Kapitel vom 12.01.1898: Der „besondere Wunsch“
Nehmen wir heute wieder einmal als Thema den „besonderen Wunsch“, darin steckt ein großer Vorteil für uns. Der hl. Franz v. Sales war ein gewiegter Theologe. Er bezeugt, dass der Lehrinhalt seines kleinen Büchleins nicht seinem eigenen Kopf entsprungen ist, sondern dass er ihn aus einer Erleuchtung des Hl. Geistes geschöpft hat.
Ihr wisst, jeder Orden hat sein eigenes Ziel: zuerst die persönliche Heiligung des Ordensmannes, dann eine mehr nach außen gerichtete Sendung. Bei den Jesuiten ist das der Kampf gegen die Irrlehrer, bei Franz von Assisi, um gegen die Rauheit der kriegerischen Auseinandersetzungen, und gegen den Anreiz der materiellen Güter zu protestieren. Bei den Dominikanern, um die Finsternis der Unwissenheit zu vertreiben in einer Gesellschaft, die sich unaufhörlich dem materiellen Leben ausliefert. Bei uns aber ist es die Vereinigung mit Gott wie die Einheit mit dem Nächsten: Vereinigung mit Gott durch eine beständige Abhängigkeit unseres Willens, Einheit mit dem Nächsten durch Betätigung der Liebe und des Entgegenkommens. Die Zeit, in der unser hl. Stifter auftrat, war in der Tat eine Epoche der allgemeinen Verwirrung: Religionskriege und theologische Streitereien zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen, Prozesse und skandalöse Rivalitäten zwischen einzelnen Orden. Kurzum: ein Versagen der bürgerlichen Liebe wie der religiösen Gemeinschaft. Es ging also darum, den Menschen zu seinen wesentlichen Pflichten zurückzurufen. Darum wollte der hl. Franz v. Sales, dass seine Ordensleute Gott und den Nächsten über alles lieben. Zweck unserer Gelübde wie aller anderen Übungen ist allein, uns dahin zu führen.
Und das ist, glaubt es mir, ein sehr wirksames Mittel. Pater Klemens, ein gelehrter Benediktiner und Sekretär des Bischofs Mermillod, nannte den hl. Franz v. Sales den geschicktesten und vollendetsten Taktiker des geistlichen Lebens, am besten geeignet, die Menschen zur Kunst der Vollkommenheit heranzubilden.
Ihr werdet mir sagen: Kann man denn mit dieser Lehre Männer bilden? Zerstört man damit nicht die eigene Persönlichkeit? Die Persönlichkeit zerstören? Nein, bestimmt nicht. Sich mit Gott vereinigen heißt doch nicht eine Persönlichkeit zerstören, sondern diese bestätigen, entfalten und vervollkommnen.
Auch unser Herr tat auf Erden nichts anderes als sich mit seinem Vater vereinigen. Durch seine Nachahmung werden wir das Versprechen der Guten Mutter vereinigen: „Man wird den Heiland von neuem auf Erden wandeln sehen.“ Es ist von allen Hilfsmitteln das wirksamste, freilich auch das Mittel, das die meisten Schwierigkeiten bietet. Hat irgendjemand eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, sei sie auch langwierig und mühselig, sobald er sie beendet hat, ist er frei. Mit der Übung der Liebe hingegen heißt es immer von neuem beginnen, eine ununterbrochene Losschälung, eine Bremse, die jede persönliche Unabhängigkeit verhindert. Ist das aber möglich? Ja, vorausgesetzt, man macht sich mit Eifer an die Arbeit, man legt das Gelübde der Nächstenliebe ab für eine unseren Kräften angemessene Frist und bemüht sich, es treu zu halten und davon zu leben. Damit wird man sicher ein Heiliger. Unser Handeln wird dann von den Gläubigen verstanden und geschätzt. In Rom kennt man uns ausschließlich von dieser Seite her und achtet uns hoch. „Wie stellen Sie es nur an, dass Sie solche Erfolge bei Ihren Mädchenwerken haben?“ fragte mich P. du Lac. „Bei Ihren Hilfsmitteln ist es unbegreiflich, wie Sie damit fertig werden.“ Als P. Pernin auf dem Kongress von Lille unsere Methode mit den Jungarbeiterinnen erklärte, sagte man zu ihm: „Das ist alles ganz unbedeutend. Ihr habt ja keine Organisation, keine gesetzliche Regelung, keine Aufseherinnen für je 10 Mädchen, keine Aufseherinnen innerhalb und außerhalb der Werkstätten, nichts, um die Jungarbeiterinnen zusammenzuhalten, in Gruppen einzuteilen und an Euch zu binden… Das kann doch nie gut gehen…“ – „Und doch klappt es, und sogar sehr gut“, erwiderte P. Pernin, „ich habe Ihnen ja die Zahlen angegeben.“ – „Das kann nur ein Strohfeuer sein, das keine Dauer hat.“ – „Nun, dann muss man annehmen, dass es sich um ein sehr gutes Stroh handelt, denn es brennt bereits seit 30 Jahren.“ Seht ihr, in jeder Seele, die zu uns kommt, versuchen wir, vor allem und über alles die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zur Pflicht einzupflanzen… Wenn 5, 10, 100 oder gar 1‘000 Menschen zu uns kommen und verstehen und sich an die Arbeit machen, glaubt ihr dann wirklich, es schaue nichts dabei heraus? Kommt man nicht dahin, dann kommt man zu gar nichts.
P. Fischer sagte mir während eines Gesprächs über die Mädchen unserer Jugendwerke, er habe nie eine großmütigere und Gott ergebenere Seele kennen gelernt als diese. Neulich nun, als in einer erregten Gruppe über die Forderungen des Fabrikherrn diskutiert wurde, rief sie aus: „Kurzum, einzig und allein die Art zu handeln, die man uns hier lehrt, liegt etwas Echtes und Wahres. Das ist Wahrheit für alle Situationen und alle Zeiten.“
Um seinen Nächsten lieben zu können, muss er uns da natürlicherweise sympathisch sein? Nein, im Gegenteil. Es ist gut, dass jeder Nächste uns sein Kreuz auflade. Und das Maß unserer Liebe und unseres Wohlwollens entspricht oft dem Grad der Abneigung und des Widerwillens, den er uns natürlicherweise einflößt. Mehr als einmal machte ich die Erfahrung. Im Seminar von Troyes gab es vielleicht keine einander mehr entgegengesetzten Typen als Herrn Godot und Herrn Fournerot. Und doch waren beide Heilige und durch innigste Freundschaft verbunden. In der Heimsuchung waren es die Gute Mutter und die Mutter Paul-Seraphine Laurent…
Das ist also etwas sehr Reales. Die Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung. Unser Herr hatte eine Schwäche für die Sünder. Gibt es aber einen größeren Widerspruch als den Herrn und einen Sünder? Sagt man nicht im Beichtstuhl: „Segne mich, weil ich gesündigt habe.“ Segne mich, nicht weil ich gut gehandelt habe, weil ich tugendhaft bin, sondern segne mich, weil ich gesündigt habe…
Beherzigen wir also tief diese Wahrheit, sie bedeutet für uns alles.
D.s.b.
