Kapitel vom 24.06.1896: Über die Nächstenliebe in der Kongregation
Meine lieben Freunde, als ich gestern zu den Professoren sprach, die ihre ewigen Gelübde ablegten, führte ich aus, wir müssten von Gott eine große Gnade erbitten: die Liebe zur Genossenschaft. Dahin sollten wir gelangen, unseres hl. Stifters Wunsch zu verwirklichen: dass alle die gleiche Liebe haben und alle eines Sinnes leben. Ständig sollten wir also von Gott um die gegenseitige Liebe, um Liebe zur Kongregation und vor allem zu jedem Mitbruder bitten, welcher Nation und welchem Land auch immer er angehört. Die Gute Mutter sagte, die Oblaten würden sich über die Mutter sagte, die Oblaten würden sich über die ganze Welt ausbreiten. Es gibt also keine anderen Grenzen für die Ausbreitung ihres Einflusses und der Gnade, die sie unter die Völker tragen sollen, als die Grenzen der Erde selbst. Das Band der Liebe, das uns verbinden soll, muss somit sehr stark und allumfassend sein. Es muss wirklich das einzige Band sein, das ja das Band der Vollkommenheit ist, stark wie der Tod und dauerhafter als alles, was man erdenken kann. Es muss unantastbar sein, muss alles beherrschen und überwinden. Machen wir uns diesen Geist zu Eigen und bringen wir jedem unserer Patres eine große Anhänglichkeit entgegen.
Jene aber, die aus einem anderen Land zu uns stoßen und uns volksmäßig fremd sind, müssen wir noch mehr lieben. Das ist durchaus christlich. Sie haben Anspruch auf größere Liebe, weil sie ein großes Opfer bringen, zu uns zu kommen und sich nach unseren Gewohnheiten und Verhaltensweisen zu richten. Wenn wir nicht sehr achtgeben, kommen wir leicht zur Überzeugung, unsere Gewohnheiten und Ideen seien die besten der Welt. Diese Einstellung ist jedem angeboren. Es bedarf einiger Überlegung und auch der Tugend, um die Dinge ins rechte Lot zu bringen. Die Engländer haben Bräuche und zeigen ein Verhalten, die uns etwas eigen und originell dünken. Angenommen, ihr erweckt den Anschein, euch darüber lustig zu machen, eine boshafte Bemerkung darüber zu machen ohne einen Hintergedanken und tatsächliche Bosheit. Das schreibt ihr nun in einem Brief an die „Annales“, die diesen Ausdruck inmitten eines im Übrigen sehr positiven Artikels über England veröffentlichen. Dabei liebt ihr dieses Land aus ganzem Herzen. Die Engländer nun lesen diesen Artikel in den „Annales“ sehen nun die kleine Bosheit darin, ihr Blick vergrößert diese und sie fühlen sich tiefbeleidigt.
Man bittet uns Oblatinnen nach Italien zu schicken. P. Rollin schreibt mir und empfiehlt mir, nur solche Schwestern zu schicken, die gute Ordensfrauen und sehr bescheiden sind, und die nicht den Anschein erwecken, als wollten sie sich als den Menschen dieses Landes überlegen aufspielen.
Am Kap hat ein Scherz, den einer unserer Patres in einem Brief einfließen ließ, der in den „Annales“ veröffentlicht wurde, und den protestantischen Prediger von Warmbad betraf, fast eine Katastrophe ausgelöst. Er hatte sich über den Pastor etwas lustig gemacht, weil er die Schwarzen ohne Schuhe in etwas nachlässigem Kleid nicht in seinen Tempel zulassen will. Der Prediger bekam davon Wind und griff den Pater vor dem Häuptling der Hottentotten heftig an. Nach tausend Beleidigungen brachte er den Häuptling der Hottentotten dazu, den Grund und Boden, auf dem P. Simon eine Missionsstation bauen wollte, zu verweigern. Das dürfen wir also niemals tun. Hat man mit jemand zu tun, dessen Ideen nicht mit den unseren übereinstimmen und der vor allem aus einem anderen Land kommt, muss man sehr vorsichtig zu Werke gehen, deren Empfindlichkeit nicht zu verletzen. Der Pfarrer von Chantal St. Denis, ein sehr würdiger Priester, der uns ein bedeutendes Haus in der Schweiz vermachen wollte, hat sich sehr über mich geärgert, als ich im Spaß zu ihm sagte: „Wie kommt es nur, dass die Schweizer nur gekochten Käse herstellen und nicht auch Quark wie wir in Frankreich, den doch alle gern essen?“ – „Das ist typisch französisch“, ärgerte sich der Pfarrer rot, „die Franzosen fühlen sich in allem als Meister. In der Schweiz wird eben von je her der gekochte Käse hergestellt, und er übertrifft alle anderen Käsesorten.“ Ich hatte meine liebe Not, ihn zu beruhigen.
Lasst uns also recht achtgeben auf oft sehr berechtigte Empfindlichkeiten. Da haben wir Gelegenheit, die Liebe zu beweisen. Nichts entspricht mehr dem Geist des hl. Franz v. Sales und nichts gewinnt schneller die Herzen, als wenn wir die Ideen und Handlungsweisen der anderen annehmen und achten. Was uns im ersten Augenblick unverständlich dünkt, was uns abstößt oder gar lächerlich vorkommt, muss trotzdem seinen Daseinszweck erfüllen. Das sollten wir uns immer sagen. Die Verschiedenheit kommt eben von der Erziehung, dem Temperament und Charakter, vom Boden und Klima. Tun wir doch nicht, als hätten wir alle Wissenschaften, Fähigkeiten, Erfahrungen und Geschicklichkeiten in Erbpacht genommen. Das ist falsch und lächerlich.
Was ich da von euch verlange, ist lediglich eine Frage des Taktes und des gesunden Urteils. Nehmen wir also mit Sympathie jene auf, die uns fremd sind, und lieben wir sie. Wenn wir schon jene lieben, die aus unserem eigenen Land stammen, müssen wir Ausländer mit noch mehr Liebe umgeben. Ist man unter Nachbarn, so lässt man sich gehen, sagt das Sprichwort. Wir aber, meine Freunde, brauchen eine Liebe, die sich nicht gehen lässt, die sich im Umgang mit Ausländern etwas Zwang auferlegt.
Die Satzungen legen uns ans Herz, sorgfältig alle aufregenden Themen zu vermeiden über die verschiedenen Völker und Provinzen. Wir sollen noch weiter gehen und da eine Gelegenheit sehen, zarte und vollendete Akte der Liebe zu üben. Es gibt Orden, in denen man sicher gut versteht, doch zwischen den Patres der verschiedenen Provinzen kommt es zu mancherlei kleinen Streitigkeiten… Ich möchte nicht, dass das bei uns vorkommt. Jede Provinz, so wir einmal welche haben, sollte, das ist mein Wunsch, im Herzen des lieben Gottes, im Herzen des Generaloberen und im Herzen eines jeden Oblaten einen Platz haben. Ich wünsche, jede Provinz sei gut katholisch, apostolisch, römisch und salesianisch, und jeder fühle sich in jeder anderen Provinz und in jedem Haus des Institutes wohl.
In England findet der Geist der Oblaten viel Sympathie, man liebt die Oblaten. Im Deutschen Reich scheinen die Heimsuchungsklöster noch mehr auf die Oblaten zu geben als bei uns in Frankreich. Und warum das? Weil sie im Geist unserer Genossenschaft den Geist des hl. Stifters selbst finden. Sie stellen fest, dass es ein Geist der Liebe und Hingabe ist, und das nimmt sie für uns ein. Ich erhalte Briefe aus dem Deutschen Reich, die dies beweisen. Das katholische Deutsche Reich, mit dem wir auf verschiedenen Seiten Kontakt haben, ist uns ungemein sympathisch.
Wir sind Oblaten, das dürfen wir niemals aus dem Auge verlieren. Das ist unsere Grundlage, auf die wir alles bauen müssen. Wir werden unsere Werke vollbringen und die Seelen retten, nicht weil wir Deutsche, Franzosen, Engländer oder Italiener sind, sondern weil als Oblaten handeln. Was ein echter Oblate des hl. Franz v. Sales sagt, hat den gleichen Klang und die gleiche Wirkung in allen Sprachen, Ländern und inmitten aller Völker mit ihren verschiedenen Gebräuchen und Gewohnheiten.
Eines Tages war ich recht schockiert über das Urteil, das ein ausländischer Ordensmann aus einem großen Orden abgab. Er äußerte sich über ein Wort, das seiner Mitbrüder gesagt hatte: „Oh“, meinte er, in einem Ton der Verachtung, „das war ja auch ein Franzose, der das gesagt hat.“ So, meine Freunde, sollen wir nie sprechen, so wie auch wir nie Anlass geben sollen, dass man so über uns urteilt. Von uns sollte man mit Achtung und Ehrfurcht sagen müssen: „Es ist ein Oblate, der dies gesagt hat.“ Alle Oblaten sagen das Gleiche, weil sie ein Herz und eine Seele sind, ob Italiener, Engländer, Deutsche, Franzosen oder sonstiger Nationalität. Darauf beruht unsere ganze Stärke und Macht, unsere Macht über das Herz Gottes ebenso wie über die Seelen. Das fließt nicht aus natürlichen Quellen, man lernt es vielmehr durch die Erziehung, im Noviziat, im Leben der Gemeinschaft.
Die ganze Kommunität sei von diesem Geiste durchtränkt, weil die Frucht immer dem Baum gleicht, der sie hervorbringt. Von einem Seminaristen, so gut geleitet und ausgebildet wie er auch sein mag, verlangt man nicht dasselbe. Dem Weltklerus haftet immer und naturnotwendig eine leichte Tendenz zum persönlichen Denken an. Man kann von ihm nicht dieselbe Einheit der Geister und Herzen erwarten wie von einer Ordensgemeinde. Und dann, es lässt sich einfach auf natürlichem Wege nicht verwirklichen. Der Bischof von Troyes sagte mir immer wieder: „P. Brisson, Sie leben im Übernatürlichen!“
Aber gewiss, denn aus uns haben und können wir nichts. Wir müssen uns folglich auf etwas auf etwas außer uns Liegendes stützen, und dieses „außerhalb der Natur Liegende“ ist eben die Übernatur. Hier liegt unsere Kraft und unsere Stütze. Betrachtet das Evangelium: bietet es nicht auf Schritt und Tritt Übernatürliches? Nicht die physikalische oder materielle Kraft bringt große Wirkungen hervor, sondern das Übernatürliche.
Wir wollen also einander und die Kongregation von Herzen lieben. Ich fordere euch heraus, bloß zu versuchen, auf einem anderen Weg als auf diesem übernatürlichen dahin zu gelangen… Die übernatürlichen Mittel sind von absoluter Notwendigkeit. Bitten wir Gott also um diese Gnade. Rufen wir den Hl. Geist an. Möge die Kongregation aus lauter Mitgliedern von hervorragender Tugend bestehen! Mögen ihre Werke tadellos organisiert sein, möge sie selbst das Wunderbarste, Hervorragendste und im Funktionieren Erstaunlichste sein, was einem auf Erden begegnen kann…
Nun, glaubt mir, selbst das wird nicht alle Herzen ohne Ausnahme begeistern und für uns einnehmen können. Es wird zwangsläufig unter ihren Mitgliedern solche geben, denen widersprochen und entgegengearbeitet wird…
Selbst die Vollkommenheit eines jeden einzelnen Mitglieds der Kongregation kann übernatürlicherweise nicht diese Einheit der Herzen und diese wahre Liebe schaffen. Die Natur allein genügt nicht, es muss die Übernatur dazukommen.
Bittet in euren Gebeten und Kommunionen Gott um diese Gnade. Bittet mit Glauben und Eifer. An dem Tag, wo ihr in eurem Herzen diese Liebe tragen werdet, meine Freunde, werdet ihr den Himmel in eurer Tasche haben und in eurem Notizbuch die Eintrittskarte ins Himmelreich. Jawohl, das habt ihr totsicher. Warum? Weil es euch etwas gekostet hat, weil man, um gegen diese Gnade treu zu sein, Opfer, schwere, ununterbrochene Opfer bringen musste: Ich rate dir, von mir feuriges und geläutertes Gold zu kaufen, damit du reich wirst. Welches ist aber dieses Gold, das der Herr uns auffordert, von ihm zu kaufen, das reine Gold, das im Feuer geläutert ist? Es ist die Liebe, die gekämpft und gelitten hat, die Liebe zum Nächsten: Man erlebt Widersprüche, Zusammenstöße, man glaubt zu ersticken, fühlt sich verletzt. Da kehrt man zum Übernatürlichen zurück, betet, gibt sich hin mit der ganzen Liebe seines Herzens. Das ist das im Feuer geläuterte Gold, das bereichert. Daran sollt ihr euch mit ganzem Herzen machen, dann werdet ihr etwas zustande bringen.
In der Mission am Kap, in Springbock, hat es am Pfingstsonntag etwas geregnet. Die peinliche Lage unserer Mission weckt die öffentliche Hilfsbereitschaft. In Paris haben die Oblatinnen im Pensionat eine Kollekte für sie durchgeführt, die 1000 Franken eingebracht hat.
D.s.b.
