Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 09.03.1898: Über die Betrachtung

Das Direktorium sagt, die Betrachtung sei eine der nützlichsten und fruchtbarsten Übungen des Ordenslebens. Dann gibt uns der hl. Stifter seine Methode an die Hand. Es gibt deren zwei: entweder die Handlungen des Tages vorbereiten oder aber an ein Glaubensgeheimnis oder eine Vollkommenheit unseres Herrn oder eines Heiligen denke. Diese zweite Betrachtungsweise ist gut. Wer sie anwendet, erwirbt sich Verdienste. Sie passt aber nicht immer für alle. Sie bietet Schwierigkeiten, und Betrachten wird für viele zu einer Bußübung.

Natürlich ist es eine heilige Sache, so wie Fasten, einen eisernen Bußgürtel tragen oder eine mühsame Geistesarbeit vollbringen. Das Hauptziel der Betrachtung ist aber, uns mit Gott zu vereinigen. Darum müssen wir jenen Weg wählen, der unsere Handlungen tiefer erfasst, um sie verdienstlich zu machen. Denn wir kommen letztlich nur wegen unseres Tuns tagsüber in den Himmel, und nicht auf Grund schöner Erwägungen. Gott schaut auf das Herz. Als P. Lambert und ich zum Papst kamen, fragte er uns zuerst: „Pflegt ihr die Betrachtung?“ „Gewiss, Hl. Vater“, antworteten wir. „O, die Ordensleute müssen betrachten“, rief er aus.

Die beste Betrachtung ist für uns die Vorbereitung auf den Tag, und ihr müssen wir allezeit ihren Platz einräumen. Dafür kann man entweder die einzelnen Handlungen des Tages durchgehen, die gefahrvollen Beschäftigungen, oder aber einen ganz bestimmten Artikel wie das Aufstehen, das Breviergebet, etc. hernehmen, also unsere Verpflichtungen voraussehen und den Vorsatz fassen, sie ab morgen zu beobachten. Gewiss, würden wir dabei lediglich einen einfachen Blick auf unsere Pflichten werfen, dann bliebe es eine leere und fruchtlose Sache. Wir sollen vielmehr im Einzelnen unser Verhältnis zum lieben Gott erforschen. Z.B. ich neig dazu, das Stillschweigen zu brechen. Es gebricht mir an Großmut, mich zu überwinden. Da bitte ich also den lieben Gott um seine ganz spezielle Hilfe. Ich verbinde mein Tun mit dem Tun Christi und fasse einen festen Entschluss. Weil unsere Vollkommenheit aber in unseren Regeln und Satzungen eingebettet liegt, ist das eine unfehlbare Methode, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Begreift das wohl, meine Freunde. Für die Seelenführung ist das grundlegend.

Für Ordensleute ist die Vollkommenheit, die Gott von ihnen verlangt und nach der sie streben sollen, nicht jene, die sich ihr Seelführer vorstellt und auf der es abgesehen hat, sondern sie liegt für sie in der bedingungslosen Beobachtung ihrer Satzungen. Das Dekret „Quemadmodum“ hat hierin bei den Frauenorden nichts geändert. Es räumt wohl dem Beichtvater größere Freiheit ein bezüglich der Kommunion. Aber bisher konnte man alles mit etwas Fingerspitzengefühl leicht in Ordnung bringen. Die Mutter de Bellaing konnte wohl einer Schwester eine Kommunion gewähren und vor allem verbieten. Aber in solchen Fällen kam die Schwester zu mir, und da die Gründe der Oberin gut waren, konnte ich diese Entscheidung nur bestätigen. Da gehen nun gewisse Beichtväter hin und beschweren sich in Rom, dass die Frauen zu viel Einfluss gewinnen und auf die Gewissen und sich in die Kompetenzen des Beichtvaters einmischen. Das traf zwar in einigen Kommunitäten zu, nie aber hörte ich von einem solchen Missbrauch in einem Heimsuchungskloster. Rom ergriff darauf hin eine allgemeine Maßnahme, und Rom hat recht und man muss ihm gehorchen.

Aber man soll auch nichts übertreiben und nicht ins andere Extrem verfallen. Das Naturrecht räumt einer Mutter ganz offenkundig das Recht ein, ihrer Tochter zu sagen, sie habe sich schlecht benommen und ihren Schwestern Ärgernis gegeben: „Morgen gehst du nicht zur hl. Kommunion.“ So darf man denn auch der Oberin nicht das Recht streitig machen, darüber zu urteilen, was in der Kommunität geschieht. Wenn also irgendein Verstoß Ärgernis erregt hat, wer ist dann darüber bessere Richterin als die Oberin? Es ist völlig natürlich, dass sie zu dieser Schwester sagt: „Sie gehen nicht zur hl. Kommunion.“ Das Dekret erkennt dieses Recht der Oberin formell an, vergessen wir das nicht. Und noch einmal: der Beichtvater muss sich mit der Oberin ins Benehmen setzen, soll aber nicht die Regel und etablierte Ordnung ändern, ebenso wenig wie er die Ordnung und Häufigkeit der Beichte, die Zeit des Offiziums oder des Aufstehens ändern kann. Das fällt nicht in seine Zuständigkeit.

Man bewirbt sich um Oblaten in den Heimsuchungsklöstern, weil sie als Hausgeistliche diese Linie einhalten. Man kann darüber sagen: die gute Betrachtung der hl. Regel ist das 7. Gebot der Kirche.

Ich komme auf die Betrachtung zurück. Es handelt sich (bei der Vorbereitung auf den Tag) nicht um bloße Berechnung, indem wir die Handlungen des Alltags voraussehen, sondern um eine liebende Erforschung unseres Tuns in Gemeinschaft mit dem Heiland, der seligen Jungfrau und unter ihren Blicken. Wir hören ihren guten Rat an und versprechen ihnen, sie während des ganzen Tagesablaufes bei uns zu behalten, und nicht zu verlassen. Welch ein wichtiges Mittel der Vereinigung mit Gott!

Warum kam der Heiland auf die Erde? Um das Werk der Erlösung zu vollbringen. Das ist sicher sein vorzüglichstes Werk gewesen, aber nicht das einzige. Jetzt und allezeit fährt er fort, unter uns zu arbeiten, ist unser Weggefährte und unsere Stütze. Im Verein mit ihm lesen wir die hl. Messe, er leistet Ersatz für unsere Kälte, Gleichgültigkeit und Ungenügen. Wer hilft euch denn in peinlichen Angelegenheiten? Doch nur der Heiland. Er ist mit euch mit seiner Gnade, seinen Sakramenten, aber auch mit seiner Aktion in jedem Augenblick…

Seit 2.000 Jahren schon setzt sich die Menschwerdung fort und verewigt sich. Ist die Kirche nicht die fortwährende Menschwerdung? „Ich ersetze, was dem Leiden Christi gebricht!“

„Aber“, werdet ihr mir sagen, „welch eine Last, welches Joch!“ Eine Last? Ist es nicht gleich der Luft, die auf uns lastet und hinreichend wäre, uns zu zermalmen? Dank der umgebenden Luft, die ein Gegengewicht bildet, wird sie zu keiner Belastung, sondern zu einer Hilfe, ohne die man nicht gehen noch handeln kann. So ist es auch mit dem Oblatenleben. Macht man sich mit dem ganzen Herzen daran, dann arbeitet man in einer reinen und belebenden Atmosphäre. So verstehen wir die Betrachtung und werden durch sie zehnmal mehr  wir selbst. Nur noch von Gott hängen wir ab, welch enorme Erleichterung! Befolgt diese Ratschläge auch in der Seelenführung! Dann fühlen sich die Seelen nicht mehr allein, sondern gestärkt und gestützt. Wo der Mensch nicht mehr ist, da kehrt Gott ein. Je mehr wir uns zurückziehen, ein umso weiterer Raum verbleibt dem Erlöser.

Solch eine gut vorgenommene Betrachtung verleiht unserem Leben einen festen Bestand von Ernst und Würde, von bescheidener Sicherheit, die nichts hemmen noch beunruhigen kann: Nicht mehr ich arbeite, sondern der Herr. So wandelt man auf den Wegen der Heiligkeit und zieht auch die anderen nach sich. Welch gewaltiger Erfolg und welch vollständige Umwandlung, die Gott an die Stelle des Menschen setzt. Alle fühlen sich dabei wohl, und man wird gern geschehen werden und in seinem Tun Erfolg haben. Denn als Mensch wird man nicht immer gut aufgenommen… mit Gott zusammen ist das was anderes.

D.s.b.