Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 06.01.1897: Wir müssen uns gegenseitig unterstützen und eins sein

Heute feiern wir Heilig-Drei-König-Fest der Erscheinung des Herrn in der Welt. Anlässlich dieses Festes möchte ich der Ordensgemeinde eine Empfehlung vortragen, und darauf eure Aufmerksamkeit und euer Interesse in ganz besonderer Weise lenken: jeder von uns sollte all seine Kraft für die Ausbreitung, die Ehre und den guten Ruf der Kongregation einsetzen.

Wir sollten um Berufe beten und uns darum bemühen. Jeder muss sich aber auch und in besonderer Weise anstrengen, in seinem Beruf den Grad der Vollkommenheit zu erreichen und der Ordensmann und Oblaten zu werden, den Gott sich wünscht. Ferner muss alles, was in der Kongregation geschieht, jede Art von Unternehmung, Veröffentlichungen, Predigten, etc. das warme Interesse aller finden. Das, was einer unserer Mitbrüder oder eines unserer Häuser in Angriff nimmt, darf niemandem von uns kalt und gleichgültig lassen. Was immer wir persönlich darüber denken, fühlen und urteilen mögen, alles, was einer unserer Patres oder Brüder tut, sollten wir mit unserer Liebe und Ermunterung begleiten. Dann, meine Freunde, bilden wir wahrhaft eine Einheit, die Wert und Bestand hat. Sonst aber, wenn einer seine eigene Art zu urteilen nicht aufgeben will, sondern das anders geartete Tun seiner Mitbrüder aburteilt, wenn ein zweiter und dritter den ersten und die Übrigen kritisiert… sind wir nebeneinander stehende Lebewesen ohne jede innere Verbindung. Wir bilden keinen organisch aufgebauten Leib, keine Kongregation.

Diese Art vorzugehen müssen wir als eine Gewissenspflicht ansehen. Das versteht sich auf den ersten Blick. Müssen sich Glieder ein und derselben Familie nicht gegenseitig unterstützen? Und bezüglich Gewissen, müssen wir nicht mehr als andere uns gegenseitig zur Hand gehen und mit den anderen Mitbrüdern eins werden? Wir sind nicht Frucht oder Resultat eines menschlichen Gedankens. Was die Gründung der Oblaten veranlasst hat, war kein menschliches Denken und Wollen, sondern ein göttliches. Ihr kennt unsere Anfänge… Darum ist es unsere Pflicht, die Genossenschaft immer und überall zu unterstützen, zu verteidigen, zu lieben und uns für sie hinzugeben.

Sind wir des Willens Gottes hierüber aber sicher? Unser Herr hat mir auf eine sehr positive Weise seinen Willen erklärt, der hl. Vater hat diesen göttlichen Befehl zu wiederholten Malen bestätigt. Alle, die unsere Anfänge kennen, bestätigen, dass wenige Kongregationen gibt, die auf Grund ebenso offenkundiger Beweise des göttlichen Willens begonnen haben.

Wir haben es somit mit einer Sache, mit einem Werk zu tun, das kraft eines formellen Willensaktes Gottes ins Leben getreten ist. Solange wir zu dieser Sache, zu diesem Werk gehören, sind wir damit im Gewissen verpflichtet, es zu unterstützen, zu verteidigen, zu lieben und uns ihm hinzugeben. Tun wir das nicht, begehen wir da nicht eine Sünde, die wir beichten müssen? Ich glaube nicht, dass ich mich da außerhalb der Grenzen der Theologie befinde. Es ist dieselbe Theologie, die uns vorschreibt, den Nächsten, vor allem seine eigene Familie zu lieben.

Jedes Mal also, wenn einer unserer Patres in seinem Tun und Handeln angegriffen und kritisiert wird, sind wir verpflichtet, ihn liebevoll zu verteidigen, so gut wir es können… Noch mehr: Man hat uns ein Amt über die Seelen anvertraut. Wir haben uns Mühe gegeben, nach besten Kräften diese oder jene Funktion in der Leitung der Herde Christi zu erfüllen. Wir haben einigen Erfolg dabei aufzuweisen… Da schickt man uns plötzlich anderswohin. Was sollen wir da tun? Setzen wir uns mit ganzem Herzen dafür ein und mobilisieren wir alle Kräfte unseres Geistes, dass alles, was wir an Einfluss, Ansehen und Vertrauen über die Seelen errungen haben, ungeschmälert auf unseren Nachfolger übergeht! Legen wir keinerlei Gewicht darauf, dass man nach uns trauere, es verstieße gegen den Willen Gottes und würde das Gute verhindern. Im Gegenteil, bemühen wir uns mit aller Kraft, dass unsere Nachfolger im Amt noch mehr Einfluss und Vertrauen bei den Seelen gewinnt, die wir ihm gern übergeben, da dies der Wille Gottes ist.

Glaubt ihr vielleicht, zu den Jesuiten hier in Troyes käme noch ein einziges Beichtkind in den Beichtstuhl, wenn sie anders vorgegangen wären als ich eben ausgeführt habe? Sie haben nicht nur keines verloren, sondern gewinnen jeden Tag neue dazu. Und das, obwohl man sie jeden Augenblick versetzt.

Darum müssen auch wir uns gleicherweise verhalten. Nur dann wird die Ordensgemeinschaft sich erhalten und entfalten. Das erfordert freilich einen weiten Geist, Großmut und Stärke. Jeder hängt an erster Stelle an seiner eigenen Person. Jeder vermeint ebenso gut und noch besser zu arbeiten als der andere. Jederzeit zieht man sich den anderen etwas vor. Und hat man einen engen Geist, so ist man gar überzeugt, immer weit besser zu handeln als alle anderen. Bei solcher Einstellung fällt es sicher schwer, das Vertrauen, das wir genießen, ungeteilt auf andere übergehen zu lassen, den Einfluss, den wir allein und wir vor allem haben, anderen einzuräumen.

Das Gegenteil ist aber wesentliche Voraussetzung für die Kongregation, die Einheit und Festigkeit aufweist. Ohne das hört alles auf. Und sollte doch noch etwas Gutes vorhanden sein, so verweht es im Wind…

Das erfordert, um es noch einmal zu sagen, Tugend, sogar viel Tugend. Diese Tugend wird aber überreich gesegnet und belohnt vom lieben Gott, der uns aus dem gebrachten Opfer überfließenden Nutzen ziehen lässt. Bei vielen Gelegenheiten habe ich das beobachtet, bei den Jesuiten ebenso wie bei anderen Kongregationen. Gewiss merkt man gelegentlich in den Beziehungen, die man mit ihnen unterhält, dass von Pater zu Pater die Harmonie nicht immer vollkommen, umfassend und bedingungslos funktioniert. Das wird nicht nur so erklärt, sondern man stellt es nicht selten selbst fest. Sobald es aber den Einfluss der Kongregation oder der Gesellschaft betrifft, verschwindet alles Missverstehen wie auf ein Zauberwort und meist dank eines sehr verdienstlichen Tugendaktes…

Da heute Fest der Erscheinung ist und auch wir verpflichtet sind, die Dinge, die wir gesehen und gehört haben, in unserer Umgebung aufscheinen zu lassen, haben wir die strikte und strenge Verpflichtung, alle Mittel anzuwenden, um den Einfluss und die Ehre unserer Kongregation auszubreiten. Wir sind die Treuhänder einer göttlichen Gabe. Alle Menschen um uns her erkennen dies an. Gern würde ich euch alle Briefe vorlesen, die man mir anlässlich des Neuen Jahres schreibt, sowie alles, was man mir über die Genossenschaft und die Gute Mutter sagt. Ohne Zweifel liegt hier eine Gabe, ein Kapital, ein Besitz vor, die wir zur Geltung bringen müssen. Das geht aber nur auf die angegebene Weise. Wenn ein Kaufmann an seinem Ladentisch stünde und abträglich über seine Ware plauderte, welchen Erfolg könnte er schon erwarten?

Jeder gebe also wohl acht, sich bei der erstbesten Gelegenheit daran zu erinnern, dass er die Arbeiten und Bemühungen, die Ehre und den guten Ruf eines jeden Oblaten wie der Genossenschaft im Allgemeinen zu verteidigen hat. Seht da einen Pater, der etwas im Gehorsam ausführt. Arbeiten nun nicht alle mit ihm zusammen, so kann er nur Misserfolg ernten. Ihr arbeitet gegen ihn und hemmt sein Wirken, mit welchem Recht? Warum leistet ihr nicht euren Beitrag zu seinem Einsatz? Warum legt ihr euch quer über seinen Weg? Es gibt nur einen einzigen Beweggrund, der euch hindern könnte, ihn zu ermuntern und zu unterstützen: die Eigenliebe. Er könnte euch ja in den Hintergrund rücken und Abseits stellen… O, wie ist das erbärmlich!

Beten wir das Gebet der Weisen: „Herr, mache mein Herz weit, mach es so weit wie das Meer! Dann wird alles in unserem Herzen Platz finden, und zwar seinen ihm zustehenden Platz.“ Der hl. Franz v. Sales wünschte so sehr, dass seine Kinder ein weites Herz haben. Erbitten wir darum von Jesus am Fest der Erscheinung die Gnade solcher Herzensweite, damit jeder von uns Wohlwollen der Arbeit, dem Talent und der Handlungsweise eines jeden seiner Mitbrüder entgegenbringe.

Nach unserem göttlichen Muster müssen wir unser Herz bilden. Das ist der Grundzug am Charakter der Oblaten. Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen müssen.

D.s.b.