Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 23.03.1898: Die gute Meinung

Dieses Kapitel (…) ist kurz und umfasst nur wenige Vorschriften. Es lässt sich in einen einzigen Gedanken zusammenfassen. Aber ihr werdet sehen, wie fruchtbar und wichtig dieser im Ordensleben und besonders im Leben des Oblaten ist. Es ist mit einem Wort das Mittel, heilig zu werden mittels der Hilfsquellen, die die göttliche Vorsehung unseren ganzen Weg entlang bereit hält. Das entspricht genau dem, was ich euch neulich vorgetragen habe: Heiligkeit besteht nicht darin, außergewöhnliche Dinge zu vollbringen, ganz besondere Akte zu setzen, sondern sich voll und ganz mit dem Willen Gottes zu vereinigen und alles mit ihm und für ihn zu tun. Dann werden die an sich unbedeutenden Handlungen in den Augen Gottes und in Wirklichkeit zu Akten vollkommener Liebe und unendlichen Wertes. Gott betrachtet sie ja nicht mehr als von uns kommend, sondern als eine Ausstrahlung des Erlösers, infolge dessen würdig des Wohlgefallens, das er an den Handlungen seines eigenen Sohnes findet. So erlebt das Werk der Inkarnation seine Fortsetzung, durchleuchtet unser ganzes Leben gemäß der Verheißung der Hl. Schrift.

Die alten Theologen haben viel darüber diskutiert, ob es gleichgültige Handlungen gäbe. Wir müssen uns da an die Lehre des hl. Thomas halten, der bestreitet, dass unsere überlegten Handlungen indifferent sein können. Wir müssen noch weiter gehen und uns bemühen, sie übernatürlich gut zu machen. Das ist im Grunde für den Christen im Stand der Gnade eine Leichtigkeit: er braucht seine Handlungen nur mit Gott in Verbindung zu bringen. Denken wir an das Wort des hl. Paulus, wenn er sagt, Gott lebe und handle in uns: In ihm haben wir Leben, Bewegung und Sein. Erinnern wir uns auch an die Aussage der Heiligen wie z.B. der hl. Agnes, die sagt, in ihren Adern fließe das Blut Christi und röte ihre Wangen.
Mag die Menschwerdung in der Tat sich nur auf eine einzige Person beschränkt haben, so hat sie sich in Wirklichkeit doch auf alle Glieder des mystischen Leibes Christi erstreckt, und das Blut, das durch das Herz Jesu fließt, ergießt sich weiter auf alle Teile des geheimnisvollen Herrenleibes.

Das erinnert mich an eine Predigt meines Professors Sebille vom Großen Seminar am hl. Osterfest. Dabei entwickelte er den Gedanken, dass die Menschwerdung ein Geheimnis nicht eines einzigen Lebens, sondern der ganzen Welt sei und dass alle Menschen und die ganze Welt in gleicher Weise an der Auferstehung des Leibes Christi teilnähmen. Das trifft den Kern auch der Lehre der Guten Mutter: mit dem Heiland vereinigt sein, ihm nachfolgen, von ihm abhängen, das ist Prinzip ihres ganzen Verhaltens und ihres unablässigen Unterrichts.

So wird die Daseinsberechtigung der „Guten Meinung“ sehr verständlich. Sie geht jeder Handlung unseres Lebens voraus, ob klein oder groß, und hilft uns, uns selbst überwinden, auf uns Verzicht leisten. Nicht mehr unser eigenes Leben, unser Natur, unser Urteil herrscht vor, sondern der Wille Gottes, die „göttliche Neigung“, wie die Gute Mutter es nannte. Diese Lehre und Praxis führt schnell zur Vollkommenheit und alle Heiligen haben da hindurch müssen: St. Bernhard, St. Vinzenz, St. Alfons. Ihre Bemühungen, ihre Arbeiten, ihre Tugendakte hatten kein anderes Ziel als bei jeder Handlung ihr eigenes Wollen zu vernichten, um in sich einzig das göttliche Wollen leben zu lassen. Was ist das im Grund anderes, als die Gute Meinung üben?

Der hl. Franz v. Sales lehrt, die auf dem Weg unseres Herrn voranschreiten und Fortschritte machen wollen, müssen diese Methode befolgen. Demzufolge heißt es bei jeder Gelegenheit und vor jeder Handlung die gute Meinung zu erwecken, besonders aber in außerordentlichen Umständen, z.B. wenn wir mit jemand in Kontakt treten, der uns abstößt, oder wenn wir eine Demütigung einstecken, eine Heimsuchung ertragen. Dann wird uns Gott als seinen Freund ansehen und als solchen behandeln. „Euch habe ich Freunde genannt.“

Die Gute Meinung ist keine eigentliche neue Lehre. Jeden Tag beten wir den Psalm „Beati immaculati in via“, der fast 200 Verse umfasst, deren jeder zwei Mal denselben Gedanken wiedergibt.

Msgr. de Prilly, Bischof von Chalons, hat diesen Psalm auf eine sehr tiefgründige Weise ausgelegt. Er zeigt auf, wie der Wille Gottes unter verschiedenen Namen: Gebot, Gesetz, Zeugnis, Neigung, etc. Gegenstand der beständigen Sorge und Liebe des königlichen Propheten war. Wie auch unsere Seele sich mit allen Banden an den göttlichen Willen anklammert, an seine Vorschriften, sein Wohlgefallen, seine Neigungen.

Wie trostvoll das doch ist! Alles steht einem zur Verfügung, ob es einem gut oder schlecht geht. Die mit dem göttlichen Willen vereinigte Seele unterwirft sich, sagt „Ja“ und setzt ohne Unterlass Akte vollkommener Liebe. Zur Gewohnheit geworden, gebiert diese Einstellung den Frieden, verleiht Weisheit, Klugheit, Kraft und Beharrlichkeit. Denn je mehr man sich Gott nähert, umso größer wird die Ähnlichkeit mit ihm.

Muss man für diese Übung der Guten Meinung viel Zeit aufwenden. Nein, sie wird uns schließlich zur zweiten Natur wie das Atmen und bedarf keiner Anstrengung mehr.

Die Wichtigkeit dieses Artikels von der Guten Meinung ist nicht immer ganz verstanden worden. Als ich zur Heimsuchung kam, sagten mir die damalige Oberin und der Spiritual, mehrere Klöster betrachteten ihn als nicht verpflichtend. Die Gute Mutter erst hat durch ihren Einfluss und ihren Unterricht die Wahrheit über diesen Punkt in der Heimsuchung wiederhergestellt. Was uns angeht, so erheben unsere Satzungen die Gute Meinung zu einer absolut notwendigen Observanz.

Das, meine Freunde, schafft gotterleuchtete Seelenführer, und das wird von den Gläubigen gespürt und geschätzt. Es flößt ihnen Vertrauen zu ihrem Seelenführer ein. Es führt sie zur Liebe Gottes und zum Verständnis unseres Herrn. Und dieses Verständnis, bedeutet es nicht das ewige Leben? „Das ist das ewige Leben.“ Ist es nicht bereits eine Vorwegnahme der himmlischen Seligkeit? Der hl. Augustinus sagt: Man braucht nicht bis an die Grenzen der Erde zu gehen, um Gott zu begegnen. Auf jedem Schritt, in der Erde zu gehen, um Gott zu begegnen. Auf jedem Schritt, in Nachtwachen wie im Schlaf, in der Arbeit wie in der Erholung ist er bei uns, setzt sein göttliches Leben fort und verleiht jeder unserer Tätigkeit einen unvergleichlichen Wert.

D.s.b.