Kapitel vom 24.03.1897: Wie man eine gute Rechenschaft ablegt
Eine der Hauptbedingungen, um im Ordensstand Erfolg zu haben, ist die gut abgelegte Rechenschaft.
Verstehen wir uns gut in diesem Punkt. Es sind in manchen Orden ohne Priester und in mehreren Frauenkongregationen Missbräuche vorgekommen. Es gab da anscheinend eine Einmischung in den Gewissensbereich und in Gebiete, dem Beichtvater vorbehalten sind, die lebhafte Beschwerden bei der Kurie auslösten. Dazu kam noch ein anderer Missbrauch: die Oberen dieser Brüder- oder Frauenorden dehnten widerrechtlich ihre Autorität auf Häufigkeit oder Aufschub des Kommunionempfangs aus und verstießen damit gegen die Kompetenz der Beichtväter.
Um diese Missbräuche abzustellen, veröffentlichte die Kongregation der Bischöfe und Ordensleute vor 6 oder 7 Jahren ein Dekret, das Dekret „Quemadmodum“, das die Unterschrift der Hl. Vaters trägt und in den Brüder- und Frauenkongregationen, diese allein geht es an, die Rechenschaft oder die Offenbarung des Gewissenszustandes abschafft. Den Oberen ist es damit formell untersagt, die Rechenschaft oder Offenbarung des Gewissens zu verlangen. Nichtsdestoweniger, fügt das Dekret hinzu, hindert das nicht, dass die Untergebenen sich ihren Oberen frei und spontan eröffnen. Darüber hinaus aber kann nur der Beichtvater den Kommunionempfang erlauben oder verbieten, von Fällen groben Ärgernisses abgesehen.
Dieses Dekret hat viel Staub aufgewirbelt. Ordensgemeinden, wie die Heimsuchung, wo die Ablegung der Rechenschaft eifrig geübt wurde, zeigten sich sehr erschüttert. Die Hausgeistlichen maßten sich an, die Oberinnen im innersten Bereich des Ordenslebens der Schwestern ersetzen zu wollen. Bücher und Broschüren erschienen über dieses Thema. Inzwischen hat es sich etwas beruhigt. Man hat schließlich das Recht der Oberinnen anerkannt, ihre Untergebenen über Verstöße gegen die Ordensregel und die Observanz befragen zu dürfen, desgleichen auch das Recht der Schwestern, von der Erlaubnis des Artikels 3 des Dekretes Gebrauch zu machen, sich frei und ungezwungen ihrer Oberin zu eröffnen, um ihren Rat einzuholen sowie sich ihrer Führung im Streben nach Tugenden und im Fortschritt in der Vollkommenheit zu versichern.
Während der vierzig Jahren, wo ich Hausgeistlicher der Heimsuchung von Troyes war, wurde dort ständig die Rechenschaft geübt, nicht im Sinn einer Offenlegung des Gewissenszustand oder einer Anklage über begangene Sünden. Man gestand lediglich seine Verstöße gegen die hl. Regel und legte seine Seelenverfassung, Rückschritt oder Fortschritt in der Übung der klösterlichen Tugenden dar. Ich erlebte immer, dass die Gute Mutter Maria Salesia es sofort unterband, wenn eine Schwester das Thema Gewissenverfehlungen anschneiden wollte. Sie sagte dann: das ist Sache des Beichtvaters. Andererseits muss auch der Beichtvater auf der Hut sein. Von uns wird jeder eines Tages Priester sein. Darum lasst mich im Vorbeigehen die Bemerkung machen, an die ihr euch bei der Seelenführung erinnern sollt: Es gibt Verstöße, deren breite Ausmalung man den Mädchen verbieten muss. Ich denke an Verstöße gegen die hl. Reinheit. Sobald das Wesentliche gesagt ist, soll man abbrechen, so gut sich das machen lässt. Denn manche finden einen Gefallen mitunter daran, des Langen und Breiten über diese Kategorie von Sünden zu sprechen.
Die Gute Mutter erlaubte niemandem, wer immer es war, die hl. Kommunion, außer in den von der Regel vorgesehenen Fällen, zu empfangen, ohne den Rat des Beichtvaters einzuholen. Wohl kann die Oberin einer Schwester den Kommunionempfang verbieten, die einen groben und öffentlichen Fehler begangen hat. So wie eine Familienmutter ihrer Tochter oder ein Vater seinem Sohn die Kommunion verbieten kann, wenn diese schwer gefehlt haben und ein Ärgernis damit verbunden sein konnte. Das ist Naturrecht. Das erkennt auch das Dekret an. Daraus folgt aber nicht, dass die Oberin davon ein Recht ableitet, nach Belieben über die Kommunionen zu verfügen.
Der Kardinal von Paris sowie sämtliche Bischöfe von Frankreich im Allgemeinen haben die Heimsuchungsklöster wissen lassen, sie sollten nichts an ihrer bisherigen Praxis ändern, weil sie gar nicht unter das Verbot des Dekretes fiel. Solltet ihr ja Beichtväter von Heimsuchungsklöstern werden, so erinnert euch, dass der Beichtvater da ist, um beichtzuhören und nicht, um die geistliche Leitung der Schwestern nach seinem Belieben vorzunehmen, und vor allem nicht, um die Kommunität zu leiten und die Ordensregel abzuändern. Die Mehrzahl der großen Leiden gewisser Ordensgemeinden kommt vom mangelnden Urteil einiger Beichtväter. Hätten sie den hl. Thomas und ihre Theologie gut gekannt, hätten sie auch die Satzungen der Ordensgemeinde studiert, deren Hausgeistlicher sie sind, dann würden sie ihre Pflichten besser verstehen und erfüllen. Das müssen sie wohl beachten. Und wir müssen auch begreifen, dass die Ordensgemeinde der Heimsuchung, der Oblaten wie Oblatinnen ohne die Rechenschaft nicht bestehen kann. Ohne das gibt es kein Band, keinen Zusammenhalt und keine Einmütigkeit mehr. Jeder geht in eine andere Richtung und vernachlässigt das Übrige. Eine Kette, die mit nichts verknüpft ist und selber nichts zusammenhält.
Rom hat in unsere Satzungen den Satz aufgenommen, die monatliche Rechenschaft über die öffentlichen Verstöße gegen die Satzungen, über Fortschritt und Rückschritt in der Übung der Tugenden, die uns empfohlen sind, sei frei und in keiner Weise verpflichtend. Ihr habt die Rechenschaft abgelegt: damit habt ihr also keine Sünde begangen, habt nicht einmal die Regel übertreten, da dieser Punkt ja dem freien Belieben überlassen ist. Aber ihr habt euch damit kostbarer Gnaden beraubt, die mit dieser Übung verbunden sind. Sie ist aber, wie der hl. Franz v. Sales im Direktorium lehrt, sehr wichtig, um den Geist des Institutes in seiner Vollkommenheit zu erhalten. Ist sie aber nicht vorhanden, wird die Kongregation erschlaffen, während sie, treu geübt, den Himmel mit Seelen bevölkern wird.
Bisher habe ich über die Rechenschaft nicht viel gesagt, meine Freunde, ich hätte mehr Vertrauen und Glauben dazu benötigt. Ich habe immer etwas gezögert, euch zu empfehlen, sie mutig und einfach abzulegen. Ich wartete darauf, dass unsere Genossenschaft tiefere Wurzeln geschlagen habe. Dann wollte ich euch bitten, hier in St. Bernhard regelmäßig alle Monate eure Rechenschaft abzulegen. Jetzt aber finde ich, dass unsere Kongregation stark genug geworden ist. Ich habe die Satzungen der Dominikaner, Jesuiten, Kartäuser und auch neuerer Kongregation gründlich studiert, um zu erfahren, auf welchem Fundament sich all diese Gemeinschaften aufbauten und stützten, welches ihre inneren und äußeren Lebensquellen seien. Was nun den Fortbestand der Kommunität betrifft und ihre übernatürliche Basis, so habe ich nirgendwo ein solideres Fundament gefunden als das der Oblaten. Wenn wir in Wahrheit Oblaten sind, finden wir in unserem Leben der Vereinigung mit Gott unerhörte Hilfsmittel. Das Direktorium ist ein unschätzbarer Reichtum für die Seele des Oblaten.
Die Gute Mutter hat mir bezüglich der Zukunft der Kongregation viele Voraussagen gemacht. Ich hörte ihr mit Ehrfurcht zu. Mit mehr Hochachtung als Glauben. Auch heiligmäßige Priester und Ordensleute haben mir solche Voraussagen gemacht, und das mehr als einmal: P. Perrot, Novizenmeister bei Unserer Lieben Frau „des Ermites“, der die Erstfassung unserer Satzungen übernommen hat, schrieb mir: Ihr Werk, von Gott gesegnet, wird sich weit ausbreiten… Trotz all dieser Ermunterungen blieb ich zurückhaltend. Jetzt aber zögere ich nicht im Geringsten mehr. Ich würde es allen ins Gesicht sagen, selbst vor dem Papst. Übrigens hat nicht gerade der Papst mir das schönste Versprechen gegeben: Du wirst den Segen der Erstlingsfrüchte der Kirche haben.
Da wir jetzt über alle Garantien und Sicherheiten verfügen, müssen wir uns auch an die Übung der ganzen hl. Regel machen. Und darum auch an die Praxis der monatlichen Rechenschaft. Bei den Oblatinnen klappt es vorzüglich in diesem Punkt. Ich habe dort die nötigen Erfahrungen gesammelt. Wir wollen selbst nun das Gleiche tun. Wenn ich nicht persönlich die Rechenschaften aller Patres des großen und kleinen Kollegs entgegennehmen kann, weil ich überlastet bin, so wird mich P. Rolland vertreten. Die Novizen mögen sie vor ihrem Meister ablegen wie bisher.
In den meisten Priesterseminarien wird die Rechenschaft praktiziert. Man nennt sie gewöhnlich „Zur Seelenführung gehen“. Ich war lange Jahre im Seminar. Was uns zu unserer Zeit abging, war gerade diese Leitung, die Rechenschaft. Was war die Folge? Dass man leichtsinnig und zerstreut dahin lebte. Man spottete über die alten Domherren. Auch unser Glaube war nicht sehr tief. Wir hatten zwar ausgezeichnete Lehrer und waren im Grunde auch brave Jungmänner. Aber man unterließ es, uns durch eine Seelenführung das Mittel an die Hand zu geben, unsere Fehler abzulegen. Seitdem hat die Seminarleitung gewechselt, und sofort wurde es besser. Man führte die Rechenschaft ein, die vertrauensvolle Seelenführung. Die Rechenschaft wird abgelegt über die Übung der Regel und der Gelübde, über die Nächstenliebe und über das Amt, das uns übertragen ist. Man tut es mutig und kindlich. Und nach der Rechenschaft fühlt man sich wieder voll innerem Schwung und wie erneuert. Ihr versteht jetzt, warum ich darauf bestehe.
Jawohl, meine Freunde, forscht nur gründlich nach und stellt genaue Untersuchungen an über die Grundlagen der religiösen Gesellschaften, die ihr kennenlernt. Und dann sagt mir, ob ihr etwas Vernünftigeres, Umfassenderes und Grundlegenderes gefunden habt als unsere Regel.
Soll das heißen, dass alle Oblaten Perlen sind? Nein, sondern es bedeutet, wenn die Oblaten treu zu ihrem Direktorium und den anderen religiösen Übungen stehen, finden sie in diesen Übungen mehr Heiligungsmöglichkeiten als irgendwo anders. Sie brauchen diese Übungen nur in die Tat umsetzen und werden dann gute, vorbildliche und heiligmäßige Männer sein. Dann wird man in ihnen den Heiland auf Erden wandeln sehen, wie die Gute Mutter sagte. Um aber dahin zu gelangen, muss man die Mittel benutzen, besonders die Rechenschaft. Man tut dies bereits im Noviziat, auch unsere Patres von Macon und St. Quen praktizieren sie. Und sie fühlen sich wohl dabei. Das verleiht ihrem religiösen Leben Ernst und Tiefe. Machen wir uns also ebenfalls daran!
D.s.b.
