe eure Seele überströmen wird. Da bleibt kein Platz für Einbildungen, da ist vielmehr alles einfach, groß und schön. Und das liebt der liebe Gott vor allem.

Wenn man sich in dieser Weise an die Arbeit macht, wird das Noviziat zu einem Himmel auf Erden. Was sich dann in unserem Inneren abspielt, bereitet Freude, wie auch alles, was um uns vorgeht, mit unserem Glück harmoniert, es uns ins Gedächtnis zurückruft und uns mit Freude überhäuft. In Clairvaux schöpfte der hl. Bernhard an allen Orten köstliche Lehren. Die Mauern des Klosters, die Bäume des Gartens, die kleine Mühle, alles sprach zu ihm, alles unterhielt in ihm die Gnade, die er überall schöpfte, und verschaffte ihm einen Genuss, der sich nicht beschreiben lässt.

An uns ist es, es ihm gleichzutun, denn nur da finden wir das höchste Gut und unser Glück.

D.s.b.