Kapitel vom 16.06.1897: Unsere Abtötung ist die Beachtung der hl. Regel
„Man darf nichts sagen oder tun, was die anderen beleidigen könnte noch sich selbst durch ihre Handlungen oder Worte verletzt zeigen.“
Was ich jetzt sagen werde, meine Freunde, sind keine gewöhnlichen Empfehlungen, da bei uns die Übung dieser Dinge eine strenge Verpflichtung darstellt und wir kaum andere äußere Abtötungen haben als diese.
Soll das heißen, dass wir überhaupt keine körperlichen Abtötungen haben? Nein, denn wir haben welche. Wir haben die Überwindung bei jeder Mahlzeit. Dann jene, die wir auf den Rat unseres Beichtvaters hin vornehmen können oder auch des Oberen, vorausgesetzt, sie schaden unserer Gesundheit nicht, oder sie machen uns glauben, wir besäßen einen höheren Grad von Heiligkeit als die anderen. In diesem Fall wäre es besser, gut zu essen statt zu fasten. Nach dem Geist der Kirche gibt es also zweierlei Bußübungen: die körperlichen und die geistigen. In einigen Orden herrscht die körperliche vor, bei uns sind es die geistigen, die des Geistes, des Verstandes, der Phantasie, des Willens und Urteils. Unser Urteil sollen wir überwinden im Gehorsam. Soll das bedeuten, dass der Gehorsam uns zwingt, etwas weiß zu nennen, was wir als blau erkennen? Nein, aber er verpflichtet uns, das zu tun, was man uns aufträgt.
Vorgestern fragte ich P. Lambert: „Was halten Sie von unseren Satzungen?“ - „Herr Pater“, antwortete er mir, „ich glaube, Sie können Heilige heranbilden.“ Meine Freunde, hier werden in der Tat energische Hilfsmittel geboten, die man anderswo nicht findet. Wendet man sie aber nicht, diese Mittel, dann bleibt nichts mehr übrig. Ein Benediktiner, Pater Klemens, sagte mir: „Der hl. Franz v. Sales ist der größte geistliche Stratege. Mit seiner Lehre dient man Gott wirklich im Geist und in der Wahrheit…“ Ist das leicht, Gott im Geist und in der Wahrheit zu dienen? Nein, das ist die mühsamste Abtötung. An sie gewöhnt man sich nie. Unsere Natur kann sich wohl daran gewöhnen, nur halbsoviel oder nur alle zwei Tage zu essen. Sich aber an diese ununterbrochene Abtötung des Urteils und Willens gewöhnen, ist ganz anders schwierig. Begreifen wir darum wohl diese Art Abtötung, die sich, wie unser Direktorium sagt, in all unseren Handlungen findet. Darin liegt der ganze Geist unserer Regel beschlossen. Nur unter dieser Bedingung stellen die Oblaten etwas vor.
„Man gebe niemals seinen Widerwillen…kund.“
Wir müssen in unserem Reden große Diskretion walten lassen, um nicht gegen die Nächstenliebe zu fehlen wie auch um die Ehrfurcht vor der hl. Regel zu bewahren. Vor allem tut uns höchste Ehrfurcht not gegenüber den Fragen der Leitung und insbesondere gegenüber den Einzelheiten, die das Kapitel betreffen. Alle kanonischen Regeln bestimmen, dass derjenige, der weitererzählt im Kapitel geschieht, ein ganzes Jahr nicht mehr am Kapitel der Ordensgemeinde teilnehmen darf. Auch nicht untereinander darf man über das sprechen, was im Kapitel gesagt wurde. Hat man sich aber gegen diesen Punkt verfehlt, muss man sich im nächsten Kapitel darüber anklagen und um eine Buße bitten. Ja, das wollen wir von jetzt an tun. Geben wir uns ganz der Übung der hl. Regel hin! Auch ich an erster Stelle will mich daran machen, obwohl es etwas gibt, was mir außerordentlich schwer fällt: die brüderliche Zurechtweisung…
„Niemand soll den guten Ruf der Oblaten und besonders der Oberen auch nur im Geringsten antasten…“
Es gibt Novizen und sogar Professen, die sich nicht scheuen, gegen diesen Punkt zu verstoßen: sie streuen ihr Körnchen Salz überall hin. Das müssen wir vermeiden. Darin besteht ja unsere Buße. Das ist ja, als würde ich zu einem Kartäuser sagen, sich des Morgens durch ein Frühstück stärken. Er täte es auf keinen Fall. So müssen auch wir unsere Buße tun: die Abtötung des Geistes, des Urteils und des Willens. So macht man Heilige, wie man mit dem Fasten Heilige macht. Gewiss, durch materielles Fasten zieht man gute und heiligmäßige Menschen heran, doch die Vollkommenheit erreicht man damit nicht: man muss mit der körperlichen Abtötung auch die geistige verbinden.
„Man kümmere sich nicht neugierig um die Verwaltung des Hauses und spreche darüber nicht untereinander.“
In der letzten Zeit kam mir von verschiedenen Seiten zu Ohren, dass man untereinander über die Nahrung spricht. Das hat mich sehr in Erstaunen versetzt. Darüber sollte man nicht klagen. Hat man eine Beschwerde vorzubringen, so wende man sich an den Ökonomen. Das ist in Ordnung. Doch spreche man nicht untereinander darüber. Ich wiederhole: die hl. Regel ist, wenn sie treu beobachtet wird, unsere Abtötung, unser Fasten, unser Bußgürtel und härenes Gewand, unser Schlafen auf bloßer Erde.
„Aufregende Fragen über Politik oder die verschiedenen Nationen und Provinzen sollen vermieden werden.“
Wir sollen keine Politik betreiben. Das ist für einen Ordensmann eine nutzlose und müßige Beschäftigung. Seine Zeitung sei das Evangelium. Der Obere möge sich dafür interessieren, soweit es für die Kongregation wichtig ist. Dagegen ist nichts einzuwenden. Der einzelne Ordensmann aber soll sich nicht damit befassen. Jeder prüfe sich über alles, was ich da gesagt habe, und findet er einen Fehler dieser Art, so möge er sich im Kapitel darüber anklagen. Ich bestehe auf diesen Dingen! Das sind keine Bagatellen, sondern es ist für uns alles. Auch ein Kartäuser steht um zwei Uhr nachts auf, um sein göttliches Offizium zu singen in der eiskalten Kirche, wo er zum Hinsetzen nur die „Miericordie“ (Anm.: „kleine Stütze“) am Sitz seines Chorstuhls hat… Der Gedanke, um Erlaubnis zu bitten, einen Fußwärmer oder einen bequemen Stuhl mitzubringen, kommt ihm nicht einmal in den Sinn… Nein, das ist seine Abtötung, und er trägt sie. So dürft auch ihr euch nicht dieser oder jener Abtötung entziehen, die euch der Gehorsam, die treue Beobachtung der Regel in Haltung, Blicken, Worten und Verhalten zum Mitbruder auferlegt. Nicht einmal auf den Gedanken solltet ihr kommen, euch der damit verbundenen Abtötung zu entziehen. Genau das ist ja eure Oblatenbuße. Was wäret ihr denn, wenn ihr das nicht tätet?
Der Kartäuser ist zum strengsten Stillschweigen verpflichtet. Er hält sich daran, um ein guter und echter Kartäuser zu sein. Von euch Oblaten wird verlangt, ihr solltet nicht über dies und das reden. Wenn ihr das nicht beachtet, begeht ihr dann nicht denselben Fehler wie ein Kartäuser, der sein Stillschweigen bricht?
Heute wäre der 104. Geburtstag der Guten Mutter. Beten wir viel zu ihr, bringen wir ihr kindliches Vertrauen entgegen und erbitten wir ihren mütterlichen Schutz. P. Rollin schreibt mir, der Erzbischof von Athen werde uns demnächst besuchen. In Rom schätze man sehr den Geist und die Arbeit der Oblaten. Auch unseren Satzungen zolle man Achtung… Seien wir also gute und echte Oblaten, im Namen des Herrn. Amen.
D.s.b.
