Kapitel vom 20.01.1897: Wie wir das Gelübde der Armut leben sollen
Es gibt eine vorzügliche Art, die Armut zu üben: die Krankheiten, Entbehrungen und Leiden, die uns von Seiten der Kommunität zukommen, annehmen. Das Gemeinschaftsleben ist in sich mühselig und es ist die realste Betätigung der klösterlichen Armut. Davon müssen wir profitieren.
Lebte man für sich in einem Pfarrhaus, so genösse man sicher mehr Freiheit. Doch muss man zugeben, dass man trotzdem vieles entbehren müsste. In der gegenwärtigen Stunde und in den Ländern, die nicht mehr christlich zu nennen sind, hat ein Pfarrer, der über kein Vatergut verfügt, kaum Einnahmequellen. Er isst nicht immer, was er will, sondern was er bekommen kann.
Mit seiner sehr bescheidenen Vergütung muss er seine Haushälterin bezahlen, für die Kosten seiner Nahrung, Kleidung, und des ganzen Haushaltes aufkommen. Kürzlich sagte mir ein Pfarrer: „Ich kann mir nicht zu jeder Mahlzeit Fleisch leisten. Und Wein,… ihn kann ich nur in sehr bescheidenem Maße trinken, weil er teuer ist und mir das Geld fehlt…“ Zweifellos ist das Leben eines Landpfarrers eines der ärmsten, das es gibt. Es ist eine Art einer ganz besonderen und gewiss sehr verdienstlichen Armut, die sie dem Herrgott aufopfern können und wofür sie reich belohnt werden. Und doch haben die Pfarrer nicht das Verdienst des klösterlichen Armutsgelübdes, das jeden Akt dieser Tugend sozusagen zur Wirksamkeit eines Sakramentales erhebt. Es ist wie ein Gebet, wie eine mit Ablässen versehene Übung, die ihre Gnade in sich trägt.
Natürlich wird eine Seele, die die Armut verstanden hat, von Gott geliebt, bevorzugt, und mit einer großen Gottesgabe beschenkt. Seht nur die guten und heiligmäßigen Priester an, die auf diese Weise die Armut leben: welche Großtaten vollbringen sie in ihrer Pfarre! Dasselbe geschieht durch Ordensleute, die die Armut lieben. Auch sie wirken Wunder in ihrer Umgebung.
Das große Vorbild der Liebe Gottes ist der hl. Franz v. Assisi. Wem verdankt er seine überragende Liebe? Seiner Liebe zur Armut. Lieben darum auch wir diese Tugend in allem, was uns umgibt, in unserer Einrichtung, unserer Nahrung und Kleidung.
In unseren Kollegien ist es nötig, äußerlich etwas weniger Armut zur Schau zu tragen, und das wegen der Schüler und ihrer Eltern, mit denen wir zu tun haben, und die kein Verständnis für eine allzu große Armut hätten. Doch in unserem persönlichen Leben lasst uns großmütig alles umfangen, was nach Armut aussieht und aus ihr erfließt: die Unbequemlichkeiten und Mühsale des Gemeinschaftslebens. Das kostet zwar Opfer, bringt uns aber Verdienste ein.
„Der Oblate des hl. Franz v. Sales darf nichts, was immer es sei, ohne Wissen und Erlaubnis zu seinem Gebrauche haben, und muss bereit sein…“
Dieses Kapitel über die Armut ist sehr ausführlich, es geht in viele Einzelheiten ein, weil Rom sehr an einer exakten Übung des Armutsgelübdes liegt. Die Armut ist nämlich die Hüterin des Ordenslebens.
„Der Oblate soll die Dinge nicht verwenden, als gehörten sie ihm, sondern soll sie als Gottes Eigentum gebrauchen.“
Das heißt es wohl beachten. Hierin liegt die eigentliche Praxis des Gelübdes der Armut. Die hier aufgezählten Handlungen: schenken, empfangen, ausleihen, etc. sind eigentliche Akte des Eigentümers, die uns verwehrt sind, weil wir Arme sind und nichts unser eigen nennen. Das bedeutet natürlich eine große Unterwerfung: bei jeder Gelegenheit um Erlaubnis fragen. Vergessen wir aber nicht, dass alles, was wir entgegen unserer Natur und unserem Geschmacke tun, uns Gott näher bringt. Der Verzicht und das Opfer bilden die Grundlage jeglicher Heiligung und Vervollkommnung wie auch jeden Erfolgs.
„Er soll dafür sorgen, dass von dem ihm Anvertrauten nichts verloren gehe oder verderbe.“
Große Sorgen soll man tragen für seine Kleidung und sein bescheidenes Mobiliar. In der Zelle möge man alles in Ordnung und großer Sauberkeit halten. Jedes Ding in unserem Gebrauch sollte als Eigentum Gottes behandelt werden. Darum wollen wir in unseren Kommunionen und hl. Messen vom lieben Gott den Geist der Armut erbitten. Das darf nicht bloß Gegenstand eines einfachen Vorsatzes sein: heute denkt man daran, morgen kaum noch und am dritten Tage überhaupt nicht mehr. Durch das Gebet, und zwar das beharrliche Gebet, lernen wir den Sinn der hl. Armut erst verstehen und sie üben.
Was mich bei meiner ersten Ankunft in Troyes am meisten gepackt hat, war die Armut des Klosters, der Zellen, der Nahrung, und auch der Kleidung der Schwestern. Diese Armut verlangte, dass man nicht heizte. In den Zellen gab es kein Feuer. Nur im Gemeinschaftssaal brannte ein kleines Feuerchen für alle.
Die Folge dieses Geistes der Armut ist ein intensives inneres Leben, das in beständige Verbindung mit Gott versetzt und bewirkt, dass man von ihm viel erhält. Mag man auch in einem Kolleg inmitten von Schülern und Eltern kein Leben der Armut wie in der Heimsuchung führen können, so sollten wir doch in den von den Satzungen aufgeführten Punkten nach Möglichkeit vom Segen der Armut profitieren.
Unser Herr hat gesagt: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Mit dem Himmelreich meint der Herr nicht nur den Himmel, sondern sein Reich bereits hier auf dieser Erde.
Der hl. Franz v. Sales, obwohl Bischof, führte ein sehr strenges Leben der Armut. Die hl. Franziska v. Chantal hatte ihm einmal eine Soutane genäht. Das folgende Jahr schickte sie ihm eine zweite zu.
Doch Franz wollte sie nicht annehmen. „Meine Tochter, ich habe nicht die Gewohnheit, in einem Jahr eine Soutane aufzuarbeiten. Was wäre denn mit der Armut, die ich predigen soll? …“
Es ist etwas Schönes, meine Freunde, arme, einfache und bescheidene Dinge zu lieben. Das offenbart sofort den innersten Charakter einer Seele. Es beweist, dass man nicht von der Welt ist und das Herz nicht an irdischen Dingen klebt.
„Er soll dafür sorgen, dass nichts von dem ihm Anvertrauten verloren gehe oder verderbe.“
Haben wir große Ehrfurcht vor den Gütern der Genossenschaft, besonders vor dem, was uns persönlich anvertraut ist. Behandeln wir es im Geiste der Armut und aus Liebe zu Gott und zu den göttlichen Dingen. Das Charakteristikum der Oblaten sollte es sein, mit größter Hingabe diese kleinen verborgenen Tugenden zu üben, die Gott und unserer Umgebung so angenehm sind.
„Er soll gern die Folgen der Armut verspüren wollen in allem, was man ihm zum Gebrauch anweist, in der Einrichtung, der Kleidung…“
Mir will scheinen, diese letztgenannte Betätigung der klösterlichen Armut ist noch nicht in unsere Gewohnheiten übergegangen. Sie widerstrebt ein wenig, wie es scheint, unserem Temperament. Einer unserer Patres sagte mir: „Ja, das ist ausgezeichnet für die Heimsuchung, aber für uns? …“ Nun, wenn wir diese kleinen wahrlich keine schlechte Sache. Einen Verzicht für den lieben Gott bringen, zieht uns diesen Gott in die Seele hinein. Das belebt und kräftigt. Man bekommt alles, was man braucht, um tapfer dem Willen Gottes zu entsprechen.
Jeder möge einen kleinen Vorsatz in diesem Punkt fassen. Die tausenden von kleinen Gelegenheiten dürfen wir nicht vernachlässigen, um unser ganzes Tagewerk mit diesem Geist zu erfüllen. Das ist gutes Geld, das seinen Wert hat und das man nicht auf den Boden fallen lassen soll. Sorgsam muss man es sammeln. Das erfordert einen gewissen Mut, dann wird man schnell zu etwas fähig sein.
„Damit bei uns nichts den Geist der Armut auch nur im Geringsten verletze, dürfen die Zellen im Wohntrakt der Ordensleute nicht abgeschlossen werden, und man darf ohne Erlaubnis die Möbel nicht versperren.“
Kein Ordensmann darf in kanonisch errichteten Häusern ein Möbelstück in seiner Zelle mit dem Schlüssel versperren. In den nicht kanonischen hingegen kann wenigstens in den Teilen, in die auch Angestellte, Schüler, und alle die im Haus aus- und eingehen, eindringen können, leicht die Erlaubnis gegeben und oder kann geduldet werden, dass die Möbel abgeschlossen werden. Früher herrschte Gewissenszartheit und Ehrlichkeit. Heute ist das weniger Allgemeingut geworden. Ich denke da an ein altes Sprichwort des Kirchenrechtes: Niemand wird als böse verdächtigt, wenn es nicht bewiesen ist. Dies findet heutzutage immer weniger Anwendung. Gewiss soll man nicht vermessentlich über die Menschen urteilen. Im Allgemeinen aber ist äußerste Vorsicht geboten gegenüber Menschen, die man nicht kennt.
Bei dieser Gelegenheit muss ich euch eine ausdrückliche Empfehlung aussprechen, eine Empfehlung einfacher Schicklichkeit und Höflichkeit gegenüber unserer Umgebung oder jenen, mit denen wir zu tun haben. Wir haben zurzeit in dieser Hinsicht peinliche Schwierigkeiten. Ich will weder Namen noch Personen nennen. Aber wir haben doch gute Ordensleute unter uns, die es wirklich etwas an Rücksicht und Schicklichkeit, ja sogar an Höflichkeit fehlen lassen gegenüber Fremden, Frauen und Nonnen… Besonders sollte man sich nie ein Vergnügen daraus machen, mit Frauen oder Schwestern Witze zu machen. Haben wir vielmehr große Ehrfurcht vor jedermann.
Heutzutage schwindet der Glaube in der Welt. Dem Priester wird nicht mehr die Ehrfurcht von ehedem entgegengebracht. Darum muss es des Ordensmannes Bestreben sein, dass er so viel wie möglich diese so notwendige Hochachtung einflößt. Durch seine Haltung, seine Worte und seine Manieren muss er Anziehungskraft ausüben und sich die Achtung aller zuziehen. In unserem Umgang mit Weltleuten, Arbeitern und Hausangestellten müssen wir alles Verletzende vermeiden. Nimmt man nämlich keine Rücksicht und lässt die Vorsicht außer Acht, werden sie bald bösartig und gehässig. Denkt an die Geschichte des armen P. Perrot, und dabei war er doch allezeit so gut und väterlich gegen alle Hausangestellten, mit denen er zu tun hatte…
Seien wir darum sehr klug, nehmen wir Rücksicht und bringen wir den Menschen unserer Umgebung Ehrfurcht entgegen, dann werden auch sie uns achten. Seien wir höflich und gütig, ohne deshalb in Schmeichelei und Unterwürfigkeit zu verfallen…
P. Rollin hat der Kongregation in Rom viel Achtung und auch materielle Hilfsquellen gewonnen. Wie macht er das? Zunächst ist er ein guter Ordensmann. Sodann ist er äußerst höflich und legt gutes Benehmen an den Tag. Alle, die mit ihm zusammentreffen, sind von Anfang an für ihn eingenommen. In all seinen Beziehungen zu Weltleuten, zu Geistlichen und zu sämtlichen Prälaten der römischen Kurie bezeigt er keinerlei „bucklige Demut“, und macht keine übertriebenen Komplimente. Er vergibt sich nichts, sondern wahrt allezeit die Würde. Jedermann achtet er uns schätzt das Gute, das er in ihm entdeckt… Man möge sich also hüten zu sagen, die Oblaten seien schlecht erzogen und haben keinen Anstand. Davor wollen wir uns hüten.
Noch ein kurzes Wort zum Fest des hl. Franz v. Sales, das wir bald begehen. Wundern wir uns nicht, wenn wir um die Zeit seines Festes gegeneinander etwas den Kopf verlieren. Es ist eine alte Erfahrung: Um die Zeit seines Festes herum nehmen die Versuchungen, Kämpfe und Prüfungen jeder Art zu. Ich habe mich oft ihm gegenüber darüber beklagt. Doch das ändert nichts an der Tatsache. Schließlich habe ich mich etwas mit ihm versöhnt, als mir der Pfarrer „Unserer Lieben Frau“ von Brébières eines Tages sagte: „Wollen Sie Mühen und Prüfungen jeder Art erleben, um in den Himmel zu kommen? Dann brauchen Sie nur etwas zu Ehren Unserer Lieben Frau zu unternehmen. Denn dann sind Sie sicher, dass Sie Widersprüche und Verdrießlichkeiten aller Art erleben werden.“ Ich glaube, der hl. Franz v. Sales gleicht hierin ein wenig der seligen Jungfrau. Ich würde mich also nicht wundern, wenn drei oder vier von euch in diesen Tagen Geist und Herz durcheinander hätten.
Ich warne die Studienleiter und Disziplinarpräfekten, denen der Ärger bis zum Hals gehen wird! Das ist die Wahrheit und es passiert auf der ganzen Linie, bei den Schülern ebenso wie bei den Ordensleuten. Regen wir uns also nicht allzu sehr auf über das, was der hl. Franz v. Sales uns da schickt. Er hält es eben für uns nützlich und zahlt es uns zurück.
D.s.b.
