Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 05.05.1897: Eine gut eingestellte Nächstenliebe ist die höchste und beste Buße

Ein Kapuzinerpater war damit beauftragt, unsere Satzungen zu überprüfen. In seinem Bericht stellte er fest, er finde die Lehre des hl. Franz v. Sales ja sehr schön, habe aber in den Satzungen keine Spur von äußeren Abtötungen entdecken können. Keine Ordensgemeinschaft könne aber ohne Buße und äußere Abtötungen leben. Darum wünschte er, man möge am Freitag die Geißelung vornehmen und an den Vigilien der hohen Feste ein Fasten… Die Kommission dagegen fand es unangebracht, einen Zusatz anzubringen. Sie begründete dies damit: wenn die Oblaten ihre Satzungen und das Direktorium treu beobachten, so wie sind, haben sie damit genug Buße und äußere wie innere Abtötung geübt.

Meine Freunde, lasst uns das gut erfassen. Der hl. Franz v. Sales ist sehr mild, das ist klar und wahr. Dringt man aber auf den Grund seiner Lehre vor, so erkennt man, dass die Abtötung im Inneren wie im Äußeren ganz und vollständig ist. Er war selbst sehr abgetötet in Nahrung, Kleidung und Haltung. Seine Lehre predigt uns unaufhörlich und ohne Umschweife, was wir Gott schulden an Erstreben unser selbst wie unserer Sinne und an äußeren wie inneren Überwindungen. In die Lehre des Heiligen ist unser gesamtes Leben ohne Einschränkung einbegriffen: uns selbst erstreben, um allein in Gott zu leben. Das ist unser Lebensinhalt, unser einziges Tun. Dabei soll es sich aber nicht um eine Abtötung handeln, deren Zeuge Gott allein ist, die ohne Frucht und Wirkung nach außen bleibt. Unsere Abtötung soll vielmehr ungeheuer viel Gutes hervorbringen, zunächst in uns selbst, dann in den Mitmenschen. Der beste und nützlichste Teil unserer Abtötung liegt also in dem Liebesakt beschlossen, den das Direktorium von uns verlangt: Selbstverleugnung, um mit Gott vereinigt zu sein, und die Auferbauung des Nächsten, die als nützlichste Abtötung aus dieser Gottvereinigung erfließt.
Wie lässt sich diese Abtötung praktizieren? Der hl. Stifter gibt uns das Mittel an die Hand: Wir leben in einer Kommunität. Die Geschmäcker sind nicht die gleichen. Das bringt Reibungen und Zusammenstöße mit sich, die häufig, fühlbar und manchmal schmerzhaft sein können. Der hl. Stifter rät uns nicht nur, diese Zusammenstöße zu ertragen, sondern sie mit Sanftmut und Geduld anzunehmen, indem wir einen Tugendakt daraus machen, auf dass alle unsere Opfer das Wohl der Seelen und der hl. Kirche fördern.

Darum, meine Freunde, wiederhole ich den Rat, den ich euch schon oft gegeben habe, und alle, die mir darin gefolgt sind, fanden sich wohl dabei, nämlich das Gelübde der Nächstenliebe abzulegen. Dieses Gelübde besteht nicht nur darin, nichts Böses vom Mitbruder zu sagen, sondern darin, zuvorkommend, gefällig, gütig und dienstbeflissen zu sein. Die Liebe muss ja positiv sein, nicht bloß negativ. Wir sollen ja durch unser Gebet, unser Wohlwollen, unsere Anstrengungen und auf Kosten unserer Bequemlichkeit unserem Nächsten in all seinem Tun helfen. Wenn wir soweit gekommen sind, werden wir die schönste Gemeinschaft bilden, die man finden kann… Wir sollen unserem Mitbruder durch unser Gebet zu Hilfe kommen. Da ist z.B. ein Pater im Predigtapostolat oder in der Seelsorge tätig. Für ihn müssen wir ganz besonders beten. Es soll uns eine heilige Verpflichtung sein, für jene zu beten, die es am meisten brauchen, in unserer Betrachtung, bei der hl. Messe, und bei der hl. Kommunion. Lasst uns für die vor allem beten, die in ihren Ansichten und Urteilen von den unseren abweichen.

Auf diese Weise vollzieht sich eine Verschmelzung der Willen, Neigungen und Herzen. Üben wir die Liebe in dieser Form, dann bilden wir eine starke, einmütig, ja heilige Gemeinschaft. Es ist die Weise, auf kürzestem Weg in den Himmel zu kommen. Das fällt aber ganz und gar nicht leicht, ja es ist die schwerste Abtötung, die man sich vorstellen kann. Und darum, weil sie so viel kostet, ist sie etwas wert, mehr wert als ein Verzicht auf ein Stück Brot. Bemühen wir uns also, auf diesem Weg voranzuschreiten, dann werden wir echte Oblaten werden. Leisten wir einen vollen Beitrag zur Arbeit des Mitbruders, seien wir gütig, mitleidig, ehrfürchtig, wie der hl. Franz v. Sales es will. Jeder hat seine Schwächen, seine Erbärmlichkeiten, seine Eigenheiten, die oft den unseren direkt entgegenstehen. Das ist sicher reiche Materie für Opfer, mehr als Fasten bei Wasser und Brot. Was folgt daraus? Diese Einstellung bleibt nicht verborgen. Wenn man fastet, profitiert davon unmittelbar der Faster, niemand wird sonst erbaut und ermutigt. Setzt ihr aber einen Akt der Liebe, seid ihr sanftmütig, geduldig, zuvorkommend, dann sind alle erbaut. Dann sieht man euch an dem Platz, auf den ihr hingehört. Trachten wir darum danach, uns darin zu üben. Warum sollen die meisten von uns nicht das Gelübde der Nächstenliebe ablegen, nachdem wir den Rat des Beichtvaters eingeholt haben, z.B. für 14 Tage? Ich verhehle mir nicht, wie schwierig und natürlicherweise unmöglich das ist, was ich da vorschlage. Zu seiner Durchführung bedarf es einer speziellen Gnade, die der liebe Gott aber nicht verweigert. Dieses übernatürliche Band, das sich so zwischen den Ordensleuten knüpft, schafft einen Gleichklang der Stimmung und erleichtert damit das Zusammenleben. Wir sollten unbedingt zu dieser praktischen Nächstenliebe gelangen. Da ist ein Pater, der sich seiner Arbeit hingibt. Wir dürfen uns ihm nicht entgegenstemmen und versuchen, seine Arbeit zu zerstören. Im Gegenteil: man sollte ihn durch Gebet unterstützen und von ihm alle Schwierigkeiten entfernen, soweit wir dazu in der Lage sind. Das ist groß, das ist schön! Jede andere Handlungsweise ist klein und engstirnig. Da handelt z.B. ein Mitbruder nicht, wie wir gerne möchten: wir kritisieren ihn und „jagen ihn zum Teufel“… Das beweist wenig Intelligenz und wenig Tugend. Denken wir gut darüber nach, legen wir unser Gelübde der Nächstenliebe ab und bleiben wir diesem treu, indem wir unseren ganzen Willen dem Mühen des Mitbruders zur Verfügung stellen.

Widersprechen und widersetzen wir uns ihm nie, vorausgesetzt natürlich er verbleibt in den Schranken des Gehorsams und der Regel. Achten wir das, was ein jeder tut. Das ist unsere Pflicht. Die Satzungen wünschen, dass wir aneinander nicht vorbeigehen, ohne uns zu grüßen, dass wir einander achten und dass sich das auch äußerlich zeigt. Wahren wir diese Ehrfurcht, nicht nur bei unseren äußeren Begegnungen, sondern in jeder Situation. In jedem Punkt unser Satzungen und unserer Regel findet sich ein Hauch und Funke von Leben, ein Strahl göttlicher Wahrheit und göttlichen Lebens. Diese Ehrfurcht muss sich aber bemerkbar machen. Das ist eine großartige und kraftvolle Taktik, meine Freunde, Ehrfurcht zu haben vor jenen, mit denen wir in geistlichen Beziehungen stehen.

Das also ist unser Geist. Wenn ein Oblate sich darauf beschränkt, ein gewöhnlicher Geistlicher zu sein, so genügt das nicht. Und wäre er selbst ein Heiliger, und fehlt ihm diese Nuance, wäre er kein wirklicher Oblate. Er wird nicht den Erfolg haben, den er haben müsste. Diese Herablassung, Güte und Liebe macht den Kern der Lehre des hl. Franz v. Sales aus. Lest nur sein Leben, lest seine Schriften, von einem Ende zum anderen werdet ihr nichts anderen finden. Und noch einmal: ist das etwa leicht? Nicht besonders… Können wir das lange durchhalten? Werden wir lange Zeit hindurch bei unseren festen Entschlüssen bleiben? Bestimmt nicht, wenn wir uns nicht durch ein Gelübde der Nächstenliebe dazu verpflichten. Schweres auf beständige Weise tut man nur, wenn man sich dazu verpflichtet weiß, wenn man eine Last der Pflicht und eines gewissen Zwanges auf den Schultern spürt.

Erscheinen wir vor Gott mit dieser Abtötung der Nächstenliebe in den Händen, dann brauchen wir wahrlich die Bußübungen des guten Kapuziners nicht. Ich kann diesem vortrefflichen Pater versichern, dass der Verzicht auf ein Wort verdienstlicher ist als der Verzicht auf ein Stück Fleisch. Diese Lehre müssen wir verkünden und in unseren apostolischen Werken und Kollegien praktizieren.

Es gibt eine Kongregation, die ungeheuer viel Gutes wirkt. Es sind die Redemptoristen des hl. Alfons v. Ligouri. Warum das? Weil sie in der Seelenführungen den theologischen Grundsätzen ihres hl. Stifters folgen. Der hl. Alfons und der hl. Franz v. Sales haben fast denselben Geist. Auch der hl. Franz v. Sales ist ein großer und tiefgründiger Theologe. Er geht sogar über den hl. Alfons hinaus und ist zwar ein tüchtiger Moralist, aber auch ein Philosoph, ein Mann, der in der menschlichen Gesellschaft gelebt hat und sie von Grund auf kennt. Er bietet ihr die Heilmittel an, die ihr nottun. Er war auch der Prophet, der die kommenden Jahrhunderte vorausgeahnt und die notwendigen Hilfen für die Bedürfnisse jeder Epoche vorbereitet hat. Wir aber, meine Freunde, sind berufen, sein Werk fortzusetzen und zu verewigen. Tun wir also genau das, was er getan hat.

Wir hatten unlängst eine Versammlung unseres Priesterbundes. Das war eine wahre Offenbarung für manchen dieser guten Geistlichen. Einer von ihnen, der uns bisher heftig widerstand, will nach eigenem Geständnis einer der ergebensten Streiter für unsere Sache werden. Er hat eingesehen, dass unsere Art vorzugehen gerade und Gott angenehm ist, der Seele alle Freiheit und Bewegung belässt und keiner hemmenden Aufsicht und keinem demütigenden Zwang unterwirft.

Ihr habt eine Schar Seelen zu leiten. Dafür müsst ihr schon jetzt in eurer Seele die Form und Gestalt entwickeln, die ihr diesen Seelen einprägen wollt, damit sie dem göttlichen Hirten angenehm seien. Fangt also bereits jetzt an und werdet selbst dieses Modell. So verfuhr der hl. Stifter. Machen wir uns also energisch an die Übung des Gelübdes der Nächstenliebe. Wir stehen ja in der Zeit der Auferstehung unseres Herrn. Sie werde auch für uns eine Zeit der Auferstehung, zu einem neuen Leben, dass wir nicht mehr unser eigenes Leben führen, sondern das Seinige.

Beten wir zum hl. Franz v. Sales und zur Guten Mutter. Dann werden wir ganze Männer werden und etwas leisten. Und auch für uns selbst wird etwas abfallen: der Lohn, den wir durch unseren Verzicht und unser Opfer errungen haben. Der liebe Gott belohnt ja immer auf eine herrliche Weise unser Opferleben.

D.s.b.