Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 28.10.1896: Folgen wir den Kindern als Geschenk Gottes

Ich fahre mit der Erklärung des ersten Kapitels der Satzungen fort. „Daher sollen sie sich aus ganzem Herzen bemühen, sich selbst zu heiligen, um dadurch wirksamer an der Heiligung des Nächsten mithelfen zu können.“

Unser Dienst an den Schülern, unser Hauptziel und man kann sagen, unser einziges, ist ihre christliche Erziehung, d.h. wir sollen sie lehren, ein wahrhaft christliches Leben zu führen, das ihrer Berufung würdig ist. Das dürfen wir in unserem Unterricht, als Lehrer und Aufseher, nie aus dem Auge verlieren. Was die Herzen unserer Schüler rührt, ist nicht so sehr, was wie sagen, sondern was wir sind. Ein Wort bleibt nur sein Wort. Die Wirklichkeit aber, die wirksam wird und beeindruckt, ist das, was man vorstellt. Ich denke da an einer meiner Mitalumnen vom Großen Seminar zurück, den seine sehr christliche Familie zum Priesterstand gedrängt hat, ohne dass eine eigentliche Berufung vorlag. Es erzählte mir, im Kleinen Seminar habe er einmal mit seinem Vorgesetzten zu tun gehabt: „Nie hatte dieser ein Wort zu mir gesprochen, nur eines Tages machte er mir ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Wir machten zusammen eine Runde im Garten, ohne dass ein Wort gewechselt wurde. Erst beim Fortgehen sagte er zu mir: Welch schönes Wetter heute! Doch allein die Tatsache, dass ich diese wenigen Schritte mit ihm zusammen tun durfte, machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich für mein ganzes Leben ein guter Christ geworden bin. Ich befand mich ja in Gesellschaft eines Heiligen…“

Wir sind nicht alle Heilige, um ähnliche Eindrücke zu machen. Wenn wir aber in unserem Willen und in unserer Seele den Wunsch hegen, unsere hl. Regel, die Satzungen und das Direktorium treu zu beobachten, werden auch wir bei unseren Schülern Erfolg haben.

Was die Schüler rührt, sind nicht so sehr unsere Worte in der Schule als vielmehr unsere gesammelte Haltung in der Kapelle, ein paar gute Worte im Beichtstuhl, die Frömmigkeit, mit der wir ihnen die hl. Kommunion reichen oder unser Brevier beten…

Wir haben bei der uns anvertrauten Jugend eine hohe Mission zu erfüllen. Niemand oder leider Gottes kümmern allzu wenige kümmern sich in unserer Zeit um sie. Drei Viertel von ihnen besuchen verpestete Schulen, wo man sie nur Verleugnung der Religion oder Gleichgültigkeit lehrt. Überall bemitleidet man das Los dieser armen jungen Leute.

Die dringlichsten Anrufe des Hl. Vaters gelten gerade ihnen. Pius IX. ermunterte uns, uns mehr und mehr der Jugend zu widmen. Er sagte: Haltet ihr eine gute Betrachtung? Von der Betrachtung müsst ihr leben. Nur damit sichert man die Erziehung der Jugend.

Das große, wirkungsvolle und siegreiche Mittel dafür ist also das Gebet. Beten wir für unsere Schüler in der hl. Messe, in der Kapelle. Bitten wir Gott durch die Gute Meinung, ihnen das nötige Licht zu geben und ihr Herz zu rühren. Damit erreicht ihr alles, was ihr von ihnen haben wollt. Und sollte die Gnade und der Friede, die ihr ihnen kraft eures Gebetes vermittelt, keinen Eingang in sie finden, so wird er zu euch zurückkehren und zwar hundertfach.

So also muss euer Verhältnis zu ihnen aussehen, dann werden die Schüler, wie ich bereits sagte, eure Einstellung zu ihnen spüren, und keiner von ihnen, es sei denn, er sei ganz verdorben, wird euch widerstehen. Ich weiß sehr wohl, dass diese Methode nicht überall befolgt wird, nicht einmal in allen Seminarien… Es sollte aber die unsrige sein. Natürlich sollen wir nicht jeden Augenblick eine Predigt an unsere Schüler halten oder allzu fromme Bemerkungen machen. Bei dem Widerspruchsgeist der jungen Menschen würdet ihr eure guten Absichten vereitelt sehen. Aber in unserem Inneren soll diese Gesinnung vorherrschen. Wenn das zum Kern und Stern unseres Denkens wird, werden wir bei diskreten Bemerkungen religiöser Art sicher Erfolg haben. Man kann beten und beten. Hier aber ist es vor allem das Gebet der Aktion, das diese Wirkung erzielt, die Tat also, die im Geist des Gebetes verrichtet wird. Das war die große Gebetsweise des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter. Betrachten wir die Kinder nicht als Wesen untergeordneter Art. Schätzen wir in ihnen die Gabe Gottes, die Intelligenz, so sie eine haben, ihren Glauben, ihr Herz. Nehmen wir andererseits bei ihnen auch Rücksicht auf ihre Schwächen und Armseligkeiten.

Bringen wir dem Kind und dem jungen Menschen also die Ehrfurcht des Glaubens entgegen. Damit sei nicht gesagt, wir sollten sie mit Weichlichkeit und Schwäche oder gefährlicher Nachsicht behandeln. Ganz und gar nicht. Behandeln wir sie vielmehr mit Festigkeit und mit der nötigen Energie. Habt aber trotzdem große Achtung vor der Seele des Kindes und Jungmannes. Was ihr ihnen nicht mit Worten sagt, wird ihnen eure Miene und euer Blick verraten. Sie wissen selbst nicht, warum, aber sie fassen Zuneigung zu euch.

Habt also Ehrfurcht vor ihren Tugenden, guten Eigenschaften und allen Gaben Gottes, die sich in ihnen finden. Hegt Mitleid und Nachsicht für ihre Schwächen und Armseligkeiten. Wenn das Kind eines Tages spürt, dass ihr für es Hochachtung empfindet, bleibt es euch für immer verbunden. Dafür erlebte ich ein überzeugendes Beispiel: Im Seminar hatte ich einen vortrefflichen Professor, Herrn Auger. Er hinterließ bei seinen Schülern ein unvergleichliches Gedenken, obwohl er gelegentlich auch ein spitzes, ja sogar boshaftes Wort fallen ließ. Hatte er aber einmal in einem Jungen Frömmigkeit und Tugend erkannt, so gab er sich redlich Mühe, diese mit aller Kraft zu entfalten. Man spürte an ihm einfach den großen Respekt und die Ehrfurcht gegen den Jugend, der in seinem Herzen solch eine Gottesgabe trug. So hat er unbeschreiblich viel Gute gewirkt.

Machen wir uns diesen Geist zu Eigen, liebe Freunde. So hat es der hl. Franz v. Sales und die Gute Mutter gehalten. Bestimmt braucht es dafür eine große Weite des Geistes und ein gesundes Urteil…

Nehmt den erstbesten Schüler: er hat immer etwas Gutes an sich, das ist ein Strahl der göttlichen Gnade. Behandelt es mit Hochachtung. Helft ihm, diese Gabe, die Gott ihm da anvertraut hat, zur Entfaltung und Ausstrahlung zu bringen. Diese Hochachtung wird im Verein mit der Autorität, die euch in seinen Augen umgibt, ungeheure Macht und Einfluss ausüben.

Worte müssen sicher sein, doch nur die innere Einstellung unserer Seele gibt, um es noch einmal zu sagen, unserem Befehl Wirksamkeit. Von diesem Geist beseelt, werden wir enorm viel Gutes vollbringen. Dann vermag man alles über einen Schüler. Ihr straft ihn für einen Fehler, er aber weiß, dass ihr gerecht seid. Denn trotz allen Tadelns und Rügens scheut ihr euch nicht, das Gute in ihm anzuerkennen. Trotz seiner schlechten Disposition fühlt er sich dadurch allmählich geneigt, die harten und peniblen Maßnahmen zu bejahen, weil er spürt, dass Gerechtigkeit im Spiel ist. So formt man gerecht denkende Charaktere.

Unsere Methode ist die unseres Herrn selbst. Sie beruht nicht auf einer besonderen Handlungsweise. An sich stellen diese religiösen Praktiken, die mitunter als große Erziehungsmittel gebraucht werden, nur Hilfen dar, und nicht positive Mittel. Ihr Zweck ist es Licht und gutes Urteil zu wecken, damit das Kind versteht, Stärke und Mut zu entfachen, kraft welches es dann die wahren Mittel der Erziehung anwendet und ins Werk setzt. Die göttliche Gnade wirkt trotz all ihrer Macht nicht auf alle in derselben Weise. Sie gleicht sich den natürlichen Gaben an, die sie vorfindet, und richtet sich an Verstand und Willen entsprechend der Empfänglichkeit, die diese aufweisen. So schreitet ihr sicherer und hurtiger voran als würdet ihr diese übernatürlichen Gaben vernachlässigen.

Bei solchen Achtung und Ehrfurcht vor dem Schüler darf man viel von ihm erwarten. Das ist die wahre Erziehungsweisheit des hl. Franz v. Sales. Natürlich kann man ein Kind zum Handeln bringen mittels des Anstoßes, den man ihm gibt, oder kraft der Autorität, die wir spielen lassen. Doch dieser Gehorsam ist rein äußerlich. Was den Menschen aber zum Menschen macht, ist sein Inneres, und dieses Innere heißt es anrühren. Das Kind wie der junge Mensch haben die Ausübung ihrer Willensfreiheit bewahrt. Diese gilt es in Bewegung setzen, und das erreichen wir gerade durch unsere Erziehungsmethode.

Unsere jungen Menschen sind nicht unbedingt alle christliche. Daran sind ihre Eltern Schuld und das Milieu, in das sie hinein geboren wurden. Doch tragen sie in sich die Ruhe des gesunden Menschenverstandes der Bewohner der Champagne, die Geradheit des Urteils, die Willfährigkeit gegenüber dem Willen des anderen und das nachgiebige Eingehen auf Dinge, die angenommen werden müssen. Welche Fehler die jungen Leute auch immer haben mögen, die eben genannten Vorteile finden sich bei ihnen immer vor. Das ist ein Geschenk der Natur. Wir müssen ihr Vertrauen zu gewinnen suchen und durch einen sanften, liebevollen und beständigen Anstoß sie dahin bringen, die Dinge so zu sehen und so zu handeln. Das macht das echte christliche Leben aus.

Die Theologie unterscheidet die göttlichen und die sittlichen Tugenden. Die sittlichen oder die Kardinaltugenden können rein menschlicher und heidnischer Natur sein, bei uns Christen sind sie natürlich christlich und übernatürlich. Wer vermittelt dem Kind nun diese christlichen Tugenden? Allein die Gnade Gottes. Auf welchem Wege und mittels welcher Hilfsmittel geht diese Gnade in die Seele ein? Mit Hilfe der Erziehung, die das Kind empfängt. Messt darum diese Art Erziehung große Bedeutung bei. Dieses große Mittel, das ich euch da empfehle, ist die Basis für das ganze christliche Leben und Fundament für das übernatürliche Gebäude. Diese so schöne und fruchtbare Aufgabe werdet ihr, Erzieher, mit Hilfe der Mittel, die ich euch da an die Hand gebe, erfüllen: durch euer Gebet für die Schüler, durch eure persönliche Treue und Heiligkeit, durch eure Achtung und Ehrfurcht vor euren Schülern.

Das könnt ihr mehr als einmal feststellen, wenn ihr darauf achtet. Bei der oder jener Gelegenheit hat der oder jener Schüler gemerkt, dass ihr ihn achtet, dass ihr diese oder jene Eigenschaft an ihm hochschätzt. Dadurch ist er für euch eingenommen höchst wichtige Pflicht zu erfüllen. Die Sache ist schön und bedeutsam genug, dass ich sie jedem von euch zur Betrachtung übergebe. Der hl. Chrysostomos spricht von einem Bildhauer, der mit so viel Treue und Talent die menschliche Gestalt und die Linien der Natur nachzuformen verstand, dass seine Schöpfungen alle zur Bewunderung hinrissen und ihm einen Ehrenplatz unter seinen Mitbürgern einräumten. Welche Verdienste aber erwerben und welche Ehrenplätze verdienen dann nicht jene, die ungebildete und junge Seelen nach dem Vorbild unseres Herrn Jesus zu gestalten verstehen? Nach diesem Ziel müssen alle jene streben, denen Gott die Jugend anvertraut.

Noch einmal sei es gesagt: Ich war sehr getröstet und erbaut über das Treffen unserer früheren Schüler. Da haben wir festen Grund vor uns. Trachtet dieses schöne Werk mehr und mehr zu erweitern und auszubreiten.

D.s.b.