Kapitel vom 07.04.1897: Unseren guten Ruf müssen wir verteidigen
Ich muss euch etwas sehr Wichtiges sagen, etwas, was jedermann beherzigen sollte. In der Gegenwart ist in unserer Diözese, in Troyes vor allem, eine Art Gärung festzustellen gegen die Priester. Gewisse Menschen, denen es sicher etwas an gesundem Urteil fehlt, begeben sich zum Ordinariat, um alle möglichen Denunziationen vorzubringen. Kürzlich sagte mir der Generalvikar, das gehe ihm allmählich auf die Nerven. Mir selbst wurden ebenfalls von gewissen Personen, die sich für sehr ergeben ausgeben, an deren Ergebenheit ich aber durchaus Zweifel hege, Anklage gegen den und jenen Pater, den und jenen ihrer Helfer vorgetragen.
Das ist gewiss lächerlich, meine Freunde. Dennoch sollten wir ein bisschen darauf Rücksicht nehmen. Ohne jeden Zweifel kamen in Troyes Ärgernisse vor… Das hat die öffentliche Meinung erregt, und allzu gern möchte man nun alles zu einem Skandal ausschlachten… Es gebe da, so sagte man mir, in St. Bernhard einen kleinen Abbé (unter den Lehrern in unseren Kollegien zu Troyes gab und gibt es immer auch Weltgeistliche), der ganz und gar nicht die für einen Geistlichen passende Haltung wahre. Ich verlangte von diesen liebevollen Menschen eine genaue Beschreibung jenes Abbés. Man gab mir eine bis ins Einzelne gehende Beschreibung, die ganz offensichtlich glücklicherweise auf niemand in St. Bernhard zutreffen konnte. Man wird also das Thema wechseln und etwas anderes erfinden müssen. Meine Freunde, wir brauchen einen guten Ruf. Und man muss sich wahrlich genau überwachen, wenn man nicht schlecht beurteilt werden will. Kommen wir immer wieder auf das Wort des Konzils von Trient zurück: „Nur Ernst, Maß und Frömmigkeit atmet ihren Gehabe.“ In Troyes hält sich der Klerus gut und würdig. Geben wir uns darum umso mehr Mühe um eine würdige und gute Haltung. Es gibt brave Leute, die unserem St. Bernhard ganz und gar nicht gewogen sind. Seien wir also auf der Hut! Machen wir uns redlich, tapfer und einfach an unsere Arbeit, ohne den Eindruck zu erwecken, wir fühlten uns gehemmt oder wollten andere hemmen. Es gibt heute, ich sage es noch einmal, eine starke Bewegung gegen den Klerus. Wie können wir uns da vor jeder Kritik schützen? Indem wir uns treu an das halten, was unsere Satzungen vorschreiben: nicht ohne Erlaubnis ausgehen, ohne zu sagen, wohin und zu welchem Zweck wir es tun. Denn außerhalb der Regel gibt es keine Garantie, nicht für die ganze Ordensgemeinde und auch nicht für den einzelnen Ordensmann.
Wir wollen keine Art von gewohnheitsmäßigen Beziehungen zu einer Familie, einem Haus, einer Person im Besonderen unterhalten, ohne eine ausdrückliche Erlaubnis. Denn jeder Ordensmann wie jede Ordensfrau, die sich an eine Person oder ein Haus außerhalb des Klosters heften, verlieren die Freude an ihrem Beruf oder sogar den Beruf selbst. Wir wollen also alle engeren Beziehungen zu Weltmenschen meiden. Sind wir aber dazu gezwungen, so wollen wir uns innerhalb der Grenzen unseres Amtes und des Gehorsams halten. Statten wir auch keine Besuche ohne Auftrag und Erlaubnis ab. Das ist zwar lästig, aber diese Abhängigkeit wird euch viel Verdruss und Ärger ersparen.
Wir stehen in der Vorbereitung auf die österlichen Feierlichkeiten. Die Geheimnisse der Passion wollen wir nicht vorübergehen lassen, ohne deren Segnungen und Wohltaten einzuheimsen. Bedenkt, dass die hl. Kirche keine Feste ohne besondere Absicht einsetzt. Ostern bedeutet Auferstehung, Karfreitag Tod des Herrn. Forschen wir nach, was in unserem Herzen, in unserem Leben, unseren Neigungen und Gewohnheiten auferstehen bzw. sterben muss. Ein wirklich vernünftiger und kluger Mensch, der einen geraden, redlichen Sinn hat, rennt nicht allen möglichen Dingen nach, läuft nicht hinter allem her, was er sich einbildet und was ihm durch den Kopf geht. Er gebraucht vielmehr das, was er in Händen hat. Uns stehen also einige Feste bevor: Palmsonntag, Gründonnerstag, Karfreitag, Ostern. Lasst uns davon profitieren! Diese Tage dürfen nicht vorübergehen wie die übrigen, ohne seelischen Nutzen. Sonst bewiese unsere Seele wenig Zartgefühl und begriffe kaum, was ihr nottut und wo ihr wahrer Vorteil liegt. Seien wir praktische Menschen. Anderenfalls kommen wir zu nichts. Es gibt nichts Traurigeres als ein Nichts, ein Taugenichts zu sein. Lest nur, was die Apokalypse schreibt: „Warum bist du nicht kalt oder warm? Weil du weder das eine noch das andere, sondern lau bist, will ich dich ausspeien aus meinem Mund.“ Das Nichts erregt eben Übelkeit.
Wie können wir aber diese Wärme, dieses Leben in uns erhalten? Betet darum bei der Besuchung des Allerheiligsten, bei der hl. Messe. Denkt darüber nach in euren freien Minuten, in den Augenblicken der Ruhe. Auf diese Weise sammelt man allerlei ein.
Betrachtet ein Genie wie Bossuet. Seine sämtlichen Gedanken wandten sich hin auf die Hl. Schrift… Lest besonders seine Rede an die Jünger nach dem Abendmahl. Ja, lest sie nur, dann werdet ihr merken, dass er nichts anderes schreibt als die Hl. Schrift und sie mit kurzen Kommentaren versieht. Und doch, welche Lichtfülle, welchen Glanz breitet er über den Text des Evangeliums!
Ich sage noch einmal, meine Freunde: Wir sollen keine Nullen sein. Ich wünsche vielmehr von ganzem Herzen, dass die Oblaten etwas vorstellen, dass wir dieses sichere und praktische Urteil haben, das alles zu unserer Heiligung und zur Vermehrung der Gottesliebe verwertet.
Ein kleines Wort aus dem Brevier kann uns Licht geben, etwas, was nicht mehr wegzudenken ist, was in uns bleibt und unseren inneren Vorrat vermehrt. Müsst ihr dann das Wort ergreifen, dann braucht ihr nicht irgendwo zu suchen und Bücher zu wälzen, weil ihr in euch selbst vorfindet, was ihr sagen sollt. Es strömt aus eurem Inneren, ihr seid kein bloßes Echo.
Damit, meine Freunde, stellt man etwas dar, man übt einen wirklichen und heilsamen Einfluss auf die Seelen aus. Was man ihnen gibt, reißt sie mit, quillt aus unserem Herzen. Feiert unsere Feste also im Geist der hl. Kirche und unserer Regel. Dann wird euer Geist genährt und erleuchtet werden. Ihr werdet etwas sein, nicht unnütz wie so viele Menschen unserer Zeit, die nichts sind und zu nichts taugen.
Wie gelangt man aber in der Praxis dahin, etwas vorzustellen? „Übung macht den Meister.“ Dieses Sprichwort ist zwar alt, aber voller Wahrheit. Geht darum mit ganzem Herzen in diese Festtage: Palmsonntag, Passion, Ostern. In allen kirchlichen Gottesdiensten stecken so viele Schönheiten, die erleuchten, ermutigen und anregen. Lebt davon in dieser Woche, dann stärkt ihr euch mit nahrhafter und wesentlicher Kost. Macht eure Betrachtung darüber, dann wird euer inneres Beten die Eigenliebe und Feigheit ausschließen. Denken wir nach, beten wir, sammeln wir und benutzen wir alles, was in uns und um uns vorgeht, was wir tun und hören, was wir von neuem lernen, unsere kleinen Übungen, unsere täglichen Anstrengungen: nichts davon sollen wir vergeuden. Dann werden wir etwas und leisten etwas.
P. Poupard hält den Schülerinnen der Oblatinnen einen Exerzitienkurs. Sie hören ihm gern zu und gehen auf ihn ein. Warum das? Weil P. Poupard arbeitet. Er entdeckt jeden Tag etwas, was ihm neu ist, er sammelt es in seine Scheuer. Und das gibt seinen Studien und seinem Unterricht Leben und einen mächtigen Reiz. Diese Fräulein sagen: Es sollten immer Oblaten sein, die uns Exerzitien halten. Die anderen verstehen wir nicht. Die Oblaten dagegen tragen Dinge vor, die wir begreifen. Natürlich, wenn man sich damit begnügt, aus einem Predigtbuch etwas abzuschreiben und irgendwie vorzutragen, was kann man dann schon für einen Nutzen erwarten? Wenn man nicht ganz durchdrungen ist von dem, was man vorträgt, wenn man kein lebendiges Wort anbietet… Seien wir also praktische Menschen! Jeder von uns sei eine Persönlichkeit und leiste etwas!
D.s.b.
