Kapitel vom 26.01.1898: Anwendung der Satzungen
Da unsere Satzungen die endgültige Approbation besitzen, wollen wir uns im Noviziat an die exakte Observanz machen und die vom hl. Stifter angegebenen Mittel anwenden. Es handelt sich vielleicht nur um kleine Dinge, mit Sicherheit aber haben sie ihre Bedeutung. Betrachtet das Kreuzzeichen: es ist an sich unscheinbar, aber wie viele Martyrer hat es gestützt, zu wie vielen heroischen Tugendakten ermutigt!
Da fällt mir ein Vorfall ein, dessen Vorfall ein, dessen Zeuge ich als kleiner Seminarist war. Wir machten oft einen Spaziergang nach Fouchy. An diesem Tag hatten die Wasser der über die Ufer getretenen Seine die alte Brücke zur Hälfte fortgerissen. Es blieb nur ein Balken übrig, um zu den Pfeilern in der Mitte des Flusses zu gelangen, ein dickes und schräg liegendes Brett, auf das selbst der verwegenste Zimmermann sich nicht hinausgewagt hätte. Da kommt eine Frau in der Hand. Offenkundig wollte sie zu einem Requiem nach St. Maure (Anm.: „7 km nördlich von Troyes.“).
Beim Anblick des Hindernisses drückte ihr Gesicht lebhaften Ärger aus. Plötzlich machte sie das Zeichen des Kreuzes, betrat den Balken und ging hinüber. Diesen Akt des Glaubens konnte ich nie vergessen.
So haben, liebe Freunde, die geringsten Observanzen, Bußübungen und Verneigungen ihre Bedeutung. Als junger Priester machte ich meine Exerzitien in der Kartause von Bosserville. Dort lebte ein alter Pfarrer von St. Sebastian in Nancy, dem der Novizenmeister mich vorstellte. Er hatte soeben den Besuch mehrerer seiner früheren Pfarrkinder empfangen, die ihn fragten: „Warum haben Sie uns im Stich gelassen?“ – „O“, antwortete dieser, „weil ihr keinen Nutzen mehr aus meinen Unterweisungen gezogen habt, glaubte ich, euch mehr nützen zu können, wenn ich hier für euch bete. Aber es ist traurig, ich bin schon zu alt und fühle mich nicht mehr geschmeidig genug, um die von der Regel vorgeschriebenen Verneigung zu machen… Ich möchte aber meinen Mitbrüdern kein schlechtes Beispiel geben, noch auch mich der Gnaden berauben, die mit diesen Übungen verbunden sind. Hochwürden,“ sagte er mit Tränen in den Augen dann zu mir, „beten Sie doch, dass ich diese Schwierigkeiten überwinde.“
Sicher haben diese Unterwerfungen und unscheinbaren klösterlichen Übungen eine größere Wirkung auf das Herz Gottes und für die Arbeit der Heiligung als selbst Fasten und Geißelungen. Denn es verlangt größere Demut und stärkere Hinopferung seiner selbst. Später wollen wir all diese kleinen Gebräuche in unseren Häusern einführen, wenn wir das Gebräuchebuch herausgeben. Die Satzungen können sich nicht in all diese Einzelheiten einlassen. Wir wollen aber jene bewahren, die wir bereits haben und die durch den Gebrauch geheiligt sind.
Die große hl. Theresia las mit großer Ehrfurcht eine Bohne oder Linse in der Küche auf, weil sie Eigentum Gottes war. Und dabei hatte sie bestimmt keinen kleinen Geist. Der Pfarrer von Anglure fand damals sogar, sie habe zu viel Geist und wollte deshalb zusammen mit einigen Nachbarpfarren ihr Heiligsprechungsdekret überprüfen lassen.
Die Männer messen übrigens nicht weniger Wichtigkeit solchen Kleinigkeiten bei wie die hl. Theresia. Nehmt die Freimaurer: sie schreiben ganze Bände, in denen sich nicht drei vernünftige Gedanken finden. So hängen sie z.B. mit unvergleichlicher Sorgfalt an den geringsten Einzelheiten ihrer grotesken Zeremonien, an der Art, ihre Schürze hochzuheben, sich die Hände zu drücken, zu gehen, etc.
Unsere religiösen Übungen sind dagegen würdig eines intelligenten Geistes und eines großmütigen Herzens.
Lasst mich, meine Freunde, ein Wort über die Lehre der Guten Mutter sagen. Ihr Lehrgut findet sich nicht bloß in ihren Briefen, allezeit erhaben und tief. Mein, auch ihre Unterhaltungen in der Kommunität sowie ihre Beziehungen zu den Weltmenschen sind ganz durchtränkt von einer wunderbaren Lehrweisheit. Nehmen wir z.B. ihre Unterweisung über die Demut. Wie viele Traktate wurden doch über dieses Thema verfasst, die die Mittel nennen, die man anwenden soll: allgemeine und besondere Gewissenserforschungen, Übungen aller Art, etc. Ich kenne einen Jesuitenpater, der in hoher Achtung stand und zum Assistenten des Novizenmeisters gewählt wurde. Eines schönen Tages wirft ihm der Novizenmeister in Gegenwart aller Novizen seinen Schlüsselbund hin und schrie ihn an: „Wie liederlich Sie doch sind! Schauen Sie sich nur den und den Ort an, in welchem Zustand sie sich befinden!“ Der arme Pater geht dort hin, alles lag drunter und drüber und schmutzig, und jeder Novize konnte es feststellen. Ihre Praxis war eben rau, und er musste wirklich einen fast heroischen Tugendakt vollbringen, um es anzunehmen, so überrascht war er über den Zwischenfall.
Nun hören wir, was die Gute Mutter über die Demut sagt. (Anm.: „P. Brisson trägt den versammelten Oblaten eine Ansprache der Guten Mutter zum Thema ‚Demut‘ vor.“). Die Demut ist schwer zu definieren, wie viel schwerer aber zu praktizieren. Die Übungen, die die Jesuiten diesbezüglich machen lassen, sind sicher ausgezeichnet. Unsere Gute Mutter geht aber nicht auf diese Weise vor. Da Gott unser Vater ist, da er in unserem Leben alles im Hinblick auf unser Heil und auch zu unserer Vervollkommnung angeordnet hat, warum sollten wir uns da auf die Suche nach außerordentlichen Übungen machen? Es genügt doch, jeden Augenblick „Ja“ zu sagen zu Zwischenfällen, die uns begegnen und die Gott zulässt. Versuchen wir das während der 14 Tage. Und sollte auch alles sich in uns aufbäumen und einen lebhaften Widerwillen erwecken, umso besser! Das kann nur unser Verdienst vermehren. Welche Sammlung das unserer Seele einbringt, welchen Frieden unserem Gewissen, welche Stärke unserem Herzen, welche Würde unserem Leben! Da ist nichts auf mehr oder weniger üppige Phantasievorstellung aufgebaut. Es ist vielmehr ein ebener, fester und sicherer Weg.
Haben wir also große Ehrfurcht vor den Lehren der Guten Mutter. Bemühen wir uns, sie zu verstehen, indem wir sie in die Nähe der Lehre des hl. Franz v. Sales und der hl. Franziska v. Chantal rücken. Wir werden darin ein ganz besonderes Licht finden. Und da es nicht genug ist, etwas zu lesen, um Geschicklichkeit zu erwerben, wollen wir damit auch die Praxis verbinden.
D.s.b.
