Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 09.06.1897: Beobachtet die Schreiben und die hl. Regel der Gemeinschaft

Dieser Tage erhielt ich einen Brief von Pater Rollin, in dem er mitteilt, dass unsere Satzungen bald endgültig approbiert, vom Hl. Stuhl zu uns zurückkehren. Es sind genau die gleichen ohne andere Veränderungen, als jene Verbesserungen, die wir selbst glaubten, von Rom erbitten zu sollen. Auf Grund dieser erneuten Sicherheit, die uns Rom damit gewährt, müssen Patres und Brüder sich gewissenhaft daran machen, sie bis auf den Buchstaben genau zu beobachten. Das liegt sowohl in meinem Interesse, der ich der Verantwortliche dafür bin, wie auch in eurem eigenen Interesse. Es gibt noch verschiedene Punkte, in denen wir uns bisher ohne viel Glück versucht haben. Wir sprachen erst neulich von einigen Lücken, die die Pflichten des Oberen betreffen, von Vorschriften unserer Satzungen, die wir bislang nicht ausführen konnten: die brüderliche Zurechtweisung jeden Monat, die allgemeine wie private, über Fehler und Verstöße gegen die hl. Regel… Vielerlei Überlegungen machten, wir erwähnten es, die Erfüllung dieses Punktes schwierig. Nun aber wollen wir uns daran machen, sie alle zu beobachten, und zwar auf den Buchstaben genau. Schon zwei-, dreimal habe ich mein öffentliches Schuldbekenntnis über die Nichtbeobachtung dieses Punktes gemacht und wiederhole es noch einmal. Am Anfang hatten wir eine Entschuldigung, die wir jetzt aber nicht mehr gelten lassen können, da wir bereits ein gewisses Alter in der Kirche aufweisen. Wir sind 25 Jahre alt. Lasst uns also die hl. Regel ohne Abstriche und auf den Buchstaben genau befolgen.

Was eine Ordensgemeinschaft rettet, ist die wörtliche Befolgung der Regel. Das hat die Heimsuchung gerettet, diese wortgetreue Beobachtung der Regel, der Satzungen, des Direktoriums und des Gebräuchebuches. Auch wir werden später unser Gebräuchebuch haben, das unsere Kleidung festlegt, unsere Beziehungen zur Außenwelt regelt, sowie die Einrichtung der Zellen, die Überlieferung unseres Institutes auf einigen Gebiet des (gemeinsamen) Handelns und alles, was das persönliche Verhalten der Oblaten betrifft. Damit werden wir drei Bücher haben, die Gesetzeskraft haben: Satzungen, Direktorium und Gebräuchebuch. Ich bin es der Ordensgemeinde schuldig, dieses Versprechen abzulegen und es auch zu halten. Ich bin nicht mehr jung. Bald werde ich der Kongregation und dem lieben Gott meine Rechenschaft ablegen müssen. Gern erkenne ich an, dass die Last, die mir auf die Schultern gelegt war, nicht allzu sehr wog. Oder aber ihr habt mir geholfen, sie hochzuheben und zu tragen. Mit der Gnade Gottes und der Hilfe eures Gebetes hoffe ich, mich jetzt in Bewegung zu setzen und ihr mit mir, um unser Werk zu Ende zu bringen.

Auf Grund der Erfahrungen, die wir gemeinsam gemacht haben, auf Grund dessen, was uns der Hl. Vater gesagt hat, all dessen, was uns die Römischen Kongregationen des Öfteren einschärften sowie dessen, was mir die Gute Mutter Maria Salesia auf dem Sterbebett prophezeit hat, glaube ich sagen zu können, dass wir großes, ja sehr großes Vertrauen in die Zukunft haben dürfen. Alles, was die Gute Mutter vorausgesagt hat, ist bisher in Erfüllung gegangen. Es bleiben nur noch einige ihrer Ankündigungen, auf deren Erfüllung wir noch warten. Das sind sehr schöne Versprechungen: „Man wird den Heiland von neuem auf Erden wandeln sehen… wie gern hätte ich das noch erlebt“, fügte sie hinzu. „Wie schön und großartig wird das sein! Großen Trost und große Hoffnung wird die Kirche daraus schöpfen!“ Meine Freunde, das hat sich bis jetzt noch nicht verwirklicht. Ich möchte euch nicht noch einmal von der Erscheinung unseres Herrn erzählen. Dreißig Jahre habe ich darüber geschwiegen. Würde ich darüber schweigen, so fühle ich, dass ich meine Pflicht gegenüber unserem Herrn vernachlässigen würde. Er hat mir gesagt oder vielmehr verständlich gemacht, durch seine Haltung und seinen Gesichtsausdruck, dass man ein bisschen streng sein muss, wenn man Menschen zu führen hat. Strenge liegt aber meinem Charakter gar nicht. Ich kann nicht verstehen, dass man gegen einen einzelnen Menschen streng sein kann. So will ich wenigstens, was die hl. Regel angeht, streng sein. Das Gesetz muss beobachtet werden, so wie es ist. Gesetz ist Gesetz.
Es ist sicher, dass ein Oberer nicht von jedem die Vollkommenheit verlangen kann. Er täte gut daran, bei sich selbst damit zu beginnen, und das ist sehr schwer. Der Obere muss Rücksicht nehmen auf eines jeden Fähigkeit und auf seine besondere Gabe. Er kann nicht alle gleich behandeln. Man kann von einem nur das verlangen, was er begreift und nicht alles, was er tun kann. Manchen Charakteren tut Schonung gut. Man darf somit kein Ärgernis nehmen, wenn der Obere diesen gegenüber bei der oder jener Gelegenheit eine gewisse Schwäche zu zeigen scheint. Wenn er Rücksicht nimmt auf den, dessen Last schon zu schwer drückt. Wenn er also mit seiner sittlichen Misere Mitleid hat.

Davon abgesehen aber ist der Obere im Gewissen und auf die Gefahr hin, seine Standespflicht zu vernachlässigen, gehalten, die Beobachtung der hl. Regel von allen zu verlangen.

Ich verlasse mich auf euer Gebet und euren guten Willen, dass ihr alle dahin gelangt, das klösterliche und priesterliche Leben zu verstehen. Dass ihr euer Leben auf die sichersten Grundlagen der Theologie und des geistlichen Lebens zu stellen lernt. Unsere Lehre ist die des hl. Thomas von Aquin. Lest nur nach, was er über die Gelübde, über das Ordensleben, die Pflicht des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit lehrt. Das ist auch unsere Lehre und unser Fundament. Davon lassen wir uns nicht abbringen. Nur ungern lassen wir die neuen Bücher zu, wir bleiben lieber beim hl. Thomas und seiner Lehre. Auf diesem Grund bauen wir Oblaten des hl. Franz v. Sales auf. Da nehmen wir das Gerüst für unser Gebäude und ergänzen das Fehlende durch unseren eigenen Ordensgeist. Die Lehre des hl. Thomas bildet das Skelett, das dem Fleisch seinen Halt gibt, und dieses Fleisch nimmt selbst die Form des Skelettes an. Wir dürfen keine andere Regel und kein anderes Fundament haben als jene, die uns die hl. Kirche übergeben hat. Fügen wir diesem unserem speziellen Ordensgeist hinzu, unsere ganz salesianische Art, die Gelübde des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit zu begreifen und zu praktizieren. Um diesen Geist aber gut zu verstehen, muss man ihn in den Schriften des hl. Stifters, in den Überlieferungen der Heimsuchung, im Leben und im Schrifttum der Guten Mutter Maria Salesia studieren. Die Lehre der Guten Mutter ist approbiert. Alles ist kanonisch und nach allen Regeln geprüft.

Aber soll man denn die Eingebungen einer Frau anhören und befolgen? Betrachtet, meine Freunde, was im Abendmahlsaal geschieht. Wer führt dort den Vorsitz inmitten der Apostel? Es ist die allerseligste Jungfrau und sie empfängt als erste den Hl. Geist, nach einer wohlberechtigten theologischen Meinung. Auch ich wollte am Anfang die Gute Mutter nicht anhören. „Warum wollten Sie ihr denn nicht glauben?“ fragte mich der Hl. Vater. „Heiliger Vater, weil es eine Frau war. Hätte mein Beichtvater oder der Bischof mir anders geraten, ich hätte es geglaubt und hätte gehorcht.“ – „Soso, weil es eine Frau war!“ fuhr Leo XIII. fort. „Nun, jetzt gibt Ihnen keine Frau mehr Ihre Sendung, sondern ich selbst. Sie bitten um die Approbation der Hl. Kirche? Ich gebe sie Ihnen, und noch mehr als das: Ich, der Papst, sende Sie aus… Gehen Sie zuerst nach Frankreich, und dann anderwärts. Alle, die mit Ihnen zusammenarbeiten, werden persönlich den Willen Gottes erfüllen…“

Liebe Freunde, unser Herr ist mir erschienen, der Papst erteilt mir die Sendung. Jetzt ist es an mir, meine Aufgabe zu erfüllen. Täte ich das nicht, würde ich mich sehr schuldbar machen.

Ihr kennt genau die Liebe, die ich zu euch hege. Das trübt vielleicht ein bisschen mein Urteil, wenn ich mich in eurer Gegenwart befinde. Aber nein, ich glaube wirklich, dass ihr alles Nötige habt, um dieses Werk zu vollbringen. Wenn der General der Jesuiten zu mir sagen würde: Ich gebe Ihnen 30 meiner Ordensleute und Sie geben mir dafür dreißig Oblaten zurück, wir machen einen Tausch, oder der General der Dominikaner oder ein Oberer der Benediktiner oder der Trappisten würden mir diesen Vorschlag machen, ich würde ihnen antworten: Nein, nein, tausendmal nein. Jeder der mir da angebotenen Ordensleute würde vielleicht an Geist, an Wissen und Einfluss überlegen sein. Mir aber ist eure Einfachheit, eure Geradheit und euer Geist lieber, meine Freunde, als der ihre, trotz aller tatsächlichen Tugenden, die sie haben mögen.

Ich erinnere mich an einen guten, alten, heiligmäßigen Trappistenpater, der mir über einen seiner Mitbrüder sagte: Das ist ein famoses Original. Unmöglich, mit ihm zusammenzuleben.

Durchdringen wir uns also tief mit dem Geist des hl. Franz v. Sales. Das ist ein unschätzbarer Schatz. Wir haben wenig äußere Bußübungen. Was enthält schon unsere Regel? Wenig. Wir sind verpflichtet, die allgemeine, gewöhnliche christliche Buße zu tun, und dazu noch einige kleine Bußübungen unseres Ordenslebens, die unsere Satzungen uns abverlangen. Unsere Buße muss hauptsächlich eine innere sein, die des Geistes, des Willens, des Urteils. Unsere Abtötung ist der exakte Gehorsam und die Unterwerfung unter den Willen und das Urteil der Oberen.

Während der Zeit, wo ich Geistlicher der Heimsuchung war, gab es fünf verschiedene Oberinnen dort. Dennoch hörte ich in der Kommunität nie eine Bemerkung gegen die Unterwerfung und die Ehrfurcht, die der Oberin gebührt. Es war eine heilige Ordensgemeinde. Jede dieser fünf Oberinnen hatte einen anderen Charakter. Eine von ihnen war sehr gütig, Schwester Maria Franziska. Sie hatte keine großen Fähigkeiten und nicht viel Gaben des Geistes und Willens. Aber man gehorchte ihr und alles klappte wie bei den anderen. Auch in der Heimsuchung kennt man keine großen körperlichen Bußübungen. Alles beruht dort auf der geistigen Abtötung, vor allem auf dem Gehorsam kein außerordentliches Mittel der Abtötung dar? Hört, was der hl. Bernhard sagt: „Nur seinen eigenen Willen als Meister anerkennen wollen, ist Zeichen von Torheit.“

Unsere große Abtötung besteht also in einem ununterbrochenen Kampf gegen den eigenen Willen, ein Kampf bis zum Tod.

Hat man allzu lang gewartet, damit Ernst zu machen, beginnt man also spät im Leben, wo das Ende schon mit großen Schritten naht und Kraft und Fähigkeiten bereits geschwächt sind, kostet das viel Mühe. Und was schaut schon dabei heraus? Entschließen wir uns darum, beizeiten zu beginnen.

Was werden wir erreichen, wenn wir uns mit ganzem Herzen daran machen? Dass wir Heilige werden! Sind wir aber Heilige, so werden die Seelen, die uns nahekommen, davon angerührt und Gott ausgeliefert. Unser Einfluss auf sie wird groß und heilsam sein.

Dann werden auch alle Oblaten einander gleichen, so wie die Schwestern der Heimsuchung einander gleichen. Es ist ja derselbe Inhalt, derselbe Geist, derselbe Verzicht auf die eigene Person, dieselbe Ehrfurcht. Machen wir uns also an die Arbeit, liebe Freunde. Wir wollen die Erklärung der Satzungen wieder aufnehmen, sobald die neuen Satzungen aus Rom ankommen. Ich wünsche sehr, dass ihr euch Notizen über das macht, was ich euch sagen werde, damit es haften bleibt. Ihr habt keine zwei Gründer, sondern nur den einen, nämlich mich! Alles, was nach mir gesagt wird, muss sich auf das gründen, was ich gesagt habe.

Wenn ich das ausspreche, kann ich mir nicht verhehlen, dass ich dabei ein großes Vertrauen empfinde. Die Gnade Gottes wird in der Genossenschaft wirksam werden. Sie muss uns alle zur Treue führen, koste es, was es wolle, so dass wir alle gleichen Schrittes voranschreiten.

Jeder sollte bei der hl. Kommunion und hl. Messe sowie in den Momenten der Sammlung für die Genossenschaft beten. Für dieses Anliegen wollen wir die kleinen Verdrießlichkeiten, Leiden und Arbeiten aufopfern. All das sollte der Genossenschaft und ihrer Ausbreitung gewidmet werden. Die so handeln, werden gerettet werden und viele andere mitretten. Beten wir darum aus ganzem Herzen auch zur Guten Mutter.

D.s.b.