Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 11.11.1896: Die Glaubensferne löst einen Mangel an Berufungen aus

„Die Mitglieder der Genossenschaft teilen sich in zwei Gruppen: in Kleriker mit dem Namen ‚Patres‘ und in die Laienbrüder, welche ‚Brüder‘ genannt werden.“

Neue Berufe gewinnen, ist keine leichte Sache. Das hängt mit dem fehlenden Glauben und der so wenig christlichen Erziehung in den Familien zusammen. Wie anders erzog man doch früher die Kinder! Man sagte den Kindern niemals, sie seien reich, und gewährte ihnen nicht alles, was sie wollten. Man gewöhnte sie an Verzichte und leitete sie an, die kleinen Entbehrungen in Nahrung und Kleidung zu ertragen. Ich denke daran, wie sehr diese Abtötung in meiner eigenen Familie praktiziert wurde. Darauf verstanden sich mein Vater und meine Mutter ausgezeichnet. So konnte ich in meiner Kindheit nie eine Essiggurke verzehren, und doch brannte ich vor Lust danach, dass ich m.E. zum Dieb geworden wäre, um eine zu erhaschen. Und dabei hat eine Essiggurke nichts Gutes an sich und verdirbt den Magen. Aus diesem Grund wollte man sie mir auch nicht geben. Desgleichen wenn ich ein Spiel oder ein Buch hatte, das mich begeisterte und für das ich gern alles andere vernachlässigt hätte. Das Ding verschwand, ich weiß nicht wie, ich sah es nimmer.

Man wollte auch nicht, dass ich Bratäpfel esse, wenigstens nicht, dass ich sie selbst auf dem Herde briet, um meine Gaumenlust zu befriedigen. Eines Tages profitierte ich von der Abwesenheit der Mutter, um mir einen Apfel zu braten. Er sah so golden und prächtig gebraten aus. Ich verließ für einen Augenblick die Küche, da kam mein Vater vorbei, sah den Apfel und warf ihn ins Feuer. Ich komme zurück und sehe jammervoll meinen Apfel ganz verkohlt und schwarz im Herd. „Papa, wie kommt es, dass mein Apfel im Feuer liegt?“ – „Das geschieht immer dann“, antwortete er mir ernst, „wenn man nach etwas allzu leidenschaftlich und ohne Erlaubnis verlangt… Dann fällt es wie Dein Bratapfel ins Feuer.“ Meinen verbrannten Apfel habe ich nie vergessen können.

So erging es mir auch meinen Kleidern. Wenn ich den Wunsch äußerte, eine neue Hose zu bekommen, zeigte man mir einen kleinen armen Jungen, der auf der Straße vorüberging, und sagte zu mir: Schau dir den an, deine Hose ist immer noch besser als die seine. Stündest du an seiner Stelle, dann wärst du mit deiner eigenen sehr zufrieden… Warum zieht dich der liebe Gott ihm bloß vor?

Wozu einem Kind aber in dieser Weise widerstehen? Was kann der Erfolg davon sein? Nun, der Erfolg ist, dass man aus so einem Untergebenen, der keine sonderliche körperliche oder moralische Kraft besitzt, doch noch etwas Gutes machen kann.

Wenn ein Junge, der so erzogen wurde, in das Alter kommt, wo er in den geistlichen Stand eintritt, so tut er dies mit vollem Herzen. Er versteht den Sinn der Abtötung und erkennt dessen Verdienstlichkeit. Es gelingt ihm, die Abtötung zu lieben. Heute ist das alles anders geworden. Die Erziehung, selbst in den besten Familien, verdient Abscheu. Dafür erlebte ich ein erschütterndes Beispiel: Ein Jungmann aus vornehmer Familie, der schönste Jüngling, den ich je gesehen, von seltener Vornehmheit und wahrhaft fürstlichen Manieren, aber völlig verzogen durch die Schwächlichkeit seiner Großmutter, führt in diesem Augenblick einen skandalösen Lebenswandel. Er warf schon mehr als 250.000 Francs zum Fenster hinaus, ist völlig abgestumpft, ein Bild des Abscheus. Er tut nichts, rein gar nichts als schändliche Dummheiten. Und warum das? Weil seine gute Großmutter ständig sagte: O dieser arme kleine Willi, wie hart ist es für ihn, ins Kolleg zu müssen! … Ja, und jetzt ist es in anderer Hinsicht hart mit ihm geworden! Und dabei ist seine Großmutter eine gute und ehrenwerte Person. Drei Viertel aller Väter und Familienmütter sind von dieser Qualität!

Vor 50 oder 60 Jahren hätte man einen Ochsenziemer genommen und hätte dem Willi eine ordentliche Tracht Prügel verabreicht, wenn er nicht ins Kolleg gehen wollte. Schnurstracks wäre er dorthin gegangen, hätte gute Studien absolviert und wäre für seine Familie keine Schande und für alle kein Ärgernis geworden.

Bei den jungen Mädchen steht es um die Erziehung nicht so kläglich, weil sie unter dem Einfluss ihrer Mütter verbleiben. Aber seht bloß, wie heutzutage selbst in christlichen Familien sogar christliche Mütter Angst haben vor dem Ordensberuf ihrer Töchter.

Darum nehmen die Berufe so ab. In den Familien und ihrer Erziehung steckt eben so viel Schwächlichkeit, so mangelhafter Glaube und so viel Sinnlichkeit. Der Mangel an der nötigen Überwachung und an einem echt christlichen Leben hat zur Folge, dass die Kinder sich Fehler und Laster angewöhnen, die ein echtes Hindernis darstellen für Priester- und Ordensberufe.

Gewiss müssen wir behutsam vorgehen in unseren Bemerkungen und Ratschlägen, die wir eventuell in diesem Punkte geben müssen. Wir dürfen die Leute nicht am Kragen packen und rufen: Ihr erzieht eure Kinder schlecht! … Gebraucht vielmehr die Mittel und Hilfsquellen, die euch zur Verfügung stehen, vor allem das Gebet und versucht, sie auf den rechten Weg zu führen.

Was aber besonders auffallend ist: ein großer Teil dieser Weltchristen und drei Viertel der Weltgeistlichen sind dem Ordensstand abgeneigt. Viele dieser Geistlichen sagen zu ihrer männlichen und weiblichen Beichtkindern: Ihr müsst in der Welt bleiben, da werdet ihr viel Gutes wirken! Ohne Zweifel. Doch hätten sie im Ordensstand noch mehr Gutes getan. Die Lehre des hl. Thomas, sagen sie nicht, im Himmel gäbe es zwei Ränge von Heiligen: 1. den Stand der hl. Bischöfe, Päpste und Märtyrer, und 2. den Stand der Ordensleute? Der hl. Thomas sagt immer wieder, der Ordensmann nehme auf Grund seines Ordensberufes im Himmel einen Ehrenplatz ein. Die Sache lohnt sich also, meine Freunde. Meint ihr nicht auch, dass der Himmel etwas länger dauert als die Erde?
Was ich euch da sage, ist selbstverständlich und einfach, ihr wisst es selbst. Und doch ist es sehr angebracht, es sich immer erneut ins Gedächtnis zu rufen und darüber eine ganz klare Vorstellung zu haben. In den Ermahnungen, die ihr vielleicht an die Adresse der Eltern betreffs ihrer Kinder zu richten habt, was wollt ihr ihnen den vortragen und Gutes tun, wenn ihr keine soliden Prinzipien und klare Ideen habt, sondern nur vage Begriffe und verworrene Grundsätze?

Schwer ist es also, Ordensberufe zu gewinnen, noch schwerer aber, Brüderberufe zu entdecken. Der Glaube, die Hoffnung auf Himmelslohn bewog ehedem viele junge Leute dazu, in der Ordensgemeinde nichts anderes zu sein als demütige Laienbrüder. Die Großen dieser Welt, selbst Fürsten machten all ihren Einfluss geltend, dieses Privileg zu erwerben, zu den niedrigsten Arbeiten, als Gärtner oder Kuhhirten, verwendet zu werden. Das hat sich heute von Grund auf gewandelt.

Betreffs Brüder machte man zu allen Zeiten die Beobachtung, dass, wenn es Heilige, und zwar wirkliche Heilige in einer Kommunität gab, sie sich häufig unter den Brüdern fanden. Da herrscht in der Tat mehr Demut und man bringt es leicht zu größerer Heiligkeit und Erbauung. Aber die Sache hat auch ihre Kehrseite: begnügen sich die Brüder mit einer mittelmäßigen Frömmigkeit, dann werden sie leicht schlechte Ordensleute. Das wäre ein schönes und tröstliches Schauspiel für die Kirche, sähe man heutzutage noch junge Männer, mutig, kraftvoll und gesund an Leib und Seele, die so wie einst an die Klosterpforte klopfen und sagen: Ich weihe mich der Ordensgemeinde, um in vollkommener Demut zu leben, mein ganzes Leben Handarbeit zu leisten und Diener der Diener Gottes zu sein.

In der Kartause von Bosserville sah ich drei leibliche Brüder, Söhne eines reichen Grundbesitzers der Umgebung. Zu gleicher Zeit baten alle drei um Einlass, und baten, Laienbrüder werden zu dürfen. Um sie auf die Probe zu stellen, unterwarf man sie allen Arbeiten, Beschimpfungen und Demütigungen. Wir kommen nicht aus Faulheit, sagten sie bescheiden, sondern um Gott zu dienen. Gebraucht uns für die härtesten und niedrigsten Arbeiten, dann erfüllt ihr unsere heißesten Wünsche. Ich sah sie Käse bereiten, Wäsche waschen, Mist fahren… Nie wieder sah ich so schöne und edle Gesichter. Ich sagte mir: Wäre ich ein Maler, welch schönes Gemälde würde das geben, wenn ich einen dieser jungen Ordensmänner darstellte, wie er seine Ochsen führt. Welch strahlendes Gesicht, ein Gesicht aus dem Himmel! Wir könnten wirklich einige von diesem Typ brauchen. Lernen auch wir, die kleinen Abtötungen und unerlässlichen Entsagungen des Gemeinschaftslebens ertragen.

Wo gibt es übrigens solche nicht? Gewiss haben wir nicht alles, was uns angenehm wäre. Aber hätten wir es denn, wenn wir anderswo lebten? Zuhause oder in einem Pfarrhaus würden wir mehr als einmal feststellen, dass unser Brot uns teuer zu stehen kommt. Vielleicht wäre es mit sehr viel Prüfungen und Enttäuschungen getränkt.

Üben wir uns in der Praxis all dessen, was sich an Abtötung in der Nahrung, in der Kleidung und den Dingen des Alltags findet. Benutzen wir gern das, was andere schon gebraucht haben, was etwas abgenutzt aussieht. Lieben wir das Unscheinbare, Einfache, Bescheidene. Und dann, verzichten wir auch jederzeit auf irgendetwas! Mit der Armut macht man große Heilige. Der hl. Franz v. Assisi entblößte sich von allem. Er scharte Männer um sich, denen er nichts zu essen gab, die in Hütten aus Zweigen wohnten. Und doch wurde es eine Familie, so zahlreich wie die Sterne des Himmels: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.

Es ist Winter geworden. Die Gelegenheit ist günstig. Alles, was uns kostet, lasst uns Gott opfern. Bemühen wir uns, wahrhaft arm zu sein. Ein Armer hat keine Möglichkeit, sich ein Kleid zu kaufen, er verzichtet darauf, und gebraucht weiterhin sein altes, ohne sich zu beunruhigen. Wenn man auf etwas verzichtet, ist man nachher sehr glücklich.

Bittet die Gute Mutter um Verständnis für diese Wahrheit. An dem Tag, an dem wir wahrhaft arm sind, wird Gott sich uns ohne Maßen schenken.

D.s.b.