Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 13.01.1897: Unser Gelübde der Armut

„Wenn ein Novize die fürs Noviziat festgesetzte Zeit vollendet und die erforderlichen Eigenschaften erworben hat, wird er für die Zulassung zur Profess vorgeschlagen und bei Stimmenmehrheit zugelassen.“

Wir legen einfache Gelübde ab. Ihr wisst, dass das einfache Gelübde sich vom feierlichen insofern unterscheidet, als es nicht dieselben gesetzlichen Sanktionen aufweist. Doch die Verpflichtung, es zu halten, ist die gleiche, was den Gewissenbereich angeht. Nur vor der kirchlichen Gerichtsbarkeit besteht ein Unterschied zwischen dem einfachen und dem feierlichen Gelübde. In den großen Orden ist der Ordensmann der Welt gestorben. Er kann kein Eigentum besitzen. Früher garantierten die übrigen Gesetze und Rechte die Erfüllung der feierlichen Gelübde. Heute werden sie lediglich durch das Kirchenrecht geschützt.

Die Gelübde werden zunächst für ein Jahr abgelegt. Wir haben soeben an Rom die Bitte gereicht, die jährlichen Gelübde von bisher fünf auf drei Jahre zu beschränken. Eine Wartezeit von fünf Jahren verschiebt nämlich die Weihen allzu lange.

In einigen Fällen haben wir, weil es notwendig war, erreicht, und werden es wahrscheinlich notfalls auch fürderhin erreichen, dass wir die ewigen Gelübde schon nach zwei Jahren zeitlicher Gelübde ablegen dürfen. Das kann aber nur eine Ausnahme sein, über die der Papst befinden hat.

Was die Erfüllung der Gelübde betrifft, möchte ich gern, dass wir uns ein bisschen mehr als Männer erweisen. Unsere Gelübde sind unser Eigentum, unser Recht, in gewissem Sinne sogar unser Wesen. Ich wünschte, die Gelübde wären uns eine Herzenssache. So wie ein guter Priester sein Brevier, seinen Altar und seine Kirche liebt, so sollten dem Ordensmann auch seine Gelübde lieb und teuer sein. Diese Liebe erringt man nur mit Hilfe des Gebetes und der zu ihrer Beobachtung notwendigen Anstrengungen.

Nichts verbindet uns inniger mit etwas als die Schwierigkeiten, die uns seine Beobachtung bereiten. So haben die Menschen, die sich vollkommen wohlfühlen, oft keinen anderen Ehrgeiz, als sich noch wohler zu fühlen. Nehmt einen Menschen, der in Armut und mühseliger Arbeit groß geworden ist, er hängt an seinem Dorf, an seinem Kirchturm, seiner armen Hütte und dem kleinen Feld, das seinen Schweiß getrunken hat.

Ich weiß sehr wohl, dass man heutzutage kaum noch Derartiges erlebt. Niemand ist mehr zufrieden mit seiner Lage, selbst oft der Klerus nicht. Da wollen wir aber nicht mittun. Unsere Gelübde sollen uns am Herzen liegen. Wir klammern uns umso mehr an sie, je mehr Anstrengung und Mühe uns ihre Erfüllung abfordert.

Meine Freunde, hört mir gut zu: Wenn man Gelübde abgelegt, muss man sie aus der Tiefe des Herzens und für immer ablegen. Nur dann nimmt Gott uns wahrhaft als seine Kinder an. Unser Herr berief Johannes und Jakobus und alle Apostel: hätten diese ihm gesagt: Jawohl, Herr, wir wollen dir nachfolgen, jedoch nur auf ein Jahr oder für zwei, glaubt ihr, unser Herr hätte sie angenommen? Wenn man Ordensmann wird, muss man sich Gott vorbehaltlos übergeben, ohne Abstriche. So müssen wir die Gelübde verstehen. Von der ersten Gelübdeablegung an wollen wir uns also Gott vollständig schenken.

Ich gebe mich Gott für ein Jahr hin… Troll dich von dannen! Nur Hausangestellte verdingen sich auf ein Jahr. „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, euch habe ich Freunde genannt.“ Man kann nicht unseres Herrn Freund auf ein Jahr sein, sondern für immer.

Der Mensch ist ein Mensch und keine Maschine… Er lebt mit einem Verstand begabt, versteht und überlegt. Er hat ein Herz, das liebt, das sich für etwas erwärmt und sich hingibt. Seien wir doch keine Menschen ohne Verstand, ohne Tatkraft, ohne Herz, ohne Entschlusskraft. Legen wir die Gelübde also mit unserem Herzen und mit unserer ganzen Willenskraft ab, und zwar für immer. Es besteht kein Zweifel, dass dies weder den Gesetzen der Kirche widerspricht, noch unserer persönlichen Freiheit entgegensteht. Was meine persönliche Freiheit betrifft, so gibt es Freiheit und Freiheit… Bereut man etwas jemals, was man Gott gutwillig gegeben hat? Bleibe ich im letzten nicht jederzeit frei, alle Sünden und Dummheiten zu begehen, die ich begehen will? Habe ich nicht das Recht, im Dezember ebenso in der Seine zu baden wie im August, wenn mir das gefällt? Tu ich das aber, dann bin ich eben verrückt. Jedenfalls habe ich die Freiheit, den Verrückten zu spielen. So bin ich auch frei, mein klösterliches Leben zu vernachlässigen, ob ich nun eine zeitliche oder eine ewige Profess ablege. Man ist allezeit frei, eine Torheit, einen dummen Streich oder eine Sünde zu begehen.

Ich hätte gern, wenn unsere jungen Leute das verstehen wollten. Die Gute Mutter sagte, die Oblaten müssen das Evangelium neu darstellen, es in seinem wahren Sinn interpretieren. Ich bestehe darum so sehr darauf, weil es sich hier um einen wesentlichen Punkt handelt. Ein Oblate muss sich Gott ohne Abstriche übergeben. Wenn du keinen Ordensberuf hast, dann geh nicht ins Kloster. Wähle einen anderen Weg. Gehst du aber ins Kloster, dann liebe deine Gelübde und halte sie uneingeschränkt.

Ihr versteht sehr gut, wenn ich so spreche, nehme ich durchaus Rücksicht auf Versuchungen, auf den Charakter und die Natur eines jeden. Vor allem behaupte ich nicht, dies lasse sich mit voller Zustimmung unserer Natur verwirklichen. Will man aber ein Ordensmann sein, muss man sich über all das hinwegsetzen und sich sagen: ich will Ordensmann sein, darum will ich es auch richtig und für immer sein.

„Das Gelübde der Armut. Was die Professen durch ihre persönliche Bemühungen erwerben oder was sie in Hinsicht auf die Kongregation erhalten, dürfen sie sich nicht aneignen…“

Da ist ein Professor, der viel Geld erwerben kann durch Privatstunden. Oder hier ist ein Prediger, der Erfolg hat und hohe Honorare erhält. Oder ein Gewerbetreibender oder ein Börsenspekulant, denn in einer Kommunität kann man alles brauchen, der Gewinn erzielt: all dieses Geld ist bedingungslos als Eigentum der Ordensgemeinde zu betrachten.

Die Professen behalten grundsätzlich den Besitz ihrer Güter (das bloße Eigentumsrecht). Aber es ist ihnen untersagt…

So besitze ich z.B. als Erbgut ein Haus. Ich behalte das bloße Eigentumsrecht darüber, d.h. vor dem Gesetz bin ich der wahre und einzige Besitzer, habe aber in keiner Weise eine Verfügungsgewalt darüber. Selber darf ich nicht den Pachtzins verwerten oder darin wohnen, ohne die Erlaubnis meiner Vorgesetzten zu haben. Weder darf ich den Pachtzins entgegennehmen noch ihn aufbewahren, darf weder etwas vermieten noch reparieren lassen etc. Es steht mir ja nicht der Gebrauch noch die Nutznießung noch die Verwaltung zu.

Wozu dann das bloße Eigentumsrecht behalten? Wegen der Unannehmlichkeiten, die wir uns zuzögen, wenn es andere wäre. Das bürgerliche Gesetz erkennt die klösterliche Armut nicht an. Fast alle Güter der Kongregation gehören jetzt der „Gesellschaft von Saint-Quen“ an. Aus besonderen Gründen kann jedoch ein Ordensmann Eigentum auf seinem Namen stehen haben. Das kann für ihn eine Garantie für die Zukunft sein. Vor seinem klösterlichen Gewissen verleiht ihm dieses bloße Eigentumsrecht aber keinerlei Ansprüche auf irgendeine Nutznießung.

„Daher sollen sie vor ihrer Profess durch einen Akt, sei es auch nur einen Privatakt, die genannte Verwaltung, Nutznießung oder den Gebrauch an eine beliebige Person abtreten oder an das Institut…“

Wir müssen den lieben Gott um Berufe bitten, die uns Mittel und Hilfsquellen beibringen. Es wäre recht wünschenswert, wenn alle jene, die wir aufnehmen, etwas mit ins Kloster brächten. Wenn ein junger Mann ins Priesterseminar eintritt, wird von ihm ein Kostgeld verlangt, es sei denn, er habe einen Freiplatz. In diesem Fall zahlt eine mildtätige Person für ihn. Solche Freiplätze sollten auch wir bekommen. In den Satzungen der Heimsuchung bestimmt der hl. Franz v. Sales, man könne einige umsonst in die Ordensgemeinde aufnehmen, falls diese reich genug sei. Nun, bisher sind wir noch nicht sehr reich... und ich zweifle, ob wir es je sein werden.

Bei euren Bemühungen und Unternehmungen um jungen Nachwuchs gebt bei Gelegenheit und mit aller Diskretion zu verstehen, dass die Ordensgemeinde Einkünfte nötig hat und es darum wünschenswert wäre, wenn die Kandidaten etwas mitbrächten. Ich weiß sehr wohl, dass die Ankömmlinge sagen können: Ich gebe mich doch selbst ohne jeden Vorbehalt und will trachten, meinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Gewiss stellt die Genossenschaft dieselben Überlegungen an. Sie räumt auch ein, dass jene, die ihren Lebensunterhalt verdienen, damit auch ihre Mitgift liefern. Wir sollten ja gern bei dem Gedanken bleiben, dass wir Arbeiter sind, die durch ihre Arbeit ihr Brot verdienen.

In einer der letzten Ansprachen an die Oblatinnen sagte ich ihnen: Wenn ihr Oblatinnen werdet, so bedenkt wohl, was ihr tut: Ihr kommt hierher, um das Leben von Nazareth zu führen. In Nazareth aber gaben sich Jesus, Maria und Josef mit Handarbeit ab. Und warum das? Nun, damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So sollt auch ihr gesinnt sein. Wärt ihr in der Welt geblieben, so nähmet ihr einen Posten ein, hättet eine Beschäftigung oder ein Amt inne, um euer tägliches Brot zu verdienen. In dieser Gesinnung sollt ihr arbeiten. Ahmt unseren Herrn nach in seiner ganzen Lebensweise: er arbeitete für sein Auskommen. Das ist das beste Mittel der Selbstheiligung, weil es die umfassendsten Nachahmung unseres Herrn ist.

Meine Freunde, setzt euch diesen Gedanken in den Kopf und ins Herz. Führen wir kein zerfahrenes und unabhängiges Leben. Handeln wir wie unser Herr. Nur auf diese Weise leisten wir etwas.

D.s.b