Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 10.11.1897: Das Band der Liebe

Besondere Wünsche: Der demütige Ruhm der Oblaten des hl. Franz v. Sales: „Wir haben kein anderes Band als das der Liebe…“

In diesem Artikel zeigt der hl. Franz v. Sales, von welchem Gedanken er sich bei der Gründung der Heimsuchung leiten ließ. Sie ist nämlich allein auf die Liebe zu Gott und dem Nächsten gegründet. Der Hauptgedanke des Heiligen war es, ein Institut ins Leben zu rufen, das nur das Gelübde oder Versprechen der Liebe kannte. Wenn man den lieben Gott über alles liebt und den Nächsten wie sich selbst, gelangt man zur Vollkommenheit aller Tugenden. Er wurde in der Folge gezwungen, die Heimsuchung in einen richtigen Orden mit feierlichen Gelübden zu verwandeln. Doch der Platz, den er der Liebe einräumt, blieb erhalten. Wenn wir also diese Lehre wohl zu Herzen nehmen, uns mit Gott zu vereinigen und uns mit ihm durch die Liebe zu verbinden, wenn wir uns durch Hilfsbereitschaft und Wohlwollen mit dem Nächsten vereinigen und verbinden, erfüllen wir die Bedingungen der Vollkommenheit und Heiligkeit, die der hl. Stifter für die günstigsten erachtete. Und wie diese Bedingungen nicht nur für uns von Vorteil sind, sondern ihre Wirkungen auch für den Mitmenschen spürbar werden, ergibt sich daraus, dass sich der ursprüngliche Plan des Heiligen in seinem wesentlichen Teil verwirklichen lässt: im Überwiegen und Vorherrschen der Liebe. Und diese Handlungsweise wird überreiche Früchte hervorbringen.

Die folgenden Wünsche im Direktorium beweisen den ganzen Nutzen, den der hl. Stifter von seiner Gründung erhoffte.

„Wir haben kein anderes Band als das Band der Liebe, das ja das Band der Vollkommenheit ist.“

Das ist so etwas wie ein Hymnus oder ein Lobgesang, mit dem der hl. Stifter das Direktorium eröffnet. Das könnte den Anschein von etwas Außerordentlichem erwecken, wo bei ihm doch das Urteil und der Verstand immer der Phantasie voraus geht. Der hl. Kirchenlehrer sah, nachdem er seinen Gedanken gut und reiflich überlegt hatte, das Gute voraus, das dieser Geist und diese Lehre in den Seelen hervorbringen werde. Darum verspricht er allen, die diese Regel beobachten und diese Verhaltensweise einhalten, dass ihre Namen im Buch des Lebens eingetragen seien. Und er bietet sie Gott als etwas höchst Kostbares an. In anderen Ordensregeln findet sich nicht derartiges: die Regeln des hl. Augustinus, des hl. Benedikt, des hl. Ignatius v. Loyola weisen nichts dergleichen auf. Der hl. Franz v. Sales ist eben überzeugt, dass man durch die Befolgung dieser Regel zur Vollkommenheit gelangt, und dass diese Vollkommenheit eine ungeheure Wirkung in der Kirche hervorrufen wird.

Er ist davon überzeugt, dass das, was er da sagt, ganz und gar mit der Lehre des Evangeliums übereinstimmt. Das Modell dieser Vollkommenheit ist der Heiland selbst. Befolgt man also genau das Direktorium, so führt man das Leben unseres Herrn selbst. Es bewirkt eine einfache und absolute Übereinstimmung mit dem göttlichen Vorbild, innerlich wie äußerlich. Man besitzt so den Schlüssel, sich bei jeder Beschäftigung in der richtigen Weise zu verhalten, und sich in allem daran zu halten. Seht nur, wie genau das mit dem Evangelium übereinstimmt. Abgesehen von seinem öffentlichen Leben, was weiß man schon vom übrigen Leben des Heilands und der Allerseligsten Jungfrau? Nun, das übrige Leben, ihr eigentliches Innenleben war eben das des Direktoriums… beim Heiland wie bei Maria.

Ein Generalvikar besuchte eines Tages die Gute Mutter und sagte zu ihr: „Hätte das Evangelium uns doch die Unterhaltungen zwischen dem Heiland, Maria und Josef im Haus von Nazareth überliefert, wie schön wäre das!“ Als er wieder fort war, sagte die Gute Mutter: „Herr Roizard sagt so, aber er täuscht sich bestimmt. Denn die Unterhaltungen unsers Herrn mit der seligen Jungfrau und dem hl. Josef unterscheiden sich nicht von den unseren… Unser Herr sagte nichts Außergewöhnliches, als Kind ebenso wie als junger Mann. Sein Tun jedoch war verschieden, es war vollkommen. Seine Handlungen waren bis ins Mark hinein göttlich. Als das Evangelium sagte, der Herr sei ‚Untertan‘ gewesen, hat es alles gesagt, was zu sagen war.“

Versteht mich wohl: zu dieser Art zu leben führt uns das Direktorium. Im Äußeren scheint alles ganz einfach, ohne irgendetwas Außergewöhnliches. Aber im Inneren ist man ganz mit Gott verbunden, und man erhebt sich zum Göttlichen, zur ganzen Vollkommenheit. Das Mark der Heiligkeit liegt nämlich in der inneren Einstellung. Das kann gewiss auch nach außen dringen, aber der Kern im Inneren.

In den geistlichen Traktat nennt man Mittel, um heilig zu werden. Diese Mittel können zweifellos zum Ziele führen. Gebraucht man aber nur die angegebenen Mittel, so macht man nur sehr langsame Fortschritte. Die Bemerkung der Guten Mutter ist sehr tief. Was die Legenden und Schriftsteller der ersten Jahrhunderte vom Leben der seligen Jungfrau über das Evangelium hinaus zu berichten wissen, ist sicher sehr schön, aber glauben braucht man es nicht. Die Wahrheit, die absolute, verrät vielmehr die Gute Mutter: das Leben im Haus von Nazareth war wie das aller anderen Menschen. Jede einzelne Handlung des Alltags brachte Gnaden mit sich und eine Antwort auf die treue Mitwirkung. Unser Herr tat also nicht anderes als wir tun, aber mit welch verschiedener innerer Disposition…

Das ist der Unterschied, und dann welch ein Unterschied auch in der Intensität des innerlichen Lebens! Er verbrachte ja ganze Nächte im Gebet. Auch der hl. Franz v. Sales sah im Licht des Hl. Geistes seine Werke und ihre Wirkungen auf die Welt voraus und darum, bevor er noch seine Methode auseinandersetzt, stimmt er eine Art Triumphgesang an, weil er feststellt, welche Wirkungen diese Lehre hervorbringen wird.

Anlässlich der Eröffnung des Prozesses der Guten Mutter erlebten wir, wie sehr viele Priester in Rom Verständnis dafür gewannen, welch unbegrenzte Reichtümer und Gnaden das Direktorium anbietet. Es ist unser Schatz. Sehr viele apostolische Werke wählten den hl. Franz v. Sales zum Schutzpatron. Diese Etikette klebt man fast überall auf. Das beweist aber nicht immer, dass das, was man sagt und tut, unbedingt der Lehre und dem Geist des hl. Franz v. Sales entspricht. Selbst in vielen Heimsuchungsklöstern hatte man ein bisschen Lehre vergessen. Aber jene Klöster, die das Direktorium wohl beachten, gedeihen und spüren deutlich, dass sie sich im echten Geist ihrer Berufung bewegen.

Das Direktorium ist genau das Mittel, um sich in den Stand der Liebe zu versetzen, von dem der hl. Franz v. Sales spricht. Er wünschte dringend, dass diese Lehre sich ausbreite. Die hl. Chantal drängte ihn, eine Priestergemeinschaft zu gründen, die sich von seinem Geist nähren sollte. Der Heilige antwortete ihr: Meine Tochter, Ihr Wunsch ist ganz vortrefflich, aber sehr schwer zu erfüllen. Die Männer räsonieren zu viel und unterwerfen nicht genug Geist und Urteil. Ich habe es bereits versucht und hatte nur mit anderthalb Männern Erfolg.

Zurzeit des hl. Franz v. Sales war es unmöglich, Oblaten heranzubilden. Es war die Epoche der großen theologischen Kämpfe gegen Protestanten und Jansenisten, erbitterte Auseinandersetzungen… Man hatte genug zu tun, die Außenmauern der Festung zu verteidigen, ohne versuchen zu können, das Innere bequem auszuschmücken. An uns ist es, die Idee des hl. Franz v. Sales und der hl. Franziska wieder aufzunehmen und dieses so ungemein nützliche Werk auszubreiten.

D.s.b.