Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 03.02.1897: Das Individuum in der Übung der Armut und einige Beispiele menschlicher Dummheit

„Der Oblate des hl. Franz v. Sales darf nichts, was immer es sein, ohne Wissen und Erlaubnis des Oberen zu seinem Gebrauche haben…“

Ihr könnt feststellen, dass das Kapitel von der Armut von unseren Satzungen am ausführlichsten behandelt wird und in die meisten Details eingeht. Das beweist die Wichtigkeit, die Rom gerade dem Armutsgelübde beimisst. Zweifellos ist die Befolgung des Armutsgelübdes eins der wirksamsten Mittel der Selbstheiligung, das die Seele Gott nahebringt und sie zu einem wahrhaft innerlichen Leben führt. Damit können wir der Versuchungen zur Mutlosigkeit und Stolz sowie der Schwächen des Fleisches Herr werden. Nichts verleiht größere Kraft, den Feind zu besiegen, als die Übung der Armut. Damit überwindet man ihn mit Leichtigkeit und schlägt ihn in die Flucht.

Profitieren wir davon in der Versuchung, um welche auch immer es sich handeln mag, und setzen wir da Akte der Armut und des Verzichtes. Nichts verleiht mehr Seelenfrieden als solche Akte der Losschälung. Gibt es einen aufgeschlosseneren und fröhlicheren Heiligen als den hl. Franz v. Assisi? Er war der Heilige der Armut. Seine Söhne, die Kapuziner, sind die frohesten und fidelsten von allen Ordensleuten.

Die ärmsten Orden sind zugleich jene, die am meisten geistliche und sogar zeitliche Tröstungen erleben. Es kommt da eine Art Austausch der Dinge zustande: Ein Gleichgewicht zwischen dem Opfer, das man freiwillig bringt, und einer Überfülle von göttlichen Gunsterweisen, die wie ein Gegengewicht und eine Belohnung wirkt.

Die Oblaten üben die Armut, ohne dass diese rigorose Formen annähme. Aber sie führen ein wirkliches Leben der Armut, da ihre Kleidung, ihre Nahrung und ihr Mobiliar nicht von ihrer Wahl abhängt und sie bereit sein müssen, auf alles zu verzichten, um es einem anderen zu geben.

Diese Akte innerer und äußerer Losschälung sind kostbare Mittel. Verstehen wir es, sie zu gebrauchen. Da tragen wir Geldmünzen in der Hand, die wir unterwegs nicht verlieren sollen. Ein Kaufmann setzt auch sein Vermögen aus den kleinen Gewinnen eines jeden Tages zusammen, und dieses Vermögen ist im Allgemeinen wertbeständig. Ziehen auch wir unseren Nutzen aus allem, was uns auf unserem Weg begegnet.

Ich verlange von euch ja keine peinlichen und strengen Akte der Armut. Sollten sich aber einige von euch durch den lieben Gott dazu gedrängt fühlen, warum diese Gabe Gottes verachten, vorausgesetzt, sie halten sich in den Grenzen des Gehorsams? Lieben wir wenigstens die kleinen Abtötungen, die uns ohne unsere Wahl begegnen. Unsere Armut ist mindestens ebenso erträglich wie die der Landpfarrer. Vergangene Woche fragte ich einen von ihnen: „Was essen Sie jeden Tag? Am Samstag kaufen wir Fleisch“, antwortete er – er lebt mit Vater und Mutter zusammen – „und das reicht uns bis zum nächsten Freitag…“ Ihr seht schon, meine Freunde, dass unsere Armut nicht strenger ist als die der Landpfarrer, aber sie ist verdienstlicher. Denn theologisch gesprochen besteht kein Zweifel, dass die Gelübde unseren Handlungen ein spezielles Verdienst hinzufügen. Vernachlässigen wir darum nicht diese kleinen Hilfsmittel. Das macht uns zu Menschen, zu Individuen. Auf diesem Punkt möchte ich eure besondere Aufmerksamkeit lenken, ihr habt euch ja zum Halten eurer Gelübde verpflichtet.

„Der Oblate des hl. Franz v. Sales soll die Dinge nicht gebrauchen, als gehörten sie ihm, sondern als Gottes Eigentum…“

Wir müssen zu einer starken Abhängigkeit bereit sein. Als der hl. Franz v. Sales uns diese Hilfsmittel an die Hand gab, wusste er genau, was er tat. Eine Statue wird nicht bloß mit einem Hammel und einem Meißel bearbeitet, sondern bedarf auch eines Polierstabes. Und den übernatürlichen Menschen formt man auch nicht nur mit Hilfe von allgemeinen und gewöhnlichen Hilfsmitteln. Vielmehr heißt es da in feinste Einzelheiten eingehen. Man braucht zarte Werkzeuge, sonst wird auch er niemals vollkommen glatt poliert, es würde ihm immer noch etwas abgehen. Halten wir uns deshalb eng an unser Direktorium und unsere Satzungen. Lesen wir sie durch, betrachten wir sie durch, damit sie uns in Fleisch und Blut übergehen. Sie sind unser Spiegel. Werfen wir jeden Augenblick einen Blick hinein, um festzustellen, wie weit diese göttliche Ähnlichkeit gediehen ist.

„Er darf sich nichts aneignen, was anderen zum Gebrauch dient, oder ein anderer zurückgelassen hat…“

Das Eigentum der Kommunität ist zu respektieren. Geben wir acht, dass nichts verloren gehe oder verderbe. Das sind gewiss kleine Sorgen, die aber bestimmt nicht unter unserer Würde sind. Man kann auf zweierlei Arten vorgehen: Die einen tun alles nur so ungefähr, so wie die Kinder im Winter ihren Schneemann bauen. Sie gleichen kaum den Statuen der großen Meister… Welchen Wert haben sie denn? Nun, die Dinge sind das wert, was sie gekostet haben. Tun wir unsere Pflichten also nicht nur so aufs Geratewohl, sondern suchen wir sie dem Modell nachzugestalten, das uns auf dem Berg der Seligkeiten aufgezeigt wurde.

Machen wir uns diese Denkart gut zu Eigen. Seien wir voller Sorgsamkeit für die kleinsten Dinge. Der große Vorteil dieser Unterwerfung ist, dass sie uns vor Versuchungen bewahrt und Gott in unser Herz zieht. Unsere hl. Schutzengel machen sie noch aufmerksamer, über uns zu wachen.

Wenden wir unsere ganze Sorgfalt den Pflichten unseres Amtes zu. Ihr wisst, welch großes Unglück uns in St. Quen passiert ist. Ein Kind, das kaum wusste, was gefrorenes Wasser ist, verlässt heimlich die Rekreation, will auf dem „Bassin“ schlendern, und ertrinkt. Wie man doch auf die kleinsten Fahrlässigkeiten achten muss! Geben wir uns große Mühe, diesen Weg zu gehen, dann wird der Schutz der hl. Engel, die dazu bestimmt sind, über uns und unsere Kinder zu wachen, viele Unglücksfälle des Leibes wie der Seele uns und unseren Kindern ersparen.

Seid wachsam in den Aufsichten, die ihr zu führen habt. Vor 5 oder 6 Jahren erlebten wir fast eine böse Geschichte im Kleinen Kolleg. Ein Pater, ganz und gar nicht schlecht, hatte eines Tages während des Unterrichtes einen Jungen zu sich ans Lehrerpult gerufen, um seine Hausarbeit zu korrigieren… Der Vater des Jungen, ein Freimaurer, wie wir später erfuhren, wollte das zu einer Erpressung missbrauchen. Er schrieb mir fürchterliche Briefe und ließ mir auch durch einen Pariser Arzt (Rechtsanwalt?!) Drohbriefe schreiben. Das Resultat war, dass wir eine große Summe Geldes zahlen sollten, oder aber es würde in den Zeitungen ein Mordsskandal ausgelöst. Der Pariser Arzt (Rechtsanwalt?!) war ebenfalls Logenbruder. Ich verlangte eine Versammlung mit Gegenüberstellung der Zeugen, um Licht in die Sache zu bringen. Ich ließ den Jungen erzählen, was sich zugetragen hatte. Er setzte uns so flüssig eine auswendig gelernte Lektion mit so gut einstudierten Gesten vor, dass einer der Zeugen, ein Familienvater, den ich bestellt hatte, der brave Herr D., sich nicht enthalten konnte, wütend auszurufen: „Du abscheulicher Lausbub hast deine Lektion prächtig heruntergesagt!“ Das brachte die Herren außer Fassung, sie protestierten der Form halber, und man hörte nie mehr etwas von ihnen.

Äußerste Klugheit ist also am Platze. Wir können heutzutage kaum mit der Gerechtigkeit unserer Gerichte rechnen. Man kann in die Hände von gewissenlosen Menschen fallen, die sich vielleicht nicht scheuen würden, alle Arten von Affären zu inszenieren, um befördert zu werden. Das kommt alle Tage vor. Man treffe also seine Vorsichtsmaßnahmen!

Da fällt mir noch eine Geschichte ähnlicher Art ein, die sich in St. Quen abspielte. Ich kann es erzählen, weil ihre Urheber nicht mehr bei uns sind. Ein Lehrer lässt es sich einfallen, sich zusammen mit einem seiner Schüler fotografieren zu lassen. Der Vater des Jungen nimmt die Sache krumm, regt sich darüber auf uns und will uns daraus einen Strick drehen. Ich habe ihm den Kopf ein bisschen gewaschen, bis er schließlich Vernunft annahm und die Sache ein gutes Ende nahm. Wer aber gab diesem Lehrer die Erlaubnis, sich mit dem Jungen fotografiere zu lassen? Jedenfalls nicht dessen Familie. Und mit welchem Recht tat er es? Wie delikat derlei Dinge doch sind! Ich besitze diese Fotografie. Auf den ersten Blick ist nichts Unschickliches daran. Der Junge sitzt auf einem Geländer und der Lehrer steht neben ihm, gut rasiert, eine nagelneue Soutane am Leib, schöne Schuhe und Handschuhe. Er schaut den Jungen voller Zuneigung und Liebe an. O du menschliche Dummheit!

Wir sollten gegeneinander große Liebe üben! Wenn man bemerkt, dass ein Mitbruder eine kleine Schwäche dieser Art hat und sich dabei ein bisschen gehen lässt, soll man es nicht ausplaudern, oder an die große Glocke hängen.- Ich wünsche nicht einmal, dass man es dem Oberen oder dem Novizenmeister sage, so es sich nicht um etwas Besonderes handelt. Nein, sondern sagt es ganz einfach und liebevoll dem Mitbruder selbst: „Ich meine dies und das beobachtet zu haben. Ich glaube, Sie würden besser anders handeln…“

Das Foto war übrigens ausgezeichnet… Der Lehrer betrachtete den Jungen mit unvergleichlicher Seligkeit… Wohin führt das, meine Freunde? Nun, zur Polizei oder gar zum Schwurgericht!

„Sein Streben sei nicht auf überflüssige oder seltsame Dinge gerichtet. Er soll sich bemühen, eine einfache und karge Kost zu lieben…“

Das ist hohe Tugend, es dahin zu bringen. Mit etwas Mut und Beharrlichkeit wird es aber gelingen. Ich kannte einen braven Mann, der in seinem Lebenswandel mehr den Anschein eines Lebemannes als eines überzeugten Christen erweckte. Er besaß aber doch einen starken Glauben. Zu ihm sagte ich eines Tages: „Schließlich sollte man aber doch für den lieben Gott etwas tun!“ – „Sie haben recht“, gab er zur Antwort. „Ich tue nichts Besonderes. Wenn aber beim Mittagessen etwas nicht genug gesalzen ist, habe ich es mir zum Grundsatz gemacht, nie selber Salz dazuzutun…“ Dieser Mann hatte also mehr Tugend als ich angenommen hatte. Er starb eines sehr erbaulichen Todes. Bringen doch auch wir, meine Freunde, dem lieben Gott das Opfer unseres Körnchens Salz dar. Irgendetwas geht uns ab: das ist der Anteil Gottes. Wir müssen es aber mit Liebe tun. Ihr werdet mir sagen: Es ist nicht leicht, etwas, was man nicht gern tut, mit Liebe tun. Und doch fließt hier für das Ordensleben eine reichsprudelnde Quelle. Man kann die philosophische Beobachtung machen, dass gerade das Kleinste und Unscheinbarste immer große Wirkungen hervorbringt. Was leistete schon die selige Jungfrau in Nazareth? Bei den Sakramenten, was sind schon einige Tropfen Wasser, kaum ein Tropfen Öl, ein kleiner Bissen Brot? Und doch keine Gnade ohne das…!

„Damit bei uns nichts den Geist der Armut auch nur im Geringsten verletze, dürfen die Zellen im Wohntrakt der Ordensleute nicht abgeschlossen werden…“

In unseren Kollegien ist es natürlich nicht immer möglich, unsere Möbel und selbst die Zimmer für jedermann geöffnet zu lassen. Darum holt man sich dafür die Erlaubnis ein, was ein Gebot der Klugheit und Vorsicht zu sein scheint.

Am Kap der Guten Hoffnung wird die Lage immer schwieriger.

Man hat mir schreckliche Dinge berichtet. Eine Mutter hatte sich auf den Weg gemacht, um Wasser zu suchen, koste es was es wolle. Als sie nicht zurückkam, machten sich ihre Kinder auf die Suche und fanden sie schließlich von Schakalen aufgefressen. Bitten wir die Gute Mutter um Hilfe. Sie besaß so große Macht, um Regen zu erlangen.

D.s.b.