Kapitel vom 21.10.1896: Die Aktualität des hl. Franz v. Sales
Da wir uns im vergangenen Schuljahr über das Direktorium unterhalten haben, wollen wir uns dies Jahr die Satzungen ansehen.
Die Satzungen bilden das äußere Gesetz, das Gericht, das über uns urteilt. Das Direktorium dagegen enthält die innere und intime Regel für unsere Seele. Es verbleibt noch eine dritte Kategorie von Gesetzen, das Gebräuchebuch. Alle Kongregationen haben ihr Gebräuchebuch. In der Heimsuchung hat man eins, dessen Studium man nicht weniger Gewicht beimisst als dem der beiden anderen Bücher. Das Gebräuchebuch zeichnet dem Institut seine äußere Form vor, regelt die Art und Weise, an diesem oder jenem Tag dies oder jenes zu tun. Er sammelt die Überlieferungen und Gebräuche und vereinigt sie zu einem Gesetzesbuch. Darum müssen wir auch eines Tages sicher ein Gebräuchebuch haben.
Wir haben bereits eine große Arbeit vollbracht, das „Direktorium für Weltpriester“. Nicht wenige Priester wünschten für sich diese Lebensweise. Ihnen können wir jetzt das „Direktorium des Salesianischen Priesterbundes“ übergeben. Mit der Lehre des hl. Stifters und der Guten Mutter findet man Zugang zu allen Lebensständen und allen Seelen. Da bleibt nichts Unbestimmtes und nichts dem Belieben des einzelnen überlassen. Alles ist mit Sanftmut und Einfachheit geregelt. So wie alles, was der liebe Gott äußerlich sichtbar tut, einfach und umfassend ist.
Die Mittel, die der hl. Franz v. Sales und die Gute Mutter an die Hand geben, sind dermaßen einfach, dass sie jeder ohne Ausnahme gebrauchen und anwenden kann. Wir sollten darum all die kleinen Übungen, die man uns im Noviziat beibringt, tief in uns aufnehmen und unser ganzes Leben lang bewahren: das, was unsere Haltung, unseren Gang, die Bescheidenheit der Blicke und alles Übrige betrifft. Gewiss sieht das auf den ersten Blick nach nichts aus. Im Grunde kann man aber sagen, es sei alles, weil sich aus all dem unser Ordensleben zusammensetzt.
Eines Tages wird darum auch unser Gebräuchebuch da sein. Bisher konnte man es nicht abfassen, weil nichts an eingebürgerten Gebräuchen vorhanden war. So wollen wir heute mit der Erklärung der Satzungen beginnen.
„Die Mitglieder des Institutes stellen sich unter den Schutz des hl. Franz v. Sales und machen es sich zur Aufgabe, die Tugenden des Priester- und Ordensstandes im Geist des hl. Kirchenlehrers zu üben.“
Es gibt zurzeit, und das ist bemerkenswert, eine große Anzahl von Menschen, besonders von Priestern, die zum hl. Franz v. Sales gehen, um ihn zu studieren, die ihn nachahmen und sich mit seiner Lehre nähren wollen. Heutzutage liebt man auch den hl. Vinzenz v. Paul. Das ist ein großer Heiliger, der aber keine eigene Lehre hat. Er ist der Heilige der Caritas und der charitativen Werke. Franz v. Sales aber zieht die Seelen und vor allem durch seine geistliche Lehre an. Man spricht viel darüber. Abbé Chaumont von Paris hat eine Gesellschaft von Priestern ins Leben gerufen, die sich „Priester des hl. Franz v. Sales“ nennen und von den Schriften des hl. Kirchenlehrers leben. Das bringt sicher viel Gutes hervor. Wenn ich aber offen meine Meinung sagen darf, so finde ich in den Lebensregeln der Priester des Abbé Chaumont nicht unbedingt die Lehre des Heiligen in ihrer Integrität, so wie die Heimsuchung sie als ihr Erbteil erhalten und wie die Gute Mutter uns in deren Verständnis eingeführt hat und wir sie vortragen.
Ich weilte dieser Tage in Orleans zur Bischofsweihe des Msgr. Chapon. Alle dort versammelten Bischöfe bezeigten uns äußerste Liebenswürdigkeit. Für unsere Genossenschaft legten sie viel Wohlwollen und Hochachtung an den Tag. Einige von ihnen, darunter vor allem der neue Bischof, rühmten unsere Lehre.
Unser Heiliger hat in der Tat vom Himmel aus eine Mission auf der Welt zur erfüllen. Vor 25/26 Jahren sagte mir die Schwester Marie-Genofeva: „Herr Pater, unser heiliger Gründer ist im Himmel sehr beschäftigt. Der liebe Gott überträgt ihm dort ein größeres Amt als er bisher innehatte. Er soll noch mehr Gutes tun. Von allen Seiten wird man zu ihm strömen und er wird zu einem der größten Gelehrten des Himmels erklärt werden.“ Diese Mutter hatte ihr gesagt: „Behalten Sie von dem, was Sie da hören, nichts für sich!“ Und dann ging sie, mir all das zu erzählen. Es geschah genau einige Monate vor der Ernennung des Heiligen zum Kirchenlehrer. Niemand hatte zu ihr darüber gesprochen, sie konnte es nicht von Menschen wissen. Ich habe auch sonst festgestellt, dass all ihre Voraussagen an mich mit mathematischer Präzision eintrafen.
Die Stunde des hl. Franz v. Sales hat jetzt geschlagen. Alles ist im Augenblick umgestürzt und auf den Kopf gestellt, auf nichts mehr in unserer Umwelt kann man sich stützen. Da heißt es, sich ermannen und zu seinem eigenen Gewissen seine Zuflucht nehmen.
Das große Mittel aber, mannhaft und stark zu sein, das uns die hl. Kirche anbietet, sind die Sakramente. Sie aber ohne Verstand empfangen, hat wenig Wert. Ich kenne in der Schweiz eine Gegend, wo alles zur hl. Messe geht und seine Ostern hält. Und doch finden sich dort eine Anzahl Menschen, die keinerlei christlichen Lebenswandel führen. Was das Wesen einer wahrhaft christlichen Seele ausmacht, ist ihnen unbekannt, so wie auch die Pflichten gegen Gott. Sie kämpfen gegen ihren Pfarrer wie gegen den Glauben und lesen schlechte Zeitungen. In ihrem Herzen tragen sie Rachegelüste und Hass. Und dabei gehen sie zur hl. Kommunion… Das materielle und buchstäbliche Erfüllen der Kirchengebote genügt nicht, es muss noch etwas anderes dazukommen.
Gewiss: „die Kirche urteilt nicht über das Innere“, sagt das Kirchenrecht. Und der Kardinalpräfekt der Religiosenkongregation bestätigt mir: „Wir sind eine große Verwaltungsbehörde und urteilen nur über äußere Dinge. Gott allein richtet über das Innere.“ Zweifellos erwirkt die Kirche, die ein Gesetz erlässt, für jene, die es beobachten müssen, von Gott die nötige Gnade. Wird diese Gnade aber nicht verstanden und angenommen und geht sie nicht in die einzelnen Menschen ein, dann erfüllt der Einzelne zwar äußerlich das Gebot, hat damit aber noch nicht den Geist dieses Gesetzes verstehen, in sich aufnehmen und bewahren können.
Neben der äußeren Welt gibt es das besondere Reich eines jeden. Das ist die Seele, unser persönliches Leben, unser Gewissen, unsere Heiligkeit, die nicht so sehr von den Geboten der Kirche abhängt als von unserer inneren Einstellung. Für dieses Gebiet tragen wir in besonderer Weise die Verantwortung, müssen dafür intensiv arbeiten, und die Lehre des hl. Franz v. Sales hilft uns, gerade diesen Bereich mit Erfolg zu pflegen und zu kultivieren.
„Daher sollen sie sich aus ganzem Herzen bemühen, sich selbst zu heiligen, um dadurch wirksamer an der Heiligung des Nächsten mithelfen zu können.“
Beobachtet einen Priester in seiner Pfarrei: zeigt er wenig Eifer? Nun, dann stellt ihr eben fest, dass seine Pfarre ihm gleich ist. „Die Ware hat so viel Wert wie der Hersteller.“ Hat man aber nicht gesagt: Judas tauft, Jesus tauft? Jawohl, der Täufling hat das Wesentliche empfangen, er ist Christ geworden. Genügt ihm dies aber, um auch als guter Christ zu leben? Hat der gute Priester wirklich nicht mehr zu geben? Wenn er aber selber nichts hat, kann er auch nichts weitergeben. Wir sind keine Maschinen. Diese funktionieren dank einer Mechanik. Das Rad bewegt den ganzen Mechanismus, doch aus sich heraus vermag es keine Kraft, weiterzugeben. Das ist also kein Vorbild für die Rolle des Priesters und des Ordensmannes. Sie sind kein totes Rad.
Ein heiliger Priester muss wie ein heiliger Ordensmann den Seelen gleichzeitig mit der Mitteilung der sakramentalen Gnade Gott schenken, und dies kraft ihrer Gebete, ihrer Worte, ihres Beispiels und ihrer Werke der Hingabe und des Eifers. Sie müssen den Geistern Licht, den Herzen Gottes- und Nächstenliebe vermitteln. Etwas vom innersten Herzen Gottes sollten sie weitergeben, etwas, was den Gläubigen hilft, diese sakramentale Gnade, deren Ausspender sie sind, gut aufzunehmen und fruchtbar zu machen.
Der Ordensstand wäre in der Tat von keinem Nutzen, wenn er der Seele des Ordenspriesters nicht mehr verleihe, wenn der Priester nichts als die sakramentale Gnade zu vermitteln hätte. Beachten wir wohl, der Weltgeistliche kann und soll seine Hingabe, seinen Eifer und seine Tugenden hinzufügen und tut es auch sehr oft. Er kann ein wirklicher Heiliger sein – und ist es manchmal auch. Der Ordenspriester aber und der heilige Ordensmann verfügt, so scheint es, leichter über die Gnade und die Gabe, die Seelen der Gläubigen durch eine tiefergehende Aktion zu durchdringen.
Die christliche Erziehung, die wir der uns anvertrauten Jugend erteilen, muss wie eine Ausstrahlung der Seele des Ordensmannes sein. Wir müssen das Mittel finden, den anderen weiterzugeben, was wir im Herzen tragen. Betet darum, wenn ihr im Begriffe steht, zu einem Unterricht oder zu einer Aufsicht zu gehen.
Sagt dann ganz leise ein kleines Wort zum lieben Gott. Das nimmt euch keine Zeit weg. So werdet ihr mehr Licht und Einsicht gewinnen. Gott, der Herr der Wissenschaften. Man wird euch besser zuhören und besser verstehen. Und die kleinen Strapazen und Beschwerlichkeiten, die über euch kommen, werden euch dann Nutzen einbringen.
Beim Treffen der früheren Schüler am letzten Sonntag war ich doch sehr gerührt. Louis Thibaut von der Papierfabrik sagte zu mir: „Wenn man in meinem Alter steht und dann wieder einmal nach St. Bernhard kommt, wenn man dann an all das erinnert wird, was uns einmal unsere Lehrer gesagt haben, sieht man ein, wie richtig das alles war und bleibt.“ Während er mir das sagte, wischte er sich zwei dicke Tränen von den Augen. Das machte auf mich einen Eindruck, den ich nicht wiedergeben kann. Das war keine vorübergehende Erinnerung, die da durch die Seelen dieser jungen, jetzt gereiften Männer huschte, sondern sie spürten und konstatierten, dass St. Bernhard aus ihnen etwas gemacht hatte.
Solche Gedanken sollten wir tief in uns einlassen, wenn wir in unsere Klasse oder zu einer Aufsicht gehen. Das tut gut, das geht zum Herzen, und schafft uns eine besonders wohltuende Atmosphäre. Und dazu sind wir ja Oblaten des hl. Franz v. Sales.
P. Simon teilt mir mit, er schreibe der Fürbitte der Guten Mutter Maria Salesia ein ganz bedeutendes Ereignis zu. Er konnte noch kein Gebiet jenseits des Oranjeflusses ausfindig machen und fragte sich, wie er es anstellen solle, um zu einem zu kommen bei all den Schwierigkeiten, die man ihm in diesem Land macht.
Da empfängt er einen Brief eines Landbesitzers von der anderen Seite des Flusses mit nachstehendem Inhalt: „Ich könnte Ihnen vielleicht meinen Besitz verkaufen. Ich bin Protestant und unsere Prädikanten bieten mir dafür einen gewissen Preis an. Ich könnte ‚Ja‘ sagen, es ist noch Zeit. Ich würde es aber lieber Ihnen zum Verkauf anbieten, weil ich weiß, dass Sie und Ihre Priester wahrhaft Gutes leisten. Ihnen biete ich es zu einem bedeutend niedrigerem Preis an als unseren Predigern.“ Da dieser Preis aber für die Börse des P. Simon viel zu hoch war, setzte ihn der brave Mann herab und herab… bis man sich handelseinig war.
Und P. Simon hat diesen Erwerb soeben vollzogen. Sie haben dort Gestein von jedem Kaliber, und ich weiß nicht, wie viele Ochsen, Schafe und Ziegen, von denen keine infolge der Dürre umgekommen sind. Man wird eine Kirche bauen können, dazu Häuser, die man vermieten kann… Das wird ein kleines Einkommen für die Mission abwerfen. Ich möchte selbst allzu gern ein bisschen hinfahren, um mir das anzuschauen…
Der Bischof von Besançon hat gern zugestimmt, dass eine fromme Person den Oblatinnen ein Waisenhaus für Mädchen in La Saulnaire übergibt, in der Nähe von Lure. Dort gibt es allerlei Gutes zu tun. Dieses Haus existiert schon seit einiger Zeit. Dort lebt auch ein Mädchen von 17 Jahren, das vorheriges Jahr von einem Wagen gefallen war und sich dabei eine Rückenmarkskrankeit zugezogen hat. Die Oblatinnen kamen also nach La Saulnaire, sprachen vor der Guten Mutter. Man begann eine Novene zu ihr, und am 07. Oktober, dem Todestag der Guten Mutter, ging das Mädchen selbstständig zur hl. Kommunion in ihrer Kapelle, zur großen Verwunderung aller. Sie war geheilt. Heute ist sie Oblatin des hl. Franz v. Sales.
Ich erhielt einen Brief von einer Frau aus Basel, die ich in Plombieres kennen gelernt hatte. Sie hat einen kleinen Jungen, der unglücklich irgendwo herabgestürzt war. Die Ärzte gaben die Hoffnung auf, ihn zu heilen. Sie wollte ihn zu uns bringen. Ich lehnte ab. Sie bestand aber so sehr darauf, dass ich schließlich nachgab. „Was soll ich tun?“ fragte sie mich. „Beten Sie zur Guten Mutter“, gab ich zur Antwort. Diesem Jungen geht es viel besser, ich glaube aber nicht, dass er bereits vollständig geheilt ist. Die Mutter sagte mir: „Ich habe eine Mutter, die protestantisch ist. Ich fürchte, sie wird auch so sterben.“ Da betete ich viel zur Guten Mutter in diesen letzten Tagen. Und soeben erhalte ich einen Brief dieser Dame, in dem sie mir schreibt: „Ich muss Ihnen mit Schmerz mitteilen, dass ich meine Mutter verloren habe. Doch einige Stunden vor ihrem Hinscheiden wohnten wir noch ihrer Bekehrung bei. Sie empfing die erste hl. Kommunion mit bewundernswertem Glauben und ist als eifrige Katholikin gestorben. Das ist für mich eine unbeschreibliche Freude, die ich der Guten Mutter zuschreibe. Und meinem Sohn tut auch nichts mehr weh und man versichert mir, ein Rückfall sei nicht zu befürchten.“
D.s.b.
