Kapitel vom 22.09.1897: Wie muss gehorcht werden?
Es gibt etwas, was ihr meine Freunde, alle erfahren werdet und was ich selbst sehr spät gelernt habe: Um eine Ordensgemeinde aufzubauen, eine Gesellschaft, muss man sich vielem unterwerfen, was uns kindisch vorkommt. Seht die Freimaurer an und ihre Formeln: was sie sagen und tun, ist so sonderbar, lächerlich und kindisch. Warum tun sie es aber dennoch? Weil es notwendig ist, um die Menschen fest an etwas zu binden. Um etwas zu erreichen, braucht man etwas, was den Verstand übersteigt, ja ihn sogar verletzt. Gott selbst handelt nicht anders. In den Glaubensgeheimnissen will er, dass wir den Verstand Dingen unterwerfen, die der Verstand nicht versteht, die ihm sogar als unmöglich vorkommen. Auch ich habe gemeint, man könne eine Kongregation allein mit vernunftgemäßen Dingen aufbauen. Ich sehe, dass ich mich getäuscht habe. So fragte ich mich z.B.: wozu die Kulp ablegen? Wozu wiederholt und immer wieder den Gehorsam geben? Welchen Nutzen bringt dies und das?
Nur kann man aber beobachten, dass Ordensgemeinschaften, die seit langer Zeit mit Eifer ihre klösterlichen Gebräuche übten, auch am stärksten an diesen hängen. Nehmen wir die Kartäuser: In der Kartause von Bosserville sah ich einen Prinzen, Vetter der Königin von Spanien, der gerade bei der Messe diente. Der Novizenmeister P. Retournat merkt, dass er einen Fehler macht und sich bei einer Zeremonie täuscht. Und siehe da, nach der Messe streckt der sich auf dem Pflaster der Kirche aus und verharrt lange Zeit so hingestreckt. Ich fragte den P. Retournat nach dem Grund für eine so strenge Bestrafung. „Er hat einen Fehler bei der hl. Messe begangen“, sagte er. „Aber immerhin“, fahre ich fort, „von dieser Buße könnte er sich eine Lungenentzündung holen.“ – „Nicht doch, er hat eine robuste Gesundheit. Keine Angst. Wenigstens wird er es nicht mehr vergessen.“
Ich sah auch den P. Stanislaus, der wenigstens 62 Jahre alt und vor kurzem erst eingetreten war, wie er sich darin übte, die Verneigung nach Art der Kartäuser zu machen. Sein Rückgrat war aber nicht mehr ganz beweglich und es gelang ihm nicht, die rechte Stellung einzunehmen. Daran arbeitete er nun schon seit drei Monaten. Das betrübte ihn, dass er keinen großen Erfolg feststellte, doch mit der Gnade Gottes hoffte er, es dennoch zu schaffen.
Ich erkenne, dass diese kleinen Gewohnheiten, diese unbedeutenden Hilfsmittel unerlässlich sind, um etwas zu erreichen. Sonst würde sich alles in Dampf auflösen. Führt man nämlich nur das gewöhnliche Leben der Allgemeinheit, den „Bauch an der Erde“, dann ist man kein Ordensmann.
Diese ganze Einleitung habe ich nur vorausgeschickt, um zu sagen, dass wir alles, was in unseren Kräften steht, tun sollen, um die hl. Regel und die klösterlichen Gebräuche treu beobachten. Wir alle werden dabei viel an innerem Frieden gewinnen, denn je mehr man Gott gibt, umso froher wird es einem ums Herz.
Ich habe vor, nächsten Mittwoch die Visitation im Großen Kolleg vorzunehmen. Die Satzungen schreiben diese Visitationen vor, man kann sich ihr nicht entziehen. Kommt der Obere zur kanonischen Visitation, so versammle sich die ganze Ordensgemeinde in der Kapelle. Dann zieht sich der Visitator in ein Zimmer zurück, das man ihm anweist, und jeder kommt, um ihm seine Beobachtungen mitzuteilen über seine eigene Person und die Art und Weise, wie er die hl. Regel und seine klösterlichen Pflichten erfüllt. Dann fügt er noch hinzu, was er im Gewissen hinzuzufügen für wichtig glaubt. Wenn er etwas feststellt, was gegen die Regel verstößt. Das soll er mit großer Einfachheit und Offenheit tun, eingedenk dessen, wie viel er selber taugt. Wenn er also eine Bemerkung über das Ganze und den allgemeinen Gang des Hauses für nützlich hält. Wenn er diese oder jene Schwierigkeit hat in seinem Amt, soll er es in aller Einfalt sagen. Dieses vertrauensvolle Geständnis zieht die Gnade Gottes herab.
Da steckt etwas drin, was der Wirksamkeit von Sakramentalien nahekommt. Diesen Schritt soll man im Geist des Direktoriums vornehmen, verbunden mit der Guten Meinung. Dann stellt es eine große Hilfe dar. Bei den Trappisten liest man an den Mauern der Konvente (in lateinischer Sprache): Durch die Einsamkeit, das Stillschweigen und den Besuch des Oberen in der Einzelzelle, erhält sich der Kartäuser in Kraft. Der Kartäuser beharrt in seinem Eifer also zum Teil dank der Visite seines Oberen. Wir sollen die Visitation im gleichen Gedanken vollziehen. Es ist eines der hauptsächlichen Mittel, uns eifrig in der klösterlichen Observanz zu erhalten.
Wenn der (General-)Obere die Visitation der Häuser selber vornehmen kann, soll er es tun. Kann er diesen Pflichtbesuch nur in einigen Häusern vornehmen, so lässt er die anderen durch den Assistenten oder einen Generalrat besuchen. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, dass der Visitator sich nur ganz diskrete und geheime Notizen von den Bemerkungen und vertraulichen Mitteilungen machen darf. Nach dieser kanonischen Visitation versammelt der Obere die Kommunität erneut, um ihr einen zusammenfassenden Bericht der Beobachtungen zu geben, nützliche Bemerkungen zu machen und die einzuhaltende Linie anzugeben. Das Ganze werde abgeschlossen mit dem sakramentalen Segen. Es ist Sitte, in allen Häusern ein Gebet zum Hl. Geist zu sprechen, um sein Licht auf diesen Akt herabzuflehen. Darum wollen auch wir hier ab heute das „Komm, Schöpfer Geist…“ in diesem Anliegen beten, damit wir aus der Visitation Nutzen ziehen. Sie stellt, um es noch einmal zu sagen, ein wichtiges Mittel dar, uns im Eifer zu erhalten.
Von der jetzigen Visitation an soll man sich an das halten, was im Generalkapitel über die Reisen und den Urlaub beschlossen wurde. Desgleichen hole man immer erst die Erlaubnis des Oberen ein, wenn man in die Stadt einen Ausgang machen will. Soll dieser Ausgang von längerer Dauer sein, so halte man sich an den Rat und die Entscheidung des Generaloberen. Möge davon keiner eine Ausnahme machen, und vergessen wir nicht, dass Gott überreiche Gnaden schenkt, wenn man für ihn ein Opfer bringt. Ich halte es nicht für leicht, dass jedermann das tut, was die hl. Regel will. Ich bin durchaus nicht überrascht, wenn ich sehe, dass es Mühe bereitet, sich an dies und das zu halten, und das umso mehr, als diese Dinge eine große und gewohnheitsmäßige Seelenstärke erfordern. Alle sagen, wenn die Oblaten das tun, was sie tun sollen, werden sie die besten Ordensleute der Welt sein.
Jedem schlägt seine Stunde. Wir sind zu unserer Stunde gekommen, wir besitzen die Gnade Gottes für unsere Epoche, für die Bedürfnisse der Umgebung, in der wir leben. Darum müssen wir uns in den Zustand versetzen, auf der Höhe unserer Aufgabe zu stehen. Bitten wir die Gute Mutter, jetzt „Ehrwürdige Dienerin Gottes“, dass sie uns Beweise ihrer Macht bei Gott gebe.
Beten wir auch für die solide Errichtung unseres Noviziates, damit die Novizen sich gründlich im Geist der Kongregation ausbilden.
Eine Bemerkung sei mir erlaubt: Einige sind heikel und haben einen Widerwillen gegen gewisse Speisen, gegen verschiedene Nahrungsmittel und essen dies und das nicht. Da heißt es eine Anstrengung machen. Legt man sich am Anfang etwas Zwang auf, so kommt man schließlich soweit, auch gewisse Speisen zu essen, gegen die man zuerst Ekel empfand. Natürlich meine ich damit nicht gewisse unüberwindliche Abneigungen. Nimmt man zuerst wenig, dann immer mehr davon, so gelingt es einem schließlich, von allem zu essen und es sogar gern zu tun.
Das erinnert ans Leinentuch, das der hl. Petrus vom Himmel herabkommen sah und das allerlei (unreine) Tiere enthielt. „Petrus, steh auf und iss!“ – „Aber Herr, nie habe ich dergleichen gegessen.“ – „Das schickt dir aber der Herr selber…“ Bemühen wir uns also, unseren Widerwillen zu überwinden. Ich erinnere mich, wie man im Kleinen Seminar die Erklärung aller Einzelheiten der Hausordnung mit den Worten, die ich euch hiermit übergebe, abschloss: „Friede, Freude und Glück sind der Lohn für die Erfüllung dieser Regeln.“
