Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 15.07.1896: Über die besonderen Züge in der Physiognomie und im Charakter des Oblaten

Das ist eins der letzten Kapitel vor den Ferien unserer Schüler. Darum möchte ich euch ein Wörtchen über die Ferien sagen.

Damit dieses Wort euch aber im Gedächtnis haften bleibe und euch zu praktischen Überlegungen anrege, wollen wir ein wenig auf das zurückgreifen, was ich euch neulich auseinandersetzte, auf die besonderen Züge der Physiognomie und im Charakter des Oblaten des hl. Franz v. Sales. Hört also gut zu, meine Freunde, und führt es gut aus. Ihr findet das nicht in den Büchern. Jeder hat tatsächlich seine eigene Art zu denken, sich auszudrücken, Dinge vorzustellen. Jeder Sprecher ist wie ein Buch. Auch Bücher sprechen nicht alle dieselbe Sprache, sonst gäbe es ja auch nur ein einziges Buch. So gleicht jeder Mensch einem Buch. Passt also gut auf und sammelt, was ich euch auf den letzten Seiten meines (Lebens-)Buches sage.

Ich will, dass ihr das gut versteht. Wenn ich euch die Gnaden aufzeigte, die Gott den Oblaten des hl. Franz v. Sales zugeteilt hat, wollte ich niemals behaupten, die Oblaten seien das Beste und Vollkommenste auf der Welt. Mit dieser Meinung und Äußerung hätte ich sehr unrecht. Nein, das wäre glatter Unsinn. Man muss aber in Wahrheit zugeben, und zwar nicht nur in theologischer Wahrheit, sondern auch in jener, die ich metaphysische Wahrheit nennen möchte, dass die religiösen Orden, letztlich von Gott inspiriert, gerade deshalb den dringenden Forderungen der modernen Gesellschaft besser angepasst werden müssen. Sonst wären sie nicht von Gott berufen. Er hat sie gesandt, damit sie vollenden, was die älteren Orden vollbracht haben. Wir dürfen uns also nicht wundern, dass gewisse Mittel der Vervollkommnung, gewisse religiöse Praktiken bei uns Oblaten, den zuletzt Gekommenen, praktischer und auf die Bedürfnisse vieler Seelen zugeschnittener erscheinen: Unsere Art und Weise, in kindlicher Einfalt zu Gott zu gehen, unser Heil zu wirken und alle Tugenden in Treue zu den Pflichten des gegenwärtigen Augenblicks zu betätigen, indem wir alles ohne Ausnahme auf dieses Ziel hin, die Erfüllung des göttlichen Willens in uns, konzentrieren. Ferner unsere Art, dem Nächsten zu dienen, indem wir uns bemühen, in ihm den Heiland zu sehen…

Wir stellen also fest, dass wir uns im Besitz einer Lehre befinden, die es uns ermöglicht, uns auf eine unfehlbare Weise zu heiligen, und das mit Hilfe der einfachsten und gewöhnlichsten Mittel. Alles, was ich sehe und höre, bestätigt meine Überzeugung: P. Perrin, der viel und an vielen Orten predigt, sagt mir jedes Mal, wenn er nach Troyes kommt, die gleiche Erfahrung: Die Lehre, die wir verkünden, geht geradewegs in die Seelen ein, die sie begierig aufnehmen. Und unsere anderen Patres, die beichthören und predigen, machen die gleiche Erfahrung. Die Ordensfrauen, die mit uns zu tun haben, gestehen gern: mit der Lehre, die uns die Oblaten predigen, haben wir ein unfehlbares und äußerst einfaches und leichtes Mittel, uns zu heiligen. Dieses Mittel, meine Freunde, ist das übernatürliche Leben: unsere Handlungen verübernatürlichen, sie alle durch die Gute Meinung und das Direktorium heiligen. Die Oblaten müssen also ganz übernatürliche Menschen sein, ohne Einschränkung, anderenfalls sind und leisten wir nichts. Diese Bedingung des übernatürlichen Lebens also, die übernatürliche Atmosphäre ist für uns alles, die Grundvoraussetzung unseres Lebens und Wirkens. Das ist übrigens eine höchst ehrenhafte Bedingung, die Bedingung, die dem Menschen am meisten zur Ehre gereicht, weil sie seine Freiheit und Unabhängigkeit am meisten respektiert.

Der Mensch ist keine Maschine. Auch der echte Oblate ist keine Maschine. Er ist auch keinem Regiment zugehörig, hat keinen Unteroffizier im Nacken sitzen, nicht einmal einen General. Er ist und bleibt vielmehr im Vollbesitz seines Willens und seiner Tatkraft. Was er tut, tut er aus sich heraus, weil er es will. Er tut es im Vollbesitz seiner Freiheit, infolge der Autorität, die er frei über seine Bewegungen, seine Handlungen und seine Intentionen ausübt. In seinem religiösen Leben ist er also wirklich König. Wer außer euch selbst drängt euch denn? Wer überwacht euch? Wer unterjocht euch? Nichts und niemand! Ihr seid im Äußeren freier als die Seminaristen, obwohl diese keine Ordensleute sind. Sie sind nicht auf Grund ihres Standes gehalten, sich um klösterliche Vollkommenheit zu bemühen. Wer erteilt euch denn einen Befehl, wer setzt euch durch den Pfiff einer Pfeiffe in Marsch, wer gibt das Signal zur Durchführung eines Befehls? Nichts dergleichen kommt bei euch vor.

Wem gehorcht ihr also? Wenn ich genau hinsehe, muss ich sagen, ihr gehorcht euch selbst, d.h. eurem klaren Willensentschluss, Gott in eurem Beruf zu dienen und den Willen Gottes zu tun. So wird all euer Tun Folge und Ergebnis eures eigenen Willensaktes, eines ganz persönlichen Willensentscheides, einer ganz spontanen Regung. Natürlich vollzieht sich das all unter dem Einfluss der Gnade, aber es geschieht dennoch frei und ungezwungen,

Dafür müsst ihr aber wirkliche Oblaten sein, der hl. Regel folgend, das Direktorium ernst nehmen, und mutig der vorgezeichneten Richtung treu bleiben. Vorangehen also, wie es Satzungen und Direktorium vorzeichnen. Ich gehe noch einmal auf diesen Gedanken ein: Der Oblate des hl. Franz v. Sales lebt in der ganzen Fülle seiner Freiheit und seines Willens, im Vollbesitz seiner persönlichen Betätigung. Der Oblate, der so vorgeht, verfügt über eine ungeheure Stärke. Nichts kann ihn aufhalten und außer Fassung bringen, gar nichts. Er stützt sich auf Gott selbst. Begreift diese Würde, meine Freunde, erkennt euren Oblatencharakter, schätzt die Ehre, die euch damit zuteilwird, Herren und Lenker eurer selbst zu sein. Die Ehre, dass ihr so, auf euch wie auch auf Gott gestützt, dahinlebt. Was immer euch zustößt, es bleibt euch unterworfen auf Grund der Tatsache allein, dass ihr Mittler Gottes seid. Das sind keine leeren Worte, die ich da sage, sondern Realitäten, es ist das Fundament unserer Gefühle, Neigungen, Leidenschaften und Launen. Was uns leitet, was unser Oblaten bestimmt, liegt in unserem eigenen Inneren begründet, in unserem innersten und unerschütterlichen Willen, dass wir in allen Dingen zu Gott gehen, zum Willen und Wohlgefallen Gottes. Was den Oblaten charakterisiert, ist gerade dieser innere Willen, dass wir im Tiefsten unserer Seele uns selber treu bleiben.
Befolgen wir in diesem Sinn allezeit unsere hl. Regel. Wir halten diese Regel und schreiten dahin, wenn wir einfach und bescheiden unter dem Auge Gottes verharren. Nicht wie Soldaten marschieren wir dahin, denen man beim Exerzieren zuruft: „links, rechts…“ Sie marschieren wie Maschinen, tun sich Gewalt an, sind verdrossen, marschieren vielleicht gegen ihr eigenes Wollen. Sie können ja nicht anders, sie müssen. Wir hingegen gehen voran, weil wir es so wollen, wie Menschen und nicht wie Maschinen. Das ist unser Weg, meiner Freunde, ein Weg höchster Freiheit und Unabhängigkeit. Niemandem unterwerft ihr euch als Gott. Und das nicht aus Zwang und Notwendigkeit, sondern aus Liebe. So seid ihr ganz innerliche Menschen, seid naturnotwendig ganz übernatürliche Männer.

Soll das etwa heißen, ihr erwecktet den Anschein, ganz mystische Menschen zu sein? Ganz und gar nicht. Ihr macht äußerlich denselben Eindruck, den ihr innerlich macht: überzeugte und entschlossene Männer zu sein, die geradewegs auf ihr Ziel losgehen in allem, was von ihnen verlangt wird. Übt euren Willen auf diesem Gebiete in allen Lebensumständen. Das, meine Freunde, ist unsere Seinsform, das ist unsere Stärke und unser Leben.

Und nun lasst mich diese Wahrheit auf die großen Ferien anwenden, die bald beginnen. Ich behaupte zunächst etwas, was euch befremden wird: Die Zeit, in der wir uns am meisten heiligen können, sind die Ferien. Für unsere Seele sind sie die günstige Zeit, die am meisten von Gott gesegnet ist, das kann ich euch versichern. Dies konnte ich bei den Seminaristen feststellen, die ich in meiner Jugend kannte und die ich im Lauf meines Lebens bei vielen Gelegenheiten kennenlernte.

Aber bieten die Ferien nicht auch Schwierigkeiten? Doch! Zunächst sind sie eine Zeit von Versuchungen. Sind diese aber überwunden, bringen sie uns eine herrliche Krone ein.

Während der Ferien entspannen wir uns. Das verschafft uns mehr persönliche Freiheit, unser Wille hat mehr Anteil an den Entscheidungen über unser Tun und Lassen. Alles geschieht spontaner. Die Gebete, denen wir uns widmen, die Erholung, die wir uns gönnen, all das hängt weitgehend von unserer Eigeninitiative und unserem freien Willen ab. Seid darum in allem übernatürliche Männer und sucht in all dem den Willen und das Wohlgefallen Gottes.

Trachtet während der Fastenzeit noch inniger mit Gott vereint zu sein, als im übrigen Jahr, weil ihr da zu ihm spontaner, häufiger und freier gehen könnt. So machen euch die Ferien, statt euch zu zerstreuen, noch gesammelter. Die Versuchungen, die euch da bestürmen, werden euch nur noch stärker in die Arme Gottes werfen. Sie helfen euch, noch beharrlicher in der Gegenwart Gottes zu weilen, und vermitteln euch ein noch tieferes und intimeres Glücksgefühl, mit Gott zusammenzuarbeiten. All das wollt ihr also während der Ferien bedenken.

Glaubt meinen Worten, liebe Freunde. Ihr braucht diese Lehre, sie müsst ihr jeder anderen Lehre vorziehen. Dann seid ihr Oblaten und verfügt über eine solide Grundlage sowie das wahre Aktionsmittel.

Und noch etwas möchte ich euch recht empfehlen: Klugheit und Diskretion im Umgang mit Fremden, Verwandten und Freunden, auch mit geistlichen Personen. Sprecht wenig über euch selbst, das taugt nichts. Müsst ihr über die Kongregation etwas sagen, dann erzählt nicht die letzten Neuigkeiten. Gewiss kann man ein Wörtchen sagen, das der Erbauung dient, das ist gut. Seid aber immer auf der Hut und allezeit zurückhaltend, obwohl ihr euch immer einfach und ungezwungen geben sollt. Ihr müsst versichert sein, dass alles, was ihr über unsere Genossenschaft sagt, ausgelegt, besprochen, beurteilt und vor allem mehr oder weniger einsichtig aufgefasst und eingeschätzt wird.

Betet also, dass die Zeit der großen Ferien euren Seelen zum Nutzen gereiche, dass es eine Zeit der Gnade werde, die euch weiterhilft und zum rechten Weg ermuntere.

Die letzten Nachrichten von Pella sind weiterhin schlecht. Die Hungersnot wütet wie vorher. Überall sterben die Rinder in zunehmender Zahl. Woher kommt das? Wir können darin ohne Anmaßung ein wenig die Gerechtigkeit Gottes erkennen. Dieses Land wird nämlich von Freimaurern beherrscht. Fast alle führenden Männer und Fabrikbesitzer sind Logenbrüder. Beten wir für die armen Katholiken und unsere Missionare.

Beten wir auch für unsere Patres und Schwestern in Ecuador, wo die Lage immer schwieriger wird. Noch einmal lasst mich auf meinen Gedanken zurückkommen: es ist schön und tröstlich, nur nach dem Antrieb der eigenen Seele zu handeln, in völliger Freiheit und Ungezwungenheit, im Vollbesitz seines Willens und der eigenen Autorität, indem man nur Gott über sich anerkennt. Freilich sollte man dies in vollem Umfang und mit ganzer Liebe tun. Kämpfe werden immer sein, Gewitterstürme werden kommen, Windböen, die euch nach rechts und links schleudern. Sie werden euch ganz schwindelig, euch Übelkeit verursachen. Schreitet trotzdem voran, gerade aufs Ziel los. So ist das Leben. Gibt es Dornen auf eurem Lebensweg? … Solche aber finden sich überall… Alles in allem genommen ist unser Weg mit viel weniger Dornen gespickt als der der anderen. Begreift das und versteht auch, dass jeder aus seinen Ferien ein kleines Guthaben mitbringen sollte.

D.s.b.