Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 09.12.1896: Die richtige Art und Weise, während des Noviziates das Gelübde zu vollziehen

„Während des Noviziates soll man die Novizen in allen Übungen des Ordenslebens, besonders aber der Gelübde ausbilden.“

Die Novizen haben zwar noch keine Gelübde abgelegt, müssen sich aber trotzdem in der Praxis der Gelübde üben. Und das mit größerer Aufmerksamkeit und Vollkommenheit als selbst die Professoren. Das beste Mittel etwas zu erlernen und zu beherrschen, ist es, sich vorher schon darin zu üben.

Die Novizen sollen sich darum für verpflichtet halten, nach den Gelübden zu leben. Ich sage sogar, sie sollten sich noch strenger dafür verpflichtet halten als die Professoren, weil sie es ja für ein ganzes Leben lang lernen und studieren müssen.

Viele scheinen zu glauben, die Noviziatszeit könne man so auf „Gut Glück“ zubringen, eher sie passiv erleiden, bis man schließlich Profess ablegt. Sich täuschen sich. Es ist das eine kostbare Zeit, die als Vorbereitung für die Gelübdeablegung zu verwenden ist durch eine sehr sorgfältige Betätigung der Gelübde. Nur Novizen, die sich auf solche Weise vorbereiten, werden auch gute Ordensleute werden. Die hl. Kirchenväter haben das Noviziat mit dem Paradies verglichen. Die seine Vorschriften treu befolgen, werden in der Gnade Gottes befestigt. Sie gehen vom Paradies des Noviziates unmittelbar in das Paradies der Gelübde über, und von diesem direkt in das Paradies des Himmels. Und das ist richtig. Worin besteht denn der Himmel? In der Erfüllung des Willens Gottes. Gott aber ist derselbe im Himmel wie auf Erden. Und auch wir sind im Himmel die gleichen wie hier unten.

Wir dürfen nicht Kinder, unwissende und ziellose Menschen bleiben wollen. Wenn wir uns nicht auf diesen Standpunkt stellen, der der einzig mögliche für uns ist, nämlich den Willen Gottes erfüllen, dann hat unser Leben seinen ganzen Sinn verloren…

Wir kommen von Gott und gehen zu Gott. Durch unsere Angleichung an das göttliche Wollen heiligen und vervollkommnen wir uns, begründen in uns den wahren und gefestigten Menschen. Was ist denn der Mensch seit der Ankunft unseres Herrn, seit der Menschwerdung? Was ist insbesondere der Priester, der Ordensmann? Ein „zweiter Christus“, ein anderer Christus. Christ aber kommt von Christus. Davon müssen wir ausgehen. Anderenfalls schaffen wir nichts. Dann ist alles Einbildung. Wir sind nur Menschen mit halbem Willen und halbem Herzen. Man hat in sich nichts!

Wählt darum euren festen Standpunkt, geht schnurgerade aufs Ziel los, marschiert großmütig zum göttlichen Willen hin. Dann seid ihr etwas und leistet etwas. Was wärt ihr sonst schon?

Ein unvollständiges, unbestimmtes Wesen, das keine Fähigkeiten hat, ein Körper ohne Gliedmaßen. Versteht das wohl, das ist echte Philosophie. Von diesem Standpunkt müssen wir ständig ausgehen, vorzüglich im Noviziat. Das muss eure innerste Überzeugung werden. Geht gerade auf Gott und seinen Willen los! Gestaltet Gott in euch! Wäre der göttliche Prototyp in uns ausgebildet, der Wille Gottes unsere Liebe, unsere Leben, unser Atem, dann wäre die Erde unser Paradies. Das Noviziat, in dem dies gut verwirklicht wird, ist in der Tat ein Paradies. Im anderen Fall aber, was stellt das Noviziat schon dar? Es ist überhaupt kein Noviziat. Ist es ein Priesterseminar? Bestimmt nicht. Ist es ein Kolleg (Anm.: „Schule mit Internat“)? Nein, nein, es ist nicht einmal das. Das Noviziat ist das Haus des göttlichen Willens, das Haus, in dem sich die Seele in der Nachahmung der Tugenden, der Gedanken, des innerlichen Lebens, ja des vollständigen Lebens unseres Herrn formt. Davon heißt es ausgehen. Ich bete zu Gott, dass er euch das wohl begreifen lasse.

Der Novize muss die Armut lieb gewinnen, muss sich daran gewöhnen, ein halbes Blatt Papier, eine Feder einzusparen… Muss dem Herrn aufopfern, was es in Nahrung und Kleidung zu leiden gibt. Wenn er so die innere wie äußere Armut liebgewinnt, bildet er in sich den neuen Menschen, das Bild Gottes heraus. Er lässt unseren Herrn, das göttliche Modell, in sich aufleben.
Der Novize muss sich daran gewöhnen zu gehorchen, in einem treuen, einfachen, kindlichen und großmütigen Gehorsam. Bedenkt, meine Freunde, dass es hundertmal mehr Fähigkeiten bedarf, um gut zu gehorchen als gut zu befehlen. Befehlen? Alles und alle Menschen befehlen. Selbst die Tiere befehlen. Was nottut, ist nicht der passive Gehorsam, sondern der frei gewollte, und großmütig Gottes wegen angenommene Gehorsam, also weil Gott es so will und befiehlt. Gehorcht man so, dann ist man wahrhaft groß. Man setzt einen Akt der Überlegenheit und Würde. Man erhebt sich über die Natur und die Leidenschaft, um eine Tat hoher Gottesliebe zu vollbringen, d.h. das Größte und Schönste, was man auf dieser Welt tun kann. Verachten wir und lassen wir doch alles links liegen, was von der Natur kommt, was von unten stammt, und sagen wir ein hochherziges „Ja“ zu Gott. Das ist der Gehorsam des Ordensmannes, des Oblaten.

Der Novize muss ferner die Keuschheit üben. Keuschheit bedeutet nicht nur Freisein von unehrbarer Sünde, vom Laster, von schlechten Gedanken, von schuldhaften Wünschen. Ist nicht nur der Entschluss sich abzutöten und sein Tun sorgsam zu überwachen. Keuschheit heißt vor allem, und das ist ihre positive Seite, sein ganzes Herz und seine ganze Liebe Gott schenken. Diese positive Seite des Gelübdes heißt es gut im Auge behalten. Jeden Tag setzt man positive Akte der Armut und des Gehorsams. Positiv sollten wir aber auch die Keuschheit üben.

Darin heißt es sich also im Noviziat schulen. Davon muss man sich tief durchdringen, darin muss man sich intensiv schulen. Tut das mit ganzem Herzen, dann wird das Noviziat euch teuer werden… Es wird nicht nur einem großen Saal im französischen Kolleg (Anm.: „vielleicht: im ‚Kolleg von Frankreich‘, 1529 gestiftet für öffentliche Vorlesungen.“) gleichen, in dem man gähnt, lange Stunden verbringt, bis man endlich fluchtartig das Weite suchen kann. Nein, ein so geartetes Noviziat hat keinen Namen. Was aber einen Namen, und zwar einen sehr schönen Namen verdient, das trifft erst ins Leben, wenn man in diesem großen Saal Gott begriffen und die Gelübde praktiziert hat, wie ich es erläutert habe. Dann klärt sich alles, alles wird hell, sicher, lebendig, gewinnt Leben und Aktion in uns und um uns.

Etwas hat mich in Pierre-Qui-Vire tief gerührt: Der Obere kam von einer Reise zurück und die Novizen gingen ihm eine gewisse Strecke, bis zu einem Wald, entgegen. Beim Anblick der Art, wie sie ihn empfingen, der Freude, die sich auf ihren Gesichtern malte, des großen Glücks, das sie empfanden, ihn begleiten zu dürfen, fragte ich mich: Woher kommt es, dass diese jungen Männer so an ihrem Meister und an ihrem Kloster hängen? Sicher nicht, weil dort alles reizend ist, denn man isst dort schlecht und schläft auf dem Boden. Man setzt mir eine Suppe vor aus Hafermahl, eine Art Brei, besser gesagt: Mörtel, in dem der Löffel senkrecht stecken blieb. Bohnen, dicke Bohnenschoten, in Wasser und Salz gekocht, freilich reichlich schwach gesalzen. Ich bin davon krank geworden und brachte schreckliche Kopfschmerzen heim. Der Pater Novizenmeister sagte zu mir: Wir sind zufrieden mit unserer Lebensweise, weil wir daraus einen Himmel machen: es ist der Wille Gottes über uns.

Woher kamen also dieses Glück und diese Freude? Alle waren treu in der Übung der klösterlichen Zucht. Sie waren arm, gehorsam, keusch. Sie fühlten, das ist der Wille Gottes über uns. Aus ganzem Herzen suchten sie, diesen Willen Gottes zu verwirklichen, das wurde für sie der Himmel auf Erden. Hat nicht der hl. Franz v. Sales gesagt: der Himmel auf Erden ist der angenommene und geliebte Wille Gottes?

Nach dieser Richtung, meine Freunde, sollt ihr euren Geist wenden. Gern wollen wir für euch in dieser Woche beten, damit unser Herr euch wohlvorbereitet finde am Weihnachtstag und in euch seine Wohnung aufschlagen kann.

Es versteht sich von selbst, dass die Novizen ganz demütig sein müssen und nicht schauen, was der oder jener Pater tut… Das ist nicht der Geist des hl. Franz v. Sales, nachzusehen, was der Nachbar treibt. Das mag vielleicht erbaulich sein, aber vergessen wir nicht, dass wir ein großes Vorbild haben in unserem Herrn. Von ihm müssen wir lernen, was Gott für uns tut und was wir für Gott tun müssen. Alles Übrige sollte uns nicht kümmern. Der hl. Franz v. Sales sagt, es sei nicht gut, ein gutes Beispiel zu geben. Doch weist er uns nicht das Beispiel des Mitmenschen als Triebfeder für unser Handeln zu. Unser einziges Vorbild ist vielmehr unser Herr: ihm allein heißt es nacheifern, und das große Hilfsmittel hierfür ist die Beobachtung des Direktoriums. Unsere Hauptarbeit darf nicht darin bestehen, uns mit diesem oder jenem zu vergleichen, uns diesem oder jenem als unserem Vorbild zu Füßen zu werfen.

Unserem Herrn ganz allein sollten wir uns zu Füßen werfen und dies lässt sich durchführen, indem wir genauestens achten, was Gott für uns getan hat und was wir für ihn getan haben.

Was ihr Wert seid, kann nicht das sein, was dieser oder jener von euch denkt. Auch nicht das, was er selbst taugt, sondern allein das, was ihr getan habt, ist entscheidend. Diese Einstellung macht uns ganz demütig. So fühlt man sich als der letzte, der allerletzte.

Bereiten wir uns also gut auf das hl. Weihnachtsfest vor, dass der Heiland in jedem von uns sein Bethlehem finde, wo er den Ort seiner Ruhe aufschlagen kann.

D.s.b.